Kommentar von der Leyen und Brüssel: Merkels Macht ist zurück
Die EU-Einigung steht in der Kritik, mit ihr die Kanzlerin. Doch die Nominierung von der Leyens bietet für Angela Merkel gleich sieben Chancen.
D ie Macht ist weg, nur Angela Merkel ist noch da: Diesen Satz habe ich selbst einmal hier aufgeschrieben. Aber diesen Satz hat jetzt eine widerlegt, und das ist: Angela Merkel. Denn die Macht ist plötzlich zu ihr zurückgekommen, diese Woche in Brüssel, sie hat sie sich geschnappt, im letzten Moment.
Kaum ist das passiert, werden wieder überall Niederlagen gesehen: Die deutsche Kanzlerin habe die Idee der Spitzenkandidaten zerstört, die europäische Demokratisierung ins Hinterzimmer verfrachtet, sich dem Ungarn Viktor Orbán unterworfen, ihren Spitzenmann Manfred Weber verraten und die SPD überrollt. Doch die Merkel-Mäkler liegen falsch.
Die Kanzlerin hat nicht nur einmal gewonnen. Sie hat sogar gleich sieben Erfolge (oder zumindest Chancen) aufgetan: Sieben auf einen Streich.
Zwei Frauen, zwei mächtige Aufgaben
Erstens: Frauen nach vorn gebracht. In ihrer Schlussphase hat die erste deutsche Kanzlerin dazu beigetragen, dass zwei Frauen die zwei mächtigsten Aufgaben der EU übernehmen könnten. Wenn das Europaparlament zustimmt, wäre Ursula von der Leyen die erste Präsidentin der Europäischen Kommission. Und in Christine Lagarde würde erstmals eine Frau die Europäische Zentralbank leiten. Dass Margrete Vestager eine der Vizepräsidentinnen der Kommission werden soll, verstärkt den Eindruck: Was Geschlechtergerechtigkeit anbelangt, wacht Brüssel gerade im Jahr 2019 auf.
Zweitens: Europas Regierungen versammelt. Sie handeln nun eben doch gemeinsam. Und das in einer verfahrenen Situation, in der kein Spitzenkandidat der Europawahl eine Mehrheit bekommen hat. Die Plakathelden Manfred Weber und Frans Timmermans waren nicht nur im Rat der Regierungschefs auf verlorenen Posten. Auch im Europaparlament hat keiner der beiden eine Mehrheit in Stellung gebracht, auch Vestager nicht. Daraus folgte eine Lösung, die fast anmutig logisch ist: Wenn aus diesem Kreis niemand gewinnen kann, muss jemand anderes gewinnen. So einfach. Und das ist Ursula von der Leyen. Merkels langjährigste Ministerin. Sie ist der wichtigste Name in einem Paket, das neue Spielräume in Brüssel geschaffen hat.
Drittens: Deutsch-französische Achse repariert. Merkel hat die Operation nicht alleine geschafft, sondern mit Hilfe von Präsident Emmanuel Macron. Aber am Ende wird die Reparatur des deutsch-französischen Verhältnisses eben auch ihr zu Gute gehalten werden. Das Verhältnis von Berlin und Paris war schlecht, weil die Deutsche auf die europapolitischen Ideen des Franzosen mit dem stoischen Gestus einer Grundbuchratsschreiberin geantwortet hatte. Dann watschte Macron Merkels Kandidaten Weber brutal ab, aber am Schluss hat er eben eine Hand ausgestreckt. Merkel schlug ein. Läuft wieder. Die Franzosen dürfen Christine Lagarde in die europäischen Institutionen schicken, die Deutschen von der Leyen, die fließend französisch spricht.
Viertens: Kommissionspräsidentschaft anständig besetzt. Ja, von der Leyen ist als Verteidigungsministerin am Beschaffungs- und Gorch-Fock-Wahnsinn der Bundeswehr gescheitert. Aber das heißt nicht, dass sie als Chefin der Kommission keine ordentliche Lösung wäre. Sie hat Erfahrung und Ansehen auf der europäischen Bühne, sie steht für eine moderate Merkel-CDU, sie dürfte sich von keinem Regierungschef einschüchtern lassen.
In Berlin neue Kraft schöpfen
Und sie wird die Kommission interessanter machen nach den grauen Juncker-Jahren. In vielen Medien Europas wird jetzt die in Deutschland schon fast vergessene Show von der Ärztin und siebenfachen Mutter, die in die Politik ging, nochmal aufgeführt werden: In Brüssel geboren, in Brüssel Geschichte geschrieben und so weiter. Um ihre Bestätigung im Parlament wird von der Leyen werben müssen, denn auch in der CDU können sie manche nicht ausstehen. Andererseits macht Merkel geltend, dass sie es mit Weber ja versucht hat und trotz dessen schlechten Wahlergebnisses ein Angebot vorlegt, wie die konservativ-christdemokratische Parteienfamilie sich an der Spitze der Kommission halten kann.
Fünftens: In der Bundespolitik Optionen eröffnet. Merkel kann in Berlin neue Kraft schöpfen. Wechselt von der Leyen nach Brüssel, bekommt das Verteidigungsministerium einen personellen Neuanfang. Das wäre aber nur die kleinste Lösung. Sie könnte viel mehr machen. Die Unionsministerien umbesetzen. Kramp-Karrenbauer, die bisher machtlos in ihrer Parteizentrale rumhocken muss, ins Kabinett holen. Seehofer loswerden. Und könnte die SPD zu einem Klimaschutzministerium eigentlich Nein sagen?
Sechstens: Der CSU einen verpasst. Die ganze Sache ist – genau ein Jahr nach der CSU-Rebellion gegen Merkel – ein netter Nasenstüber für die bayerische Schwesterpartei. Erst erweckt CSU-Mann Manfred Weber im Wahlkampf den Eindruck, er kandidiere hier als Kanzler von Europa. Dann bekommt er nichts gebacken. Merkel setzt sich für ihn ein, aber, tja, keine Mehrheit. Weber samt CSU sind geschrumpft, was man daran sieht, dass sich deren Chef Markus Söder laut und künstlich über Hinterzimmer-Politik aufregt.
Siebtens: Der SPD ihre Machtlosigkeit vorgeführt. Die Pointe von Brüssel war, dass sich Merkel bei der Nominierung von der Leyens enthielt, weil die SPD nicht mitmachen wollte und der Koalitionsvertrag im Streitfall Enthaltung vorschreibt. Aber die Mehrheit stand. Irgendwo im Off schimpften kommissarische SPD-Vorsitzende. Die Partei beklagt, dass kein Spitzenkandidat das Spitzenamt abbekommen soll. Dass sie sich in die Kritik noch hinein steigert und das Brüsseler Paket zum Platzen bringt – eher unwahrscheinlich, aber möglich. Vorerst ist die Macht wieder da. Und Merkel auch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut