Islamistischer Terror: Laut werden gegen Hass
Wir müssen die Meinungsfreiheit für alle entschiedener verteidigen. Auch von Muslimen darf man das erwarten.
J edes Mal, wenn ein islamistisches Attentat geschieht, wird das übliche abgedroschene und schlicht unerträgliche Skript wiederholt: Viele Muslime und muslimische Organisationen verurteilen die Tat, distanzieren sich von dem Mörder und verteidigen dann den Islam: „Was passiert ist, hat nichts mit dem Islam zu tun.“ Oder: „Man kann nicht einer ganzen Gemeinschaft die Tat eines Einzelnen vorwerfen.“ So lautet der Refrain, der auch von einem großen Teil der europäischen Linken nachgebetet wird. Genau das ist auch nach der Hinrichtung des französischen Lehrers Samuel Paty passiert, der am 16. Oktober 2020 in einem Vorort von Paris von einem Islamisten enthauptet wurde, und erst kürzlich nach dem Anschlag in Nizza mit drei Todesopfern.
Aber terroristische Angriffe kommen niemals aus dem Nichts. Sie sind immer nur das letzte Glied einer Kette. Und genau diese Kette ist aus politischer und sozialer Sicht das Wichtige. Sich von einem Mörder zu distanzieren ist eine Selbstverständlichkeit – aber auch verdammt einfach.
Schwerer, aber geboten wäre es gewesen, nach dem Massaker an der Redaktion von Charlie Hebdo nicht darüber zu streiten, ob es für eine Zeitung angemessen sei, Karikaturen zu veröffentlichen, die manche als beleidigend empfinden, sondern die Freiheit zu verteidigen, dass auch das veröffentlicht werden darf, was mich beleidigt – wie kürzlich durch die Indian Muslims for Secular Democracy geschehen. Wer will denn entscheiden, was Kritik ist und was Beleidigung? Für die Fundamentalisten ist beleidigend, was für andere – Gläubige oder nicht – eine Kritik ist, so scharf sie auch sein mag. Meine subjektive Einschätzung kann nicht der Maßstab für die Entscheidung sein, was du sagen oder nicht sagen darfst.
Als Atheistin fühle ich mich sehr oft von Gläubigen (dem Papst inklusive) beleidigt, die offen sagen, dass Atheisten etwas fehle. Aber ich käme nicht auf die Idee, sie daran zu hindern, ihre Meinung zu äußern, auch wenn sie mich beleidigt. Andere Menschen zu respektieren kann nur heißen, ihre Ideen, ihre Weltanschauungen, ihre politischen oder religiösen Überzeugungen, sogar ihre Haltungen ernst zu nehmen und gegebenenfalls auch scharf zu kritisieren, ohne dafür das Leben zu riskieren. Denn wenn der Preis der Meinungsfreiheit zu hoch ist, ist sie keine echte Freiheit, auch wenn sie gesetzlich garantiert ist.
Cinzia Sciuto ist Philosophin und Redakteurin der italienischen Zeitschrift „MicroMega“. Von ihr erschien das Buch „Die Fallen des Multikulturalismus. Laizität und Menschenrechte in einer vielfältigen Gesellschaft“ (Rotpunkt Verlag).
Schwerer, aber geboten wäre es, sich von all den Familien zu distanzieren, die Druck auf Lehrer ausüben, damit sie ihren Unterricht ändern; die ihren Töchtern die Teilnahme am Unterricht in bestimmten Fächern verbieten und damit deren Recht auf Bildung verletzen; die – nicht nur mit Gewalt – ihren Töchtern den Schleier aufzwingen; die für sich besondere Rechte einfordern, zum Beispiel die Ausnahme von dem Gesetz, das in Frankreich jedes religiöse Symbol im öffentlichen Raum verbietet und das die multikulturalistische Rhetorik, die Wahrheit verdrehend, als „Gesetz gegen den Schleier“ bezeichnet.
Schwerer, aber geboten wäre es, öffentlich und laut alle Formen von Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie und Hass gegen Abtrünnige, gegen Nichtgläubige zu verurteilen, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet – in der Schule, in der Familie, unter Freunden, in der Moschee.
Schwerer, aber geboten wäre es im Fall Samuel Patys gewesen, sofort auf die penetrante diffamierende Kampagne gegen den Lehrer zu reagieren, die von dem Vater einer Schülerin betrieben wurde. Man hätte öffentlich und laut seine Solidarität mit dem Lehrer bekunden müssen, das Terrain abstecken, den öffentlichen Raum physisch und ideologisch besetzen, vielleicht sogar T-Shirts mit den Mohammed-Karikaturen anziehen – da Allah zu groß ist, um sich durch einige Zeichnung beleidigt fühlen zu können.
Stattdessen gibt man den öffentlichen Raum mit einem Schulterzucken auf: „Ich habe nichts damit zu tun. Ich muss mich als Muslim nicht rechtfertigen.“ Als Sizilianerin ist mir dieser Mechanismus wohl bekannt: „Ich bin kein Mafioso, daher ist die Mafia nicht mein Problem.“ Das war jahrelang der perfekte Rahmen, der der Mafia zum Aufschwung verholfen hat. Erst als eine genügend große Zahl von Sizilianern erkannte, dass die Mafia uns alle betrifft, auch wenn wir keine Mafiosi sind, und dass es in unserer Verantwortung liegt, täglich, wo wir nur können, die Mafia anzuprangern und nicht mehr wegzusehen, konnte der Kampf gegen die Mafia auch seitens der Polizei eine gewisse Wirksamkeit erlangen.
Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie und Hass gegen Abtrünnige, gegen Nichtgläubige ist nicht nur dem Islam eigen, das ist wohl wahr. Keine Religion ist gegen Fundamentalismus gefeit. In Polen wird Abtreibung mit der starken Unterstützung der polnischen katholischen Kirche praktisch in allen Fällen verboten. Und was machen die Frauen – darunter auch viele gläubige –, die ihre Selbstbestimmung verteidigen? Sie protestieren klar und offen nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen die Kirche und kritisieren – oder beleidigen, je nach Gesichtspunkt – die Ideologie hinter dieser Entscheidung.
Im Fall des Islam passiert aber bei uns etwas Symptomatisches, das nichts mit dem Islam selbst zu tun hat: Der erste Impuls vieler ist es, den Islam zu verteidigen, statt die Probleme innerhalb des Islam zu erkennen und anzugehen. Das führt dazu, dass, während wir wegschauen, die Probleme zunehmen.
Solange Journalisten wegen der Veröffentlichung von Karikaturen massakriert werden; solange Intellektuelle wegen ihrer Ideen und Äußerungen unter Polizeischutz leben müssen; solange Lehrer Angst haben, über bestimmte brisante Themen zu sprechen, und dafür sogar ihr Leben riskieren, ist es unser aller Pflicht, die Meinungsfreiheit ohne Wenn und Aber zu verteidigen – in der großen Hoffnung, viele Muslime Europas an unserer Seite zu haben.
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