Militärexperte über Aufrüstung in China: „Traum von einem starken Militär“
Der chinesische Militärexperte Zhao Tong erklärt, warum die Volksrepublik China eine militärische Überlegenheit gegenüber den USA in Ostasien erzielen will.
taz: Herr Zhao, der Westen bemüht sich, Chinas militärische Aufrüstung zu begreifen. Was ist Pekings übergeordnete Strategie?
Zhao Tong: Das erste Ziel Chinas besteht darin, seine – laut Eigenwahrnehmung – nationalen Interessen verteidigen zu können. Dazu gehören die nationale Vereinigung mit Taiwan sowie die Sicherung von Territorialansprüchen inklusive der Landgrenzen zu Indien und der maritimen Ansprüche im Südchinesischen Meer. Daneben hat China auch ein neues Bedürfnis, nämlich seine wachsenden Auslandsinteressen schützen zu können: etwa wirtschaftliche Investitionen oder die wachsende Anzahl an Staatsbürgern, die im Ausland Geschäfte machen oder studieren.
Haben sich Chinas militärische Ambitionen verändert, seit Xi Jinping an der Macht ist und das Land zu neuer Größe führen möchte?
In Bezug auf die erwähnte erste Kategorie ist die Denkweise mehr oder weniger gleich geblieben. China sieht die größte Herausforderung seiner Sicherheitsinteressen durch andere Großmächte, die sich einmischen könnten. Geändert hat sich das Tempo der militärischen Modernisierung. In den letzten Jahren konnte China wegen des schnellen Wirtschaftswachstums mehr ins Militär investieren. Nachdem Xi Jinping an die Macht gekommen war, rief er dazu auf, den „Traum von einem starken Militär“ zu verwirklichen.
Chinas Militärausgaben steigen jährlich um rund 7 Prozent, liegen aber weltweit an zweiter Stelle – deutlich hinter den USA. Kritiker sagen jedoch, die offiziellen Zahlen spiegeln Chinas militärische Macht nicht adäquat wider.
wurde in der zentralchinesischen Provinz Henan geboren. Sein Masterstudium der internationalen Beziehungen absolvierte er an der renommierten Tsinghua-Universität, ehe er für seinen Doktor ans Georgia Institute of Technology ging. Derzeit forscht der Militärexperte am „Carnegie-Tsinghua Center for Global Policy“ in Peking zu Abrüstung und Atomwaffenpolitik.
Als chinesischer Analyst bin ich nicht in der Lage, Chinas offiziell erklärte Militärhaushalte kritisch zu bewerten. Aber ich stimme Ihrer Beschreibung zu, dass ausländische Analysten unterschiedliche Ansichten darüber haben, wie glaubwürdig Chinas offizieller Haushalt tatsächlich das Niveau der Militärinvestitionen widerspiegelt. Sie weisen darauf hin, dass es schwer zu sagen ist, was genau im Verteidigungshaushalt enthalten ist, etwa bestimmte Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Und natürlich muss man auch die Kaufkraft eines Landes berücksichtigen. Das würde die Höhe des chinesischen Budgets im Verhältnis zu den Ausgaben anderer Länder erheblich verändern.
Beschleunigt der Westen – insbesondere die USA – mit seiner aggressiveren Chinapolitik die Militarisierung Pekings?
Nimmt China eine größere Bedrohung durch die USA wahr, wächst die Dringlichkeit Pekings, weitere militärische Macht aufzubauen, um dieser wahrgenommenen Bedrohung entgegenzuwirken. So hatte China bislang eine eher zurückhaltende Nuklearstrategie beibehalten. Das Nukleararsenal war jahrzehntelang viel kleiner als das der USA, weil Chinas allgemeine Sicherheitsbeziehung zu den USA während dieser Zeit zwar nicht gut, aber relativ stabil war. China sah keine unmittelbare nukleare Bedrohung durch die USA.
Jetzt baut China sein Nukleararsenal schneller auf denn je.
Xi Jinping selbst hat dem Militär befohlen, die Entwicklung strategischer Abschreckungsfähigkeiten zu beschleunigen. Das ist ein deutliches Signal der obersten Ebene. Dahinter stehen mehrere treibende Kräfte: Ursprünglich war Chinas Ziel immer, eine überlebensfähige und sichere Zweitschlagfähigkeit aufzubauen, damit die USA nicht in Betracht ziehen würden, China zuerst mit Atomwaffen anzugreifen. Es braucht also nur ausreichend Atomwaffen, um einen amerikanischen Erstschlag zu überleben und dann Vergeltung gegen das US-Festland zu starten.
Jetzt argumentieren viele chinesische Strategen jedoch, China müsse seine Nuklearmacht ausbauen, weil die USA eine viel stärkere Feindseligkeit gegenüber China zeigen. Analytisch betrachtet, ergibt das keinen Sinn. Denn egal wie feindselig Ihr Gegner ist: Solange Sie über eine sichere Zweitschlagfähigkeit verfügen, können Sie ihn davon abhalten, zuerst Atomwaffen einzusetzen.
Inwieweit sollte das die USA beunruhigen?
Die USA machen sich nicht unbedingt Sorgen, China werde Atomwaffen in einem militärischen Konflikt zuerst einsetzen. Aber sie sorgen sich aus Ungewissheit, warum Chinas Militär seine Nuklearstreitkräfte aufbaut: Einige Kritiker argumentieren, China könnte in Zukunft seine traditionell bescheidene Nuklearhaltung ändern und sein Arsenal zunehmend als Mittel von Druckausübung statt Abschreckung einsetzen.
Die USA haben immer noch etwa 12-mal so viele Atomsprengköpfe wie China. In anderen Bereichen hingegen wie bei den Seestreitkräften holt China rasant auf.
Schaut man sich die Zahl der Marineschiffe an, hat China bereits eine größere Zahl als die USA. Aber qualitativ besitzen die USA noch immer die deutlich fortschrittlicheren Marinetechnologien. China holt aber sehr, sehr schnell auf. Und die künftigen Entwicklungen sind aus US-Sicht wirklich besorgniserregend. Der US-Militärhaushalt dürfte auf absehbare Zeit stagnieren, nicht zuletzt gebremst durch die vielen checks and balances. China hingegen ist bereit, mehr ins Militär zu investieren, auch weil Chinas Öffentlichkeit die Rüstungsindustrie als Kerninteresse der Nation wahrnimmt. Der Rüstungssektor ist vor öffentlicher Kontrolle weitgehend sicher.
China investiert massiv in künstliche Intelligenz und Big Data. Welche Rolle spielen Zukunftstechnologien beim Wettrüsten?
Es ist schwer vorherzusagen, da beide Militärs ihre spezifischen KI-Programme sehr geheim halten. Auch lässt sich nicht leicht vorhersagen, welches Regierungssystem künstliche Intelligenz effizienter für die militärische Modernisierung nutzen kann.
Wie meinen Sie das?
Chinas System ist eher zentralisiert und von oben herab. Zudem gibt es weniger Sorge um Privatsphäre oder rechtliche Einschränkungen. Und natürlich hat China auch die sogenannte zivil-militärische Fusionsstrategie implementiert, die es der Regierung ermöglicht, zivile Technologien für Verteidigungszwecke zu nutzen. In den USA herrscht ein anderes System vor: Programmierer müssen sich wirklich sorgen, ob sie gegen das Gesetz verstoßen oder in die Privatsphäre der Bevölkerung eindringen. In anderen Bereichen hingegen sind sie jedoch weniger eingeschränkt: Sie müssen sich keine Sorgen machen, die roten Linien der Regierung zu überschreiten, und können offener sein.
Chinas Militär hingegen muss Zeit für Parteiversammlungen aufbringen, jede wichtige Rede der Führer studieren und alle möglichen Arbeiten für die Umsetzung der Parteipolitik erledigen. Nicht zuletzt haben US-Privatunternehmen manchmal stärkere Anreize, mit dem Militär zusammenzuarbeiten – ohne fürchten zu müssen, dass die Regierung ihnen willkürlich und entschädigungslos Patente wegnimmt.
Ist es nur eine Frage der Zeit, bis Chinas Militär das der USA als Nummer eins überholt?
Ich kann mein Verständnis darüber darlegen, wie Chinesen denken: Letztlich entscheidet die wirtschaftliche Macht über die militärische. Kann Chinas Wirtschaft also künftig die US-Wirtschaft überholen, wird Chinas Militär früher oder später ebenfalls dominieren. Nach Einschätzung westlicher Wissenschaftler wird Chinas Wirtschaft schon 2028 an den USA vorbeiziehen. Das stimmt die Regierung zuversichtlich, dass sie die Zeit auf ihrer Seite hat. Deshalb setzt sie auch so stark auf wirtschaftliche Entwicklung: Die bestimmt alles andere.
Insbesonders Europas Linke argumentiert, China habe nur einen einzigen Militärstützpunkt im Ausland und dürfe daher nicht als Bedrohung dämonisiert werden. Ist das naiv?
Kein Land entwickelt militärische Macht mit dem ausdrücklichen Ziel, andere Länder zu erobern. Alle Staaten, auch China, wollen nur ihre vermeintlichen nationalen Interessen verteidigen. Die Frage ist aber: Ist es wirklich legitim, diese Interessen mit militärischen Mitteln zu verteidigen? Etwa wenn ein Land einen Territorialstreit hat: Ist es dann okay, wenn es einfach seine militärische Macht nutzt? Oder sollte nicht das Völkerrecht eine Rolle spielen?
Peking sieht eine mögliche US-Militärintervention als größte Bedrohung. Deshalb glaubt die Regierung, eine Militärmacht aufbauen zu müssen, die im Vergleich mit Washington und all seinen Verbündeten in der Region stark genug ist. Das Ziel ist zwar Selbstverteidigung, doch kann Chinas Ansatz von anderen als ehrgeizig angesehen werden, da Peking eine militärische Überlegenheit in der Region aufbauen muss, um dieses defensive Ziel zu erreichen.
Und was passiert, wenn China dieses Ziel erreicht hat?
Dann wird Chinas militärische Überlegenheit die USA und ihre Verbündeten de facto davon abhalten, einzugreifen, wenn China seine nationalen Interessen durchsetzt. Beispiel Taiwan: Die nationale Vereinigung mit Taiwan ist ein wichtiges Ziel der aktuellen politischen Führung. Ich glaube aber nicht, dass man einen verfrühten Konflikt anzetteln möchte. Solange Zweifel bestehen, ob die USA intervenieren können, ist Chinas Militär noch nicht stark genug. Hat China jedoch eine offensichtliche militärische Überlegenheit erlangt, werden die USA wissen, dass sie diesen Konflikt nicht gewinnen können. Dann kann China sein Ziel erreichen, ohne einen Schuss abzufeuern.
Die jüngsten Entwicklungen haben Chinas Denken bestätigt: Da es bereits eine gewisse militärische Macht gesichert hat, brauchte es sich auch keine Sorgen vor einem gewaltsamen Eingriff aus dem Ausland zu machen, als es Maßnahmen zur Bewältigung der Situation in Hongkong ergriff.
Ist ein militärischer Konflikt zwischen den USA und China ein realistisches Szenario?
Ich glaube nicht, dass China einen Konflikt provozieren will. Die Priorität der Staatsführung ist klar: Es braucht Zeit, um eine umfassende nationale Macht aufzubauen. Ist Chinas Macht stark genug, kann es seine vermeintlichen Interessen verteidigen, ohne weiter kämpfen zu müssen.
Können Verhandlungen das Wettrüsten zwischen beiden Mächten eindämmen?
Ich bin da sehr pessimistisch. Beide können sich nicht einmal mehr in grundlegenden Sachfragen einigen wie zum Beispiel bei Xinjiang. Der Westen glaubt, dass sich dort eine schreckliche humanitäre Krise ereignet. In China hingegen glauben die meisten Experten, dass diese Krise von westlichen Medien erfunden wird und dass die Regierungsmaßnahmen in der Region gegen keine rechtlichen oder moralischen Standards verstoßen. Stattdessen glauben sie, der Westen dämonisiere China absichtlich – etwa in Bezug auf Hongkong, Xinjiang oder Taiwan – und zwar nicht, weil man sich um Demokratie oder Menschenrechte schere, sondern aus Sorge, China könnte den Westen als dominierende Macht ablösen.
Welchen Weg wird China gegenüber dem Westen wählen?
China hält es für nutzlos, den Westen im Dialog zu überzeugen zu versuchen. Vielmehr glaubt die Staatsführung, sie könne die Meinung der westlichen Länder nur dadurch ändern, indem sie eigene Macht aufbaut. Macht ist das Einzige, was der Westen respektiert. Dies heißt auch, dass es keinen innerchinesischen Konsens über Abrüstungskontrollen gibt, die Chinas militärische Entwicklung beschränken würden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren