Internationale Wirtschaftsverflechtungen: Neue europäische Handelsagenda

Die Handelsbeziehungen waren von Profit getrieben. Die Globalisierung muss fairer und nachhaltiger werden.

Illustration - zwei Männer wippen auf einer Erdkugel

Der bisherige Glaubenssatz der Globalisierung erweist sich als blind und bequem Illustration: Katja Gendikova

Es herrscht Krieg in Europa. Die Coronapandemie ist nicht vorbei, die Klimakrise spitzt sich zu. Auch die Welt des internationalen Handels ist ins Stocken geraten, was die deutsche Wirtschaft zu spüren bekommt. Die Auswirkungen von gerissenen Lieferketten machen sich bemerkbar. Hohe Energie- und Lebensmittelpreise sind eine Last. Und wie sich Erderhitzung und Krieg verbinden, sehen wir gerade in Indien.

Die indische Regierung, die die Versorgungslücke schließen wollte, die der russische Angriffskrieg auf die Ukraine gerissen hat, verbietet die Ausfuhr von Weizen, weil eine extreme Hitzewelle die Ernteerträge des Landes bedroht. Die verschiedenen Krisen türmen sich auf ungute Weise aufeinander, teilweise verschränken sie sich. Wir leben in Erwartung weiterer Disruptionen und sehnen uns umso mehr nach der Normalität zurück.

Doch eine Rückkehr zu dem, was uns als solche galt, wird es nicht geben. Wir sind gefordert, uns politisch zu überlegen, welche Normalität wir schaffen wollen. Es war keine intakte, sichere Welt, in die Pandemie und Krieg einbrachen. Wir haben uns nur eingeredet, dass wir in einer Zeit leben, in der alle Probleme gelöst sind. Und dass wir die, die kommen, mit Technik und Geld, über Märkte und Warenströme lösen können. Dass Politik da nur stört.

Das war der Glaubenssatz der Globalisierung der letzten Jahrzehnte. Er erweist sich nun, da Pandemie und Krieg die Probleme ins grelle Scheinwerferlicht gestellt haben, als blind und bequem. Wir sind verletzbar und abhängig. Unsere politische Handlungsfreiheit ist eingeschränkt. Weil uns strukturelle Fehler der Vergangenheit zu abhängig von Gasimporten aus Russland gemacht haben, können wir noch kein vollständiges Gas­embargo umsetzen.

Es war nicht alles gut vor dem Krieg

Beim Export sind wir stark auf einzelne Absatzmärkte angewiesen. Und die Just-in-time-Produktion, die die Lagerungskosten zu vermeiden sucht, funktioniert nicht, wenn es in der Logistik hakt. Der Grund für Verletzlichkeit und Abhängigkeit ist strukturell. Wie bei den meisten großen Problemen hat dies einen mindestens nachvollziehbaren Grund – Kostensenkung. Die Expansion des Außenhandels der letzten Jahrzehnte war stark preisgetrieben.

Es galt die von der Politik durch zahlreiche Deregulierungen unterstützte Devise: Je billiger, desto besser. Davon hat Deutschland als Exportland profitiert. Vergessen hat man bei dieser preis- und wachstumsorientierten Hyperglobalisierung aber die Versorgungssicherheit und das altehrwürdige kaufmännische Prinzip der Diversifizierung, der Risikovorsorge und Vorsicht.

Vielmehr hat man gehofft, eine ökonomische Verflechtung mit autoritären Regimen wie Russland oder China werde dort einen Wandel zu mehr Demokratie, mehr Bürgerrechten, mehr Freiheit auslösen. Spätestens seit der russischen Invasion in die Ukraine wissen wir: Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Auch die Entwicklung Chinas zeigt, dass allein mehr Handel nicht zwangsläufig zu mehr Demokratie führt. So weit die deutsche Perspektive.

Vielerorts entstand neuer Wohlstand

Aber das Prinzip der Kostensenkung hat in anderen Regionen der Welt weitaus größere Schäden angerichtet. Abholzung von Wäldern, Ausbeutung von seltenen Rohstoffen, unsägliche Arbeitsbedingungen, Finanzkrisen und soziale Ungleichheit sind Kosten, mit denen unser Wachstum von anderen bezahlt wurde. Man kann dabei nicht verschweigen, dass andernorts auch neuer Wohlstand entstanden ist. Weniger Menschen als früher leben in Armut und Hunger, mehr Menschen haben Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung. Auch mehr Mädchen.

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Einige der früher so genannten Entwicklungsländer sind zu ökonomischen Großmächten geworden, haben eine eigene Mittelschicht. Sie definieren ihre geopolitischen Interessen. Und hinterfragen, warum sie ihre Märkte nicht vor einer Politik schützen sollen, die sie eher benachteiligt. Diese einander bedingenden Entwicklungen – die nationale wie die globale – zeigen, dass die Globalisierung, wie wir sie kannten, an ihr Ende gekommen ist.

Aber es wäre falsch, jetzt der De-Globalisierung das Wort zu reden. Das hieße Brexit, Donald Trump und Rückzug, Abschottung, Nationalismen und Zollkriege. Der Traum von Autarkie wäre ein Albtraum. Autarkie wäre für Deutschland auch gar nicht erreichbar. Gerade bei der sozialökologischen Transformation werden wir weiterhin auf internationalen Handel und Arbeitsteilung angewiesen sein.

Die politische Aufgabe besteht darin, an der Idee einer gemeinsam geteilten Welt festzuhalten, aber ihre wirtschaftlichen Beziehungen gleichberechtigter zu organisieren. Wir müssen die Globalisierung besser, fairer und nachhaltiger machen. Dazu brauchen wir eine neue europäische Handelsagenda.

Autarkie ist Illusion

Es gilt, die politischen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich der deutsche und europäische Außenhandel breiter aufstellen kann: raus aus der Abhängigkeit von einem Land und hin zu mehr und besserer Zusammenarbeit mit anderen Ländern. Folgende Punkte sollten die Handelsagenda leiten:

1. Der strukturell beste Rahmen für Handelspolitik ist ein multilateraler nach gemeinsamen Welthandelsregeln. Diese werden durch die Welthandelsorganisation WTO gesetzt, und der größte Teil des deutschen Außenhandels findet im Rahmen der WTO-Regeln statt. Aber die WTO-Regeln müssen reformiert werden. Ob das gelingt, steht jedoch in den Sternen – China und andere verweigern sich jeder Reform. Dennoch gilt: Wir Multilateralisten wollen weiter an der Reform arbeiten.

2. Ob und wann eine WTO-Reform gelingt, ist nicht absehbar. Deshalb sind faire bilaterale Handelsabkommen nötig. Das gilt umso mehr, als wir in der neuen geopolitischen Lage gehalten sind, Bündnisse einzugehen. Wir brauchen Abkommen, um unsere Handelsbeziehungen auf mehrere Schultern zu stellen und unsere Nachhaltigkeitsstrategien effektiv zu verfolgen. Absatzmärkte müssen sich diversifizieren, Importe – Energie, Wasserstoff – ebenso.

Mit US-Präsident Joe Biden etwa gibt es die Chance auf eine neue transatlantische Partnerschaft für faire Handelsbeziehungen und Klimaschutz. Die Zeit drängt: Wir stehen in Europa in systemischer Konkurrenz zu China, und China schafft Fakten. Mit dem multilateralen Freihandelsabkommen RCEP wurde Anfang des Jahres die größte Freihandelszone der Welt gegründet – aber ohne dass Klimaschutz, Sozialstandards oder Menschenrechte eine Rolle spielen.

WTO-Regeln reformieren

3. Grundlage für ein Modell von fairen Partnerschaften, ist, dass internationale Verträge und Abkommen, etwa das Pariser Klimaschutzabkommen, das Übereinkommen zur biologischen Vielfalt oder die Kernprinzipien der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in den Abkommen gewahrt und effektiv durchgesetzt werden müssen.

Nachhaltigkeitsstandards dürfen nicht als Standards zweiter Klasse gelten – sie sind die Essenz von fairem Handel. Wir wollen ein level playing field. Produkte dürfen nicht preiswerter und damit wettbewerbsfähiger sein, weil sie auf Kinderarbeit beruhen oder weil Regeln zum Klimaschutz missachtet werden. Oder Diktatoren korrupte Taschen füllen.

4. Wir werden die Europäische Kommission dabei unterstützen, die Vereinbarungen in den Nachhaltigkeitskapiteln und ihre Durchsetzbarkeit zu stärken. Wenn Nachhaltigkeitsstandards nicht eingehalten werden, muss das genauso Konsequenzen haben wie Verstöße gegen den Rest von Handelsabkommen. Dafür sollen in den Abkommen neben Anreizen auch Schlichtungsmechanismen genutzt werden sowie die Möglichkeit, Handelsvorteile auszusetzen.

5. Außerdem braucht es mehr Transparenz und bei der Umsetzung der Freihandelsabkommen eine bessere Einbindung zivilgesellschaftlicher Gruppen und des Europaparlaments. Ausschüsse, die Handelsverträge weiterentwickeln können, müssen demokratisch legitimiert sein.

6. Investitionsschutzabkommen wurden immer wieder genutzt, um sinnvolle staatliche Regulierung auszuhebeln, was besonders Länder des globalen Südens unter Druck gesetzt hat. Aus Klimaschutzperspektive ist auch der Energiecharta-Vertrag, der Investitionen in Energieprojekte absichert, einer der schädlichsten. Das In­ves­ti­tionsschutzsystem muss grundlegend reformiert werden.

In allen Investitionsschutz­abkommen sollte das Recht auf gemeinwohlorientierte Regulierung verstärkt und der Schutz für Investitio­nen in fossile Energieträger abgeschafft werden. Investitionsschutzabkommen müssen sich auf den Schutz vor direkter Enteignung und Diskriminierung konzentrieren, um so die missbräuchliche Anwendung des Instruments zu verhindern.

Keine Scheu vor unilateralen Maßnahmen

Wenn Klimaschutz, CO2-Bepreisung oder Kohleausstieg aufgrund von Investitionsschutzverträgen nicht mehr möglich sind, dann hat die Demokratie verloren. Diese Punkte sollten also angegangen werden. Im Übrigen sind die beschriebenen Probleme bei den Investitionsschutzklauseln auch das Kernproblem beim europäisch-kanadischen Freihandelsabkommen Ceta, das bislang nur 15 der 27 EU-Staaten ratifiziert haben.

7. Unilaterale Maßnahmen müssen wir auf EU- und nationaler Ebene verstärkt in den Blick nehmen, damit wir uns bei Bedarf gegen unfaire Handelspraktiken oder die Umgehung von Nachhaltigkeitsstandards wehren können. Ein wichtiger Schritt für faire Handelsbeziehungen ist ein wirksames europäisches Lieferkettengesetz, basierend auf den UN-Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte, das kleine und mittlere Unternehmen nicht überfordert. Von ähnlicher Bedeutung ist das geplante EU-Importverbot für Produkte, die aus Zwangsarbeit entstanden sind.

8. Nationale Förderinstrumente wie die Hermesbürgschaften müssen neu ausgerichtet werden, sodass sie den Nachhaltigkeitszielen dienen und für die Diversifizierung von Handelsbeziehungen stärker nutzbar sind.

Wenn wir es richtig anstellen, kann Handel zum Motor für Resilienz und Nachhaltigkeit werden. Resilient zu sein heißt, in seinem Handeln frei zu sein und schwierige Situationen besser meistern zu können, weil man sich vorbereitet hat.

Das müssen wir erreichen – um ein ökonomisches Gegengewicht gegen autoritäre Regime zu schaffen und liberale Demokratien zu stärken, um klare Regeln für den Handel mit Staaten zu haben, die unsere demokratischen Werte nicht teilen, um Wohlstand und gute Arbeit in Deutschland und Europa zu erhalten. Und nicht zuletzt: um die Auswirkungen der Erderhitzung auch durch einen nachhaltigeren Außenhandel zu bekämpfen.

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