Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken: Und täglich grüßt das AKW
Viele Politiker*innen versuchen gerade, sich mit der Forderung zu profilieren. Die Debatte über längere Atomlaufzeiten ist Zeitverschwendung.
I n letzter Zeit fühle ich mich häufig wie Bill Murray im Film über den Murmeltiertag: Man wacht auf und erlebt immer wieder das Gleiche. Jeden Tag findet sich derzeit ein Politiker oder eine Wissenschaftlerin, die mal wieder den originellen Vorschlag macht, wegen des drohenden Erdgasmangels die verbliebenen drei deutschen Atomkraftwerke nicht wie geplant am Jahresende abzuschalten, sondern länger laufen zu lassen. Und jeden Tag finden sich Zeitungen und Nachrichtensendungen, die ausführlich darüber berichten.
Leider ist die Aufmerksamkeit, die dieses Thema bekommt, umgekehrt proportional zu seiner wirklichen Bedeutung. Denn faktisch vorstellbar ist allenfalls, die Leistung der AKWs in diesem Sommer etwas zu drosseln, um sie dann im kommenden Winter einige Monate länger laufen zu lassen – was aber kaum etwas nützt, weil die Gesamtmenge des Stroms dabei nicht mehr wird.
Die Laufzeiten stattdessen gleich um mehrere Jahre zu verlängern, wie es zuletzt CSU-Chef Markus Söder, FDP-Chef Christian Lindner oder die Wissenschaftlerin Veronika Grimm gefordert haben, ist kurzfristig schlicht nicht machbar: Die Beschaffung neuer Brennelemente braucht einen Vorlauf von mindestens eineinhalb Jahren, weil sie für jedes Kraftwerk individuell angefertigt werden müssen. Dazu kommen die bekannten Probleme mit den Sicherheitsüberprüfungen, auf die zuletzt wegen der anstehenden Stilllegung verzichtet wurde, und die Schwierigkeit, dass es nicht mehr genug qualifiziertes Personal für den sicheren AKW-Betrieb gibt. Diese Argumente kommen übrigens nicht nur aus dem Umwelt- und dem Wirtschaftsministerium, sondern auch von den Betreibern selbst.
Keine Hilfe im Gaskrieg
Dazu kommt: Selbst wenn es möglich wäre, die AKWs länger laufen zu lassen, würde es in der aktuellen Gaskrise wenig nützen. Denn für die Stromversorgung spielt Erdgas in Deutschland keine große Rolle: Nur 11 Prozent des in Deutschland genutzten Gases landen in Stromkraftwerken. Und diese können ganz überwiegend auch nicht durch AKWs ersetzt werden, weil die Atomreaktoren anders als Gaskraftwerke nicht flexibel hoch- und runtergefahren werden können und auch keine Fernwärme produzieren.
Das alles ist lange bekannt, neue Argumente werden in der aktuellen Debatte nicht vorgebracht. Und vermutlich wissen auch jene, die diese Fakten ignorieren, dass ihre Forderung nach längeren AKW-Laufzeiten keine Chance auf Umsetzung hat. Dass sie sie trotzdem erheben, dürfte rein politisch motiviert sein: Man setzt darauf, dass Medien trotzdem ausführlich berichten und Wähler*innen den Eindruck bekommen, Atomkraft sei eine reale Alternative. Wenn die Energiepreise dann, wie allgemein erwartet wird, weiter steigen, können Söder und Co behaupten, dass das nicht passiert wäre, wenn man nur auf sie gehört hätte – und damit vermutlich sogar politisch punkten.
Doch die realitätsferne Atomkraftdiskussion täuscht nicht nur die Öffentlichkeit. Sie lenkt auch von jenen Maßnahmen ab, die wirklich gegen die Gaskrise helfen würden. Mehr als ein Drittel des Erdgases wird in Deutschland für Industrieprozesse verbraucht, weitere 30 Prozent zum Heizen von Wohnungen. Dort muss mit Hochdruck an Einsparungen und Alternativen gearbeitet werden.
Doch interessanterweise gibt es eine große Überschneidung zwischen denjenigen, die jetzt nach längeren Atomlaufzeiten rufen, und jenen, die in der Vergangenheit den Umstieg auf Alternativen blockiert haben: Markus Söder verhindert mit unpraktikablen Abstandsregeln seit Jahren den Ausbau der Windenergie in Bayern, Christian Lindner hat erfolgreich durchgesetzt, dass auch im nächsten Jahr noch neue Gasheizungen in Deutschland verbaut werden dürfen.
Bill Murray ist der ewigen Wiederholung des Murmeltiertags erst entkommen, als er zu einem besseren, selbstlosen Menschen wurde. Dass sich eine solche Entwicklung auch in der deutschen Politik durchsetzt und Union und FDP von sich aus darauf verzichten, aus dem Thema politisches Kapital zu schlagen, ist derzeit leider nicht absehbar. Obwohl sie reine Zeitverschwendung ist, wird die Atomdebatte darum vermutlich erst enden, wenn die Betreiber die Reaktoren am Jahresende tatsächlich abgeschaltet haben.
Aktualisierung am 24.06.2022, 16 Uhr:
Nach Erscheinen dieses Textes hat das Bayerische Umweltministerium am Freitag ein TÜV-Gutachten veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass die Brennelemente im AKW Isar 2 (im Gegensatz zu den anderen AKWs) Ende des Jahres noch nicht komplett abgebrannt sind. Demnach könnte es auch ohne vorherige Leistungsreduzierung einige Monate länger betrieben werden, so dass – anders als im Kommentar auf Grundlage der bis dahin bekannten Informationen dargestellt – nicht nur Strom zeitlich verschoben, sondern zusätzlicher Strom produziert würde. Zumindest bei diesem einen AKW hätte eine Laufzeitverlängerung um wenige Monate damit einen gewissen Nutzen; ob er den Aufwand und das Risiko wert ist, bleibt aber fraglich. Für die übrigen AKWs und die längerfristige Perspektive ändert sich nichts.
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