Gutachten zu nachhaltigen Geldanlagen: „Atom ist so grün wie Windkraft“
Der wissenschaftliche Dienst der EU-Kommission hat befunden, dass Investitionen in Atomkraft als nachhaltig gelten sollten. Das zieht Kritik nach sich.
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Demnach richtet die Nutzung der Atomkraft und die Endlagerung ihrer Abfälle „keinen signifikanten Schaden“ für die Umwelt an. Das umfassende Gutachten wurde vom JRC im Auftrag der EU-Kommission erarbeitet. Es soll eine umstrittene Frage bei der „grünen Taxonomie“ entschärfen.
Mit diesem Instrument legt die EU Kriterien fest, um privaten Investoren Sicherheit zu geben, ob ihr angelegtes Kapital dem Klimaschutz und der Anpassung an den Klimawandel hilft. Es ist ein zentraler Baustein des „Green Deal“ der EU.
In der Atomfrage sind die EU-Staaten uneinig: Staaten wie Frankreich, Ungarn und Finnland machen Druck, dass Kapitalflüsse in ihre Reaktoren als „nachhaltig“ gelten, andere Länder ohne Atomkraft wehren sich dagegen. Nach dem JRC-Gutachten will die Kommission nun in den nächsten Monaten entscheiden, ob auch Atom als Öko-Kapitalanlage gilt.
Eine „Märchenstunde“ zur Atomkraft
Das fast 400 Seiten starke und offiziell als „sensibel“ eingestufte Dokument „Technische Einschätzung der Nuklearenergie“ kommt zu dem Schluss: „Die Analyse erbrachte keinen wissenschaftlich fundierten Beweis, dass die Nuklearenergie der menschlichen Gesundheit oder der Umwelt mehr Schaden verursacht als andere Technologien der Elektrizitätsproduktion, die in der Taxonomie bereits eingeschlossen sind, weil sie helfen, den Klimawandel zu bekämpfen.“ Damit sind erneuerbare Energien und hocheffiziente Gaskraftwerke gemeint.
Die Gutachter befinden, über den gesamten Lebenszyklus sei die Atomenergie bei der Belastung der Umwelt durch Abgase, Unfälle und Abwässer mit der Wind- und Wasserkraft vergleichbar. Der Betrieb der Atomanlagen und die Endlagerung ihrer strahlenden Abfälle seien gefahrlos machbar, wenn alle Regeln eingehalten würden, heißt es.
Das Gutachten nennt die „nicht-radiologischen Folgen“ wie Stickoxid-Belastung oder Gewässerbelastung aus der Atomkraft für die Umwelt „am ehesten vergleichbar mit Wasserkraft und Erneuerbaren“.
Auch die CO2-Emissionen aus der Nuklearindustrie seien ähnlich niedrig wie bei diesen Energieformen. Nur beim Wasserverbrauch und der Erhitzung des Kühlwassers müsse genau auf die Umweltfolgen geachtet werden.
Kein Anlass, Stempel „nachhaltig“ zu verweigern
Den Betrieb der Atomanlagen dagegen ist für das Expertengremium relativ unproblematisch: Die Strahlenbelastung für die Allgemeinheit liege im Normalbetrieb „zehntausendmal niedriger als die Jahresdosis aus der natürlichen Hintergrundstrahlung“.
Und bei einer Betrachtung des gesamten Lebenszyklus sei „die totale Wirkung auf die menschliche Gesundheit durch radiologische und nicht-radiologische Emissionen aus der Nuklearindustrie vergleichbar mit der Wirkung der Offshore-Windenergie auf die menschliche Gesundheit.“
Selbst bei der nuklearen Endlagerung sehen die JRC-Gutachter keinen Anlass, der Atomenergie den Stempel „nachhaltig“ zu verweigern. Es gebe einen „breiten wissenschaftlichen und technischen Konsens“, dass die Endlagerung von hochradioaktivem Abfall unter der Erde „angemessen und sicher“ sei, um die Abfälle von der Biosphäre „für sehr lange Zeiträume zu isolieren“.
Immerhin, so die Gutachter, sei auch die unter Umweltschützern umstrittene Abtrennung und Speicherung von CO2 (CCS) als „Langzeit-Speicherung von Abfall in geologischen Schichten in die Taxonomie aufgenommen und positiv bewertet worden.“ Was für CO2-Speicherung gelte, müsse also auch für Atommüll-Endlagerung möglich sein.
Die grüne Vorsitzende des Umweltausschusses im Bundestag, Sylvia Kotting-Uhl, zeigte sich von dem Bericht „enttäuscht und entsetzt, er ist schlimmer als befürchtet“. Sie meinte aber zum JRC auch, „von einer Organisation, die direkt von der EU-Atomgemeinde Euratom gefördert wird, konnte niemand einen unabhängigen Bericht zu den Gefahren der Atomkraft erwarten.“
Das Institut liefere eine „Märchenstunde über die Harmlosigkeit der Atomkraft“. Die Bundesregierung müsse nun „sofort Protest einlegen und sich fachlich mit einem Bericht ihrer eigenen Sachverständigenorganisationen zur Wehr setzen.“
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