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Juristin über Migrationspolitik„Verschärfungen ändern nichts“

Gisela Seidler kritisiert die Migrationspolitik der Bundesregierung. Sie erklärt unter anderem, warum die neuen Regelungen Kommunen kaum entlasten.

Die Ampel schwenkt immer weiter nach rechts: Abschiebung aus Rheinmünster in Baden-Württemberg Foto: Daniel Maurer/dpa
Dinah Riese
Interview von Dinah Riese

taz: Frau Seidler, am Mittwoch will das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Vereinfachung von Abschiebungen beschließen. Sind Sie damit zufrieden?

Gisela Seidler: Diese Vorhaben greifen tief in die Grundrechte Asylsuchender ein. Wir sind entsetzt, dass das im Schnellverfahren durchgepeitscht werden soll. Es ist unmöglich, in gerade mal zwei Tagen eine qualifizierte juristische Stellungnahme abzugeben. Die wäre aber nötig, denn der Entwurf ist nicht durchdacht. Er wird Abschiebungen nicht beschleunigen, sondern möglicherweise verlangsamen, und das auf Kosten zahlreicher grundlegender Rechte. Aber offensichtlich möchte der Gesetzgeber gar nicht hören, was wir zu sagen haben, sondern auf die Schnelle Handlungsfähigkeit demonstrieren.

Bild: Vilmos Veress
Im Interview: Gisela Seidler

ist 58 Jahre alt und Vorsitzende im Ausschuss Migration des Deutschen Anwaltsvereins. Sie praktiziert als Fachanwältin für Migrationsrecht in München.

In der aktuellen Debatte geht es um die stark belasteten Kommunen. Werden diese Regelungen Entlastungen bringen?

Wohl kaum. Man könnte sagen: Wenn mehr Menschen in Abschiebehaft kommen, werden sie nicht auf die Kommunen verteilt. Aber das wäre als Begründung für Freiheitsentziehung nicht nur absurd, sondern europarechtswidrig. Ansonsten werden die Kommunen überhaupt nicht entlastet, ebenso wenig wie die zuständigen Behörden. Die werden durch unzählige neue und komplizierte Regelungen und durch neue Aufgaben eher noch eine Mehrbelastung erfahren.

Die Sicherungshaft zum Beispiel bei Fluchtgefahr soll von drei auf sechs Monate erweitert werden, der Ausreisegewahrsam von zehn auf achtundzwanzig Tage. Werden dadurch weniger Abschiebungen scheitern?

Freiheit ist eins unserer höchsten Rechtsgüter, gleich nach der Menschenwürde. Damit darf man nicht spielen. Es darf für drei Monate in Sicherungshaft genommen werden, bei wem die Abschiebung absehbar in diesem Zeitraum vollzogen werden kann. Wenn das jetzt etwa bei ungeklärter Staatsbürgerschaft ausgeweitet wird, hat das eher den Charakter einer Sanktionierung, als dass wahrscheinlicher abgeschoben werden kann. Noch dramatischer ist es beim Ausreisegewahrsam: Da muss nicht mal Fluchtgefahr oder ein anderer Haftgrund vorliegen, man will bloß sichergehen, dass die Person am Tag der Abschiebung greifbar ist. Dabei gibt es gar keine Evaluierungen dazu, wie viele Abschiebungen daran scheitern, dass jemand nicht auffindbar ist.

Sie haben von Mehrbelastung für die Behörden gesprochen. Wo sehen Sie die?

Zum Beispiel bei der Ausweitung der Strafbarkeit. Falsche oder unvollständige Angaben im Asylverfahren zu machen oder das Nichtaushändigen von Urkunden führte bisher dazu, dass ein Asylantrag abgelehnt wurde. Jetzt soll daraus eine Straftat werden, mit Haft bis zu drei Jahren. Das bedeutet einen enormen Aufwand für die Ermittlungsbehörden und Gerichte. Vor allem aber ist es ein weiterer enormer Grundrechteeingriff.

Wieso?

Niemand darf gezwungen werden, sich selbst zu belasten – schon gar nicht mit Mitteln des Strafrechts. Dieser Grundsatz ist direkt aus der Menschenwürde abgeleitet. Nehmen wir eine Person, die erst vier Wochen nach ihrer Einreise einen Asylantrag stellt: Die muss dann entscheiden, ob sie zugibt, den Asylantrag nicht unverzüglich innerhalb von zwei Wochen gestellt zu haben, was zu einer Anzeige wegen illegalen Aufenthalts führt – oder ob sie unwahre Angaben macht, was wiederum strafbar ist.

Aber ist es nicht sinnvoll, Straftaten aufzudecken?

Aber niemand muss sich selbst belasten. Das gilt auch für jeden Strafprozess. Es geht hier immerhin um eins unserer grundlegenden Rechte. Und nicht alles, was man verbieten will, muss strafbar sein. Unwahre Aussagen im Asylverfahren führen wie gesagt schon jetzt dazu, dass ein Antrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt wird, mit schwerwiegenden Folgen: Eine Klage hat keine aufschiebende Wirkung, die Person wird sofort ausreisepflichtig und bekommt keine Arbeitserlaubnis. Insofern ist der Vorschlag auch ein Verstoß gegen das Strafrecht als Ultima Ratio. Es wundert mich sehr, dass dieser Vorschlag ausgerechnet von einer SPD-Innenministerin kommt. Ähnliches hatte 2019 schon ihr Vorgänger Horst Seehofer von der CSU vor –die damalige SPD-Justizministerin Katarina Barley war strikt dagegen.

Es gibt rund 280.000 Ausreisepflichtige. In den vergangenen beiden Jahren wurden im Mittel jeweils 12.000 Personen abgeschoben. Da scheint es doch Handlungsbedarf zu geben.

Mit solchen Verschärfungen ändert man daran nichts. Es wirkt eher, als habe man händeringend gesucht, was nach all den Verschärfungen der vergangenen Jahre jetzt noch zum Verschärfen übrig ist. Stattdessen könnte man die Mittel für die Behörden aufstocken, die unter massivem Personalmangel leiden – aber das würde mehr kosten. Oder man könnte pragmatisch der sehr großen Gruppe Ausreisepflichtiger eine Aufenthaltserlaubnis erteilen, die sowieso nicht abgeschoben werden können – etwa, weil ihre minderjährigen Kinder hier einen Schutzstatus haben. Das würde die Zahl der Ausreisepflichtigen senken und wäre auch endlich im Einklang mit Europarecht.

Im Entwurf werden Grundrechtseingriffe in die Freiheit der Person, die Unverletzlichkeit der Wohnung und das Fernmeldegeheimnis benannt. All das sei gerechtfertigt. Sehen Sie das auch so?

Keineswegs. Künftig sollen beispielsweise die Handys von Asylsuchenden komplett ausgelesen werden, inklusive etwa intimer Fotos oder Nachrichten. Und das alles noch vor der ersten Anhörung. Man muss den Menschen doch erst mal die Chance geben, Angaben zu machen. Im Entwurf steht, man gehe davon aus, die Zahl der Abschiebungen so um 600 jährlich zu erhöhen. Für ein so kleines Ziel so schwerwiegende Eingriffe hinzunehmen, ist wirklich bitter.

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23 Kommentare

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  • m Entwurf steht, man gehe davon aus, die Zahl der Abschiebungen so um 600 jährlich zu erhöhen.



    Insgesamt geht es wohl eher darum, ein großes Schild aufzustellen, dass da heißt: kommt ja nicht nach Deutschland.



    Gleichzeitg jammert unsere Wirtschaft immer wieder, dass die benötigten Fachkräfte nicht nach Deutschland wollten.



    Was habe ich da nicht verstanden?

    • @Libuzzi:

      Die Fachkräfte, die unsere Wirtschaft braucht, wissen sehr um den Unterschied was "Die" und "Sie" betrifft und fühlen sich dementsprechend nicht angesprochen. Die kommen sowieso über ganz andere Kanäle ins Land.

  • Gestern Abend bei Lanz hat der Migrationsforscher Gerald Knaus genau erklärt warum diese Gesetzgebung nichts bringen wird. Die Kommunen quälen sich herum bis zum Anschlag aber in Berlin Regierungsviertel hat man Scheuklappen auf.

  • "Es gibt rund 280.000 Ausreisepflichtige.":



    "Wie viele Abschiebungen gibt es zur Zeit? Derzeit gibt es insgesamt knapp 280.000 ausreisepflichtige Personen in Deutschland. Dazu gehören allerdings auch Personen ohne Visum und ohne Aufenthaltsgenehmigung, also nicht nur abgelehnte Asylbewerber. Wenn man nur Asylbewerber zählt, sind es knapp 175.000 Personen. Davon wiederum genießen rund 155.000 eine Duldung, die Abschiebung wurde bei ihnen ausgesetzt – aus gesundheitlichen Gründen, wegen akuter Gefährdung im Heimatland oder weil es keinen Staat gibt, der sie aufnehmen will." ( www.faz.net/aktuel...ngen-19267124.html )



    Daß da rd. 20.000 so richtig Vakante übrigbleiben wagt sich die FAZ dann doch ned konkret zu schreiben.

  • Die ganze Argumentation der Anwältin wirkt sehr konstruiert. Nach ihrer Logik stünde auch jeder Schwarzarbeiter vor dem Dilemma sich entweder selbst anzuzeigen wegen Schwarzarbeit oder bei der Steuer die Schwarzeinnahmen zu verheimlichen. Dann verstößt das Steuerrecht wohl auch gegen das Grundgesetz? Bei der Anwältin steht klar Ideologie vor rationalem Denken.

    • @Carl W:

      Bei der Steuer kann man sich tatsächlich durch Selbstanzeige vor Strafverfolgung schützen.

  • Das alte Spiel: Die Verschärfung der Asylgesetzgebung dient auch heute in erster Linie dazu, die nach rechts driftende Wählerschaft zu ködern. Mit Ausnahme der marginalisierten Linken ist sich keine der Parteien zu schade dafür. Es ist ein Trauerspiel!

    • @Beate Homann:

      Klar, wer nicht gleich die ganze Welt bei uns freudig begrüßt "driftet nach rechts".



      Vielleicht sind es solche Aussagen die das Wahlverhalten erst ermöglichen.

      • @charly_paganini:

        Vielleicht sind es aber auch polemische Verkürzungen wie die Ihre, die "das Wahlverhalten" erst ermöglichen. Es ist hinreichend oft dargelegt worden wie virtuell und unrichtig die Zahl 280000 ist. Ein nicht ganz krummer Vergleich: es ist als würden Sie Rentner und Kinder zur nichtarbeitenden Bevölkerung zählen und darauf ein neoliberales Süppchen kochen.

  • Es ist eine einzige Luftnummer, die da debattiert wird. AfD und Union haben vorgelegt und jetzt zieht der Rest nach. Mit 2015 ist die Situation nicht ansatzweise vergleichbar. Bis auf die Tatsache, dass Kommunen weiter kaputtgespart wurden.

    Allerdings sollte man sich keine Illusionen darüber machen, wohin die Reise geht und dass die Abschaffung von Grundrechten nicht bei Migration halt macht, sondern lediglich anfangen. Wenn Spahn in bester Nazi - Tradition davon spricht, "irreguläre Einwandern" notfalls mit »mit physischer Gewalt« weiss man, dass diese Leute noch zu ganz anderen Dingen bereit sind.

    Denn eigentlich geht es den Leuten rund um Merz und Höcke darum, Deutschland in einen illiberalen Neoliberalismus mit pseudo - demokratischen Anstrich zu verwandeln, in dem sich zwar alle gegenseitig für Lappalien an die Gurgel springen, aber alle gleich beschissen bezahlt werden, während sich die oberen 10 Prozent weitestgehend ungestört bedienen.

    • @David Kind:

      "Wenn Spahn in bester Nazi - Tradition davon spricht, "irreguläre Einwandern" notfalls mit »mit physischer Gewalt« weiss man, dass diese Leute noch zu ganz anderen Dingen bereit sind."



      Ich kann mich erinnern, dass Beatrix von Storch für einen sinngemäßen Ausspruch so angegangen wurde, dass sie auf ihre verrutschte Maus retirierte. Heute kräht da kein Hahn nach. Und das nicht mal aus der AfD heraus, sondern von der CDU.



      Rechtsruck? Gibt es nicht, oder?

    • @David Kind:

      "Denn eigentlich geht es den Leuten rund um Merz und Höcke darum, Deutschland in einen illiberalen Neoliberalismus mit pseudo - demokratischen Anstrich zu verwandeln..."

      Sie wollen jetzt nicht wirklich den Merz mit einem Faschisten wie Höcke zusammen in einen Topf werfen?



      Ich mag unseren künftigen Kanzler Merz auch nicht besonders, aber eigentlich will der Merz kulturpolitisch einfach wieder an Helmut Kohl anknüpfen.

    • @David Kind:

      Das befürchte ich auch.

    • @David Kind:

      Ihr Schlussabsatz trifft den Nagen auf den Kopf.

    • @David Kind:

      "Deutschland in einen illiberalen Neoliberalismus mit pseudo - demokratischen Anstrich zu verwandeln"

      Das Wort, das Sie suchen, ist "Putinfaschismus".

  • ... zweifellos eine sehr häßliche Seite unserer Politik - getrieben von den Rechten und Braunen. Ein verantwortbares Handeln sieht komplett anders aus. So geht es, wenn ein dazu nicht fähiger Mensch Kanzler in Deutschland ist. Katastrophal. Es brauchte nämlich Richtlinien, Planken, Maßstäbe und Vorbilder ... keinen solchen deutschen "magischen" Verwaltungsdreck, der uns und die Hilfebedürftigen immer tiefer reinreitet. Es müßte eingesehen werden, daß dieser "Aktionismus" einer Lüge gleicht und anstatt dessen sollte moralisch vertretbar gehandelt werden.



    Ist ja nicht so, daß dieses Handeln kein Geld kosten würde ....

  • Es geht im Wesentlichen um Maßnahmen, die Entscheidungen und Urteile des Rechtsstaats durchzusetzen. Das mag im Einzelfall hart sein, aber Urteile einfach zu ignorieren, ist einfach nur dreist. Und es belastet und überlastet die Ausländerbehörden und die Polizei noch einmal mehr.

    Man kann es nur immer wieder betonen: Das sogenannte "Ausreisegewahrsam" ist keine Haft. Der Betroffene kann jederzeit in aller Freiheit seiner Ausreisepflicht nachkommen. Das hätte er/sie schon längst tun sollen, bevor er in diese Situation gerät.

    Auch von der Unverletzlichkeit der Wohnung zu sprechen, ist absurd bei jemandem, der sich längst nicht mehr im Land aufhalten sollte. Er/sie hat gar keine rechtmäßige Wohnung mehr in Deutschland.

    • @Winnetaz:

      Ach was! ©️ Vagel Bülow

      “Er/sie hat gar keine rechtmäßige Wohnung mehr in Deutschland.“

      1000x aufschreiben: “Ich soll nicht ständig solchen Unsinn von mir geben!“



      Quelle: Grundgesetz - GG -



      “Artikel 13 des deutschen Grundgesetzes (GG) gewährleistet das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung. Dieses dient dem Schutz der räumlichen Privatsphäre vor Eingriffen von staatlicher Seite. Damit handelt es sich vorrangig um ein Freiheitsrecht. Zugleich verpflichtet es den Staat, die Wohnung vor unbefugten Privatpersonen zu schützen.“



      de.wikipedia.org/w...publik_Deutschland



      Get it? I hope!



      Mehr könnte verunsichern! Aber lesens selbst - bitte - vorher Schaum vom Mund wischen! Besser is das!



      Dank im Voraus! Gelle.

    • @Winnetaz:

      Nein, darum geht es nicht. Und Grund- und Menschenrechte hat m.W. jeder Mensch, immer und überall.

      Es geht darum, über möglichst wenig relevante Themen diskutieren zu müssen. Z.B. nicht darüber, was man gegen die Fluchtursachen tun könnte. Stattdessen schließt man lieber Gaslieferverträge mit dem Senegal und sorgt dafür, dass die dortigen Fischer durch die Gasförderung vor der Küste ihre Lebensgrundlagen verlieren.



      Was erwarten wir von den Leuten? Das sie brav vor ihrer Hütte sitzen und hungern?



      EU-Agrarsubventionen, Handelsverträge mit afrikanischen Staaten, Unterstützung von Despoten, Hermesbürgschaften, die die Kolonialisierung von Entwicklungsländern durch unsere Industrie absichern ... All das wird weggedrückt.

      Worüber man auch nicht reden will: Den schlank gesparten Staat, unsere soziale Infrastruktur, in die uns der des Sozialismus wohl eher unverdächtige Herr Fratscher zu investieren empfohlen hat.

      Und schon gar nicht über den Beitrag von SPD / CDU zu dem Ganzen.

    • @Winnetaz:

      Menschenrechte gelten also nur für Bürger?

      Interessant. Hieß Ihr Jura-Professor zufällig Trump, Putin, oder Ben-Gvir?

    • @Winnetaz:

      Ich finde fachlich bzw. juristisch gesehen haben Sie vollkommen recht. Was ist aber mit der Menschlichkeit?



      Das sollten wir uns ja zu allererst fragen.

    • @Winnetaz:

      Wenn es nur darum geht geltendes Recht umzusetzen warum braucht es dann eine Änderung geltenden Rechts?



      "Das sogenannte "Ausreisegewahrsam" ist keine Haft."



      Es bedeutet, dass man Menschen einsperrt. Dass man ein hübsches Etikett an die Zellentür klebt macht das ganze weder humaner noch besser.



      "Auch von der Unverletzlichkeit der Wohnung zu sprechen, ist absurd bei jemandem, der sich längst nicht mehr im Land aufhalten sollte."



      Grundrecht heißen deshalb Grundrechte weil sie für alle Menschen gelten, sogar für solche die einer amtlichen Aufforderung nicht nachkommen.

  • Es geht ja auch nicht darum, die Kommunen zu entlasten. Darum ist es nie gegangen -- zumindest nicht in den letzten dreissig Jahren zunehmender Austerität.

    Es geht darum, die Not der Kommunen politisch auszuschlachten.

    Bäh.