Meinungsfreiheit in Deutschland: Neuer Radikalenerlass befürchtet
Der Berliner Senat will eine umstrittene „Antisemitismusklausel“ einführen. Verfassungsrechtler fürchten einen Dammbruch.
Ein Berliner CDU-Stadtrat hat in der Hauptstadt kürzlich zwei Mädchentreffs mit sofortiger Wirkung schließen lassen und drei Leiterinnen fristlos gekündigt. Der Grund: die Leiterinnen sollen an Pro-Palästina-Mahnwachen, die durch die Polizei aufgelöst wurden, teilgenommen und sich mehrmals „israelfeindlich“ geäußert haben, so der Vorwurf. Eine hatte auf ihrem Instagram-Account die Parole „From The River To The Sea“ zitiert, die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sie.
In der Hauptstadt wird die Staatsräson besonders konsequent durchgesetzt. Mitte April wurde ein umstrittener „Palästina-Kongress“ mit internationalen Gästen mit massivem Polizeiaufgebot abgebrochen, zwei Wochen später ein pro-palästinensisches Protestcamp vor dem Bundestag mit Polizeigewalt aufgelöst. Am Wochenende nahmen rund 150 Menschen an einer unangemeldeten Protestkundgebung vor der Humboldt-Universität teil, gegen 37 von ihnen leitete die Polizei anschließend ein Ermittlungsverfahren ein. Der Kampf tobt aber auch hinter den Kulissen heftig. Die Union möchte die öffentliche Förderung von Projekten in Berlin künftig an Auflagen knüpfen.
Berlins Kultursenator Joe Chialo (CDU) war bereits im Dezember mit einer entsprechenden „Antisemitismusklausel“ für die öffentliche Kulturförderung vorgeprescht. Kulturschaffende hatten dagegen protestiert, sie fürchteten Gesinnungsprüfungen, Bekenntniszwang und eine Einschränkung der Kunst- und Meinungsfreiheit. Rund einen Monat, nachdem er die Klausel erlassen hatte, zog Chialo sie Ende Januar aufgrund juristischer Bedenken wieder zurück. Eine Klausel, die nur eine Form der Diskriminierung betrifft und nur für den Kulturbereich gilt, wäre verfassungsrechtlich wohl nicht haltbar.
Suche nach „rechtssicherem“ Weg
Doch die Debatte ging weiter und kochte nach der Berlinale Ende Februar wieder hoch. Weil mehrere Preisträger bei der Abschlussgala den Krieg in Gaza kritisiert und einige von „Apartheid“ und „Genozid“ gesprochen hatten, schlugen die Wellen der Empörung hoch. Berlins Berlins Regierender Bürgermeister, der die Preisträger bei der Veranstaltung noch beklatscht hatte, tönte einen einen Tag später: „In Berlin hat Antisemitismus keinen Platz, und das gilt auch für die Kunstszene“. Auf einem kleinen Parteitag der Berliner CDU im März, zu dem Israels Botschafter Ron Prosor als Gast geladen war, kündigte Wegner einen erneuten Anlauf für eine „Antisemitismusklausel“ in Berlin aus. „Antisemiten dürfen vom Steuerzahler kein Geld für ihren Hass bekommen“, tönte Wegner.
Seit Ende Januar hat Berlins Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) den Auftrag, gemeinsam mit ihrem Senatskollegen Joe Chialo dafür einen Weg zu finden, der „rechtssicher“ ist – also vor dem Verfassungsgericht Bestand haben könnte. „Zu diesem Thema hat sich senatsintern eine Arbeitsgruppe gebildet“, erklärte ihr Pressesprecher der taz. Auch Justizsenatorin Felor Badenberg und Innensenatorin Iris Spranger (SPD) gehören dazu.
Aus Dokumenten, die der taz vorliegen, geht hervor, dass der Berliner Senat das Zuwendungsrecht ändern will, um jegliche öffentliche Förderung an Auflagen zu knüpfen. Das würde dann nicht nur für die Kultur, sondern auch für die Bildung, den Sport und soziale Projekte gelten Die „Antisemitismusklausel“ soll im Kleingedruckten verschwinden. Ihre Wirkung würde sie aber behalten. Denn die umstrittene Antisemitismusdefinition der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA), auf die sich der Berliner Senat stützt, stuft auch Meinungsäußerungen als „antisemitisch“ ein, die nicht eindeutig antisemitisch oder gar strafbar sind – Boykottaufrufe gegen Israel zum Beispiel.
Vorschlag von Volker Beck
Die Blaupause für diese Pläne stammt vom „Tikvah-Institut“ – einem Verein, den der Grünen-Politiker und Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG), Volker Beck, im Jahr 2020 gegründet hat. Der Verein hat vorgeschlagen, als Alternative zur gescheiterten „Antisemitismusklausel“ die Berliner Landeshaushaltsordnung zu ändern. Es scheint, als wolle der Berliner Senat dieser Idee folgen. „Diese Regelung erfüllt die verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein allgemeines Gesetz, die rechtliche Bestimmtheit und die Bedingungen für zulässige Schranken“, sagt Beck.
Manche Juristen sehen das anders. „Der Staat kann sich zwar entscheiden, bestimmte Dinge zu fördern: eine Tagung zum Beispiel, oder einen Mädchentreff“, sagt etwa die Verfassungsrechtlerin Anna Katharina Mangold von der Universität Flensburg. „In diesem Rahmen darf er aber niemanden aufgrund seiner politischen Meinung ausschließen, so lange diese sich im Rahmen des geltenden Rechts bewegt.“
Von der Kunstfreiheit sei zudem mehr gedeckt als in anderen Bereichen. „Es kann nicht sein, dass nur Kunst gefördert wird, die auf der Linie der Regierung liegt. Dann wären wir auf dem Weg zur Staatskunst.“ Der Staat dürfe aber auch sonst nicht vorschreiben, was Einzelne denken und sagen dürfen – auch nicht über die Vergabe von Förderung. „Eine solche Änderung im Haushaltsrecht wäre ein Dammbruch“, warnt Mangold: „Weniger demokratisch und rechtsstaatlich gesinnte Parteien könnten dieses Mittel für ihre Zwecke nutzen.
Andere Juristen sind ebenfalls skeptisch, ob der Plan einer rechtlichen Prüfung standhält. Der Staat dürfe nicht in Inhalte etwa der Kunst oder der Religion eingreifen, auch nicht indirekt. Er dürfe daher auch nicht verlangen, Fördergelder zurückzugeben, wenn gegen die geplanten neuen Auflagen verstoßen werde. Dann drohe Rechtsunsicherheit und Willkür, heißt es in einer Stellungnahme, die der taz vorliegt. Der Berliner Staatsrechtler Christoph Möllers warnt in seinem Gutachten, dass er für Bundeskulturstaatministerin Claudia Roth erstellt hat, davor, die Entscheidungspraxis zu politisieren, und sieht Probleme bei der Umsetzung.
„Kultur der Denunziation“
Auch Kulturschaffende sind alarmiert. „Mich erinnert das an den Radikalenerlass“, sagt die Historikerin Cilly Kugelmann, und zieht einen Vergleich zur Kommunistenhatz in den Siebzigerjahren. „Damals musste man beweisen, dass man auf dem Boden des Grundgesetzes steht, wenn man für den öffentlichen Dienst arbeiten wollte.“
Kugelmann war 15 Jahre lang die Programmdirektorin des Jüdischen Museums in Berlin. „Antisemitismus kann man so nicht bekämpfen“, sagt sie. Das gehe nur durch öffentliche Debatten. „Die Politik delegiert das Thema dagegen an Behörden und Antisemitismus-Beauftragte und sagt damit letztlich: wir wollen uns damit nicht auseinandersetzen.“
Die Folgen für das Debattenklima seien verheerend. „Das hat zur Folge, dass man nicht einfach jemanden einladen kann, auf den man durch seine Arbeit aufmerksam geworden ist“, beschreibt Kugelmann die Auswirkungen auf die öffentlichen Institutionen. „Stattdessen muss man vorher recherchieren, ob er mal irgendetwas im Netz gepostet oder unterschrieben hat, das problematisch sein könnte. Das befördert eine Kultur der Denunziation. Das ist unwürdig und falsch.“
Für die CDU nur der Anfang
Kulturstaatsministerin Claudia Roth möchte Kultureinrichtungen lieber durch einen „Code of Conduct“ selbst zur Bekämpfung von Antisemitismus verpflichten. Der Zentralrat der Juden setzt dagegen weiter auf eine Antisemitismusklausel, die staatliche Förderung an Bedingungen knüpft. Er hoffe auf eine „schnellstmögliche juristisch fundierte Lösung“, sagte Zentralratspräsident Josef Schuster.
Für die CDU wäre eine solche Klausel auch nur der Anfang, sie hat noch weitgehendere Pläne. Sie will auch schärfere Sanktionen bis hin zur Exmatrikulation an Universitäten und Schulen durchsetzen und bei antisemitischen Straftaten den Verlust des Aufenthaltsrechts sowie Abschiebungen erleichtern – zunächst in Berlin und, wenn möglich, auch bundesweit.
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