Israels neue Regierung: Judenstaat im wahrsten Sinne

Die künftige Regierung in Jerusalem will die Gewaltenteilung abschaffen. Eine semiautokratische Theokratie droht den demokratischen Staat zu ersetzen.

Israels designierter Regierungschef Benjamin Netanjahu

Dürfte bald erneut Israel regieren: Benjamin Netanjahu Foto: Abir Sultan/ap

In Israel kündigt sich eine rechtsextreme Regierung an, die in Europa ihresgleichen sucht. Das ist weit über Israels Bürger hinaus auch für die jüdische Gemeinschaft weltweit brisant: denn sie sitzt mit Israel in einem Boot – ob sie will oder nicht. Dafür sorgen die Feinde Israels oder der Juden ebenso wie jüdische Repräsentanten weltweit.

Die Ultranationalisten wollen ein israelisches Ghetto errichten mit geschlossenen Grenzen, teils einen Gottesstaat

Jene Repräsentanten, die seit Jahren bei Antisemitismus zu Recht aufbegehren und auch kleinste Ereignisse zu weltweit inflationären Schlagzeilen hochpushen, Gelder für jüdische Präsenz und Sicherheit von Staaten fordern. Zu Israels angekündigter Regierung mit rechtsextremen und faschistoiden Mitgliedern, teils mit krimineller oder fragwürdiger Vergangenheit, schweigen sie indes weitgehend.

Längst hätte die jüdische Diaspora massiv Druck machen müssen, wenn Wahlkampfprogramme den eigenen Positionen diametral entgegenstehen, wenn sie jüdische Gemeinschaften zum Teil mit neuen Gesetzgebungen oder Entscheidungen ausgrenzen wollen, Juden zweiter Klasse schaffen oder Konversion nicht mehr akzeptieren möchten. Die Debatte über Israel in der jüdischen Gemeinde deckt seit jeher eine große Bandbreite ab.

Die Zionistenkongresse, die vor 125 Jahren in Basel ihren Anfang nahmen, bildeten eine Art demokratische Exzellenzdiskussion. Doch nie in der Geschichte des modernen Israels konnten sich die Extremisten in einer Regierung derart durchsetzen. Der Staat hat sich seit seiner Gründung 1948 stark gewandelt: demografisch, auch ideell, wirtschaftlich und politisch. Das einst so sozialistische, europäisch geprägte Land unterliegt einem ständigen Wandel und Widersprüchen.

Zum Teil gewollt, zum Teil aufgedrängt, zum Teil als Resultat einer Einwanderung weitgehend aus Ländern ohne demokratische Sozialisation. Israel hat viele Seiten. Hier die offene und freiheitsliebende Demokratie, das Einwanderungs- und Vielkulturenland voller Innovation. Der junge Staat mit der alten, neu entwickelten Sprache zwischen Gründungsmythos und Selbstverklärung.

Dort der rückwärtsgewandte Nationalstaat ohne niedergeschriebene Verfassung, ohne Trennung von Staat und Religion, mit beschränkter Regierungsstabilität. Ein Land auf Identitätssuche, herausgefordert durch Braindrain und Verirrungen. Die einen sehen in Israel den visionären ultrademokratischen jüdischen Rechtsstaat, die Bastion der Freiheit und den Wall gegen Diktaturen in der Region. Für andere ist Israel eine reaktionäre Pseudodemokratie auf Abwegen, ein Land der Besatzer mit Bürgerkriegspotenzial.

Alles ist nicht ganz richtig, alles nicht ganz falsch. Oft sind die Widersprüche keine, sondern sie erklären sich aus der Sozialisation des Landes zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Orient und Abendland. Aber auch aus der Verfolgungsgeschichte einer Minderheit, die nach der Shoah traumatisiert bleibt und sich zu Recht nicht mehr auf wohlklingende Politikerreden verlassen möchte.

Israel – man mag in einer Demokratie gar nicht mehr zwischen gewählten Regierungen und der wählenden Bevölkerungen unterscheiden – steht in diesen Wochen womöglich der Paradigmenwechsel von der Demokratie zu einer Art semiautokratischer Theokratie bevor, wenn die angekündigten Gesetzesänderungen durchkommen, die namentlich die Gewaltentrennung abschaffen sollen.

Da ist schon nicht mehr wichtig, ob dies der Selbstsucht von Benjamin Netanjahu oder der Ignoranz eines Parlaments anzulasten ist. Wesentlicher ist, dass Israel die jüdischen Mehrheitspositionen weltweit schwächt, gegen solche verstößt und einen Keil zwischen die jüdischen Gemeinschaften treibt. Israel bekommt eine Regierung, die rechtsextremer sein könnte als Kräfte in Europa.

Entstanden ist das nicht über Nacht, sondern Resultat einer jahrelangen Entwicklung, die oft hinter anderen vorgelagerten Diskursen, wie Antisemitismus, verschwand. Israel ist historisch eingebunden in die internationale Staatengemeinschaft. Die Floskel, dass am Schluss Israeli selbst über die Zukunft des Landes entscheiden, stimmt hingegen nur zum Teil. Sie wählen Regierungen, stellen die Armee, doch die großen geopolitischen Entscheidungen werden nicht an der Urne getroffen.

Die „Judenfrage“ ist heute kaum mehr eine, die Palästinenserfrage schon. Das wissen auch die Bewohnerinnen und Bewohner Israels. Der Konflikt bestimmt zwar nicht mehr ihren Alltag, dringt aber permanent durch. Einstaaten-, Zweistaaten-, Dreistaaten- oder eine andere Lösung, Apartheid oder Recht auf Selbstverteidigung, jüdischer oder wie auch immer gearteter Staat: Für alle auf den ersten Blick schier unlösbaren Fragen wird Israel eine pragmatische Lösung finden – finden müssen.

Doch diese Regierung ist ein Rückschlag bei allen Bemühungen der Annäherung, denn die Besatzung Israels kommt keiner Lösung, sondern einer Verschärfung näher. Mit Blick auf die Zionistenkongresse zeigte sich die Stärke Israels, die aus einer jahrhundertealten, ortsunabhängigen Kultur stammt und die der westliche-christliche Außenblick kaum durchdringt. Widerspruch ist integraler Teil von Israel, einem Land, das längst mündig geworden ist, mit Kritik umgehen kann und Solidarität einfordert.

Die Feinde, teils auch die falschen Freunde Israels, die Ultranationalisten wollen hingegen ein israelisches Ghetto errichten, einen abgeschotteten Hochsicherheitstrakt mit geschlossenen Grenzen, teils einen Gottesstaat. Die jüdische Idee der Freiheit ist das nicht. Ghettos waren immer von außen aufgezwungen.

Ausgerechnet zum 75. Staatsgründungsjahr könnte die neue Regierung aus dem liberalen Judenstaat Theodor Herzls einen nationalistischen, extremistischen, theokratischen „Judenstaat“ machen. Die jüdische Gemeinschaft muss gerade in diesen Tagen wieder Herzls Worte verinnerlichen: „Es gibt Ideen, denen man nicht entrinnen kann. Man engagiert sich, wenn man ‚ja‘ sagt, wenn man ‚nein‘ sagt und wenn man gar nichts sagt.“

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ist Schweizer Publizist und Verleger. Er ist Chefredakteur der jüdischen Magazine tacheles und aufbau.

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