Nach Lindner-Besuch in Thüringen: Kemmerich tritt wieder ab
Thüringens Ministerpräsident Kemmerich will sein Amt abgeben und eine Neuwahl ermöglichen. FDP-Chef Christian Lindner stellt die Vertrauensfrage.
„Gestern hat die AfD mit einem perfiden Trick versucht, die Demokratie zu beschädigen“, sagte er auf einer Pressekonferenz. „Demokraten brauchen demokratische Mehrheiten. Die sich offensichtlich in diesem Parlament nicht herstellen lassen.“ FDP-Chef Christian Lindner war zu Krisengesprächen in Erfurt. Kemmerich sagte auf die Frage, ob er zu dem Schritt gezwungen worden sei: „Gezwungen hat uns niemand.“
Thomas Kemmerich habe die einzig richtige politische Entscheidung getroffen, sagte FDP-Chef Christian Lindner wenig später auf einer eigenen Pressekonferenz. „Eine Zusammenarbeit mit der AfD darf es für eine demokratische Partei in Deutschland nicht geben“, so Lindner. Baldige Neuwahlen in Thüringen beschrieb er als richtigen Schritt für eine Gesellschaft, die sich wieder „versöhnen“ solle. Eine Politik der Mitte sei zwingend gekoppelt an eine Brandmauer gegen ganz rechts, so Lindner.
Christian Lindner will nach den Vorgängen bei der Wahl des Thüringer Ministerpräsidenten die Vertrauensfrage in der Parteiführung stellen. Dazu solle an diesem Freitag der Bundesvorstand zu einer Sondersitzung zusammenkommen, kündigte Lindner an. „Wir als freie Demokraten haben die Situation geklärt“, sagte der Parteichef und forderte „das jetzt auch von der Union und Annegret Kramp-Karrenbauer“.
Angela Merkel: „Unverzeihlicher“ Vorgang
Kemmerich war am Vortag im Thüringer Landtag überraschend mit den Stimmen von AfD, Union und FDP zum Regierungschef gewählt worden. Der Kandidat der FDP, die im Herbst nur knapp den Sprung in den Landtag geschafft hatte, setzte sich gegen den bisherigen Regierungschef Bodo Ramelow von den Linken durch. Es war das erste Mal, dass die AfD einem Ministerpräsident ins Amt half.
Der bei der Wahl gescheiterte Ramelow stand unterdessen weiter als Kandidat zur Verfügung. Das sagte der Vize-Chef der Thüringer Linken, Steffen Dittes, am Donnerstag.
Zunächst zog nur die FDP unmittelbare Konsequenzen aus der heftig kritisierten Wahl. Kanzlerin Angela Merkel hatte das Votum während einer Südafrika-Reise am Donnerstag als „unverzeihlich“ bezeichnet und eine Korrektur gefordert. Merkel betonte in Pretoria: „Es war ein schlechter Tag für die Demokratie. Es war ein Tag, der mit den Werten und Überzeugungen der CDU gebrochen hat.“ Es müsse jetzt alles getan werden, damit deutlich werde, dass dies in keiner Weise mit dem in Übereinstimmung gebracht werden könne, was die CDU denke und tue.
Söder spricht von „Missgeschick von Thüringen“
CSU-Chef Markus Söder legte ebenfalls noch einmal nach. „Es braucht eine rasche, eine schnelle und eine konsequente Korrektur dieses Missgeschicks von Thüringen und danach eine Festlegung, wie dauerhaft damit umzugehen ist. Denn so etwas darf sich nicht mehr wiederholen“, sagte der bayerische Regierungschef am Donnerstag am Rande einer Landtagssitzung in München.
Merkel wollte sich nicht zu der Frage äußern, ob die Vorgänge in Thüringen auch dazu führen könnten, dass die große Koalition in Berlin scheitert. Sie habe bereits Kontakt zu Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) und den SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans gehabt. Es sei wichtig, die Dinge am Samstag im Koalitionsausschuss zu besprechen, sagte sie.
Kemmerich hatte noch im ARD-„Morgenmagazin“ betont, er sei gewählt und eine Neuwahl würde nur zu einer Stärkung der Ränder führen. „Die Arbeit beginnt jetzt“, sagte er. Der Chef der Fünf-Prozent-Partei hatte mit CDU, SPD und Grünen eine Minderheitsregierung bilden wollen. SPD und Grüne hatten einer Zusammenarbeit aber bereits eine Absage erteilt. Ein Bündnis aus FDP, CDU, SPD und Grünen wäre auf eine Unterstützung von Linkspartei oder AfD angewiesen gewesen.
„Permanent in Kontakt mit Lindner“
Kemmerich hatte zudem deutlich gemacht, er habe die Lage vorher mit dem FDP-Chef beraten. „Ich war mit Christian Lindner permanent im Kontakt. Wir haben auch besprochen, was wir hier in Thüringen beschlossen haben“, sagte Kemmerich. „Er hat gesagt, die Entscheidung trifft letztlich der Thüringer Verband.“
SPD-Chefin Saskia Esken forderte die Ablösung des Ostbeauftragten der Bundesregierung, Christian Hirte (CDU). Dem ARD-Hauptstadtstudio sagte sie am Donnerstag auf eine entsprechende Nachfrage: „Das ist notwendig, er kann nicht mehr für uns sprechen.“ Ähnlich hatte sich Esken zuvor bereits bei Twitter geäußert: „Der Ostbeauftragte der Bundesregierung bezeichnet die Wahlgemeinschaft aus CDU, FDP und AfD in #Thüringen als „Mitte“. In unserem „Auftrag“ spricht er damit nicht mehr.“
Hintergrund ist ein Tweet des aus Thüringen stammenden Hirte. Er hatte Kemmerich gratuliert und geschrieben: „Deine Wahl als Kandidat der Mitte zeigt noch einmal, dass die Thüringer Rot-Rot-Grün abgewählt haben. Viel Erfolg für diese schwierige Aufgabe zum Wohle des Freistaats.“
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) erklärte, er sei erleichtert über die angekündigte Auflösung des Landtags in Thüringen. Es dürfe nicht zugelassen werden, dass Kräfte vom rechten Rand einen entscheidenden Einfluss auf die Politik ausübten.
Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt, erklärte per Twitter: „Endlich“. Alice Weidel, AfD-Fraktionschefin im Bundestag, erklärte per Twitter: „Das politische Berlin steht Kopf, weil ein Ministerpräsident der SED-Nachfolgepartei nicht gewählt wurde. Nun wird der FDP-Ministerpräsident zur Aufgabe gezwungen. Merkel & alle Parteien offenbaren ein erschreckendes Demokratieverständnis – nämlich gar keines!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen