Grüne und Coronamaßnahmen: Protestantismus und Angst
Das grüne Milieu schaut oft zu wenig auf die sozialen Folgen der Pandemiebekämpfung. Im Zweifel steht es für Dekrete und harte Ausgangssperren.
B erufliche Kontakte hat das grün wählende Rentnerpaar nicht mehr, finanziell sind beide bestens abgesichert, die Kinder längst aus dem Haus. Schon vor Corona mussten sie morgens nirgendwo hin. „Schutzmaßnahmen“ schrecken daher wenig, und der Impftermin naht. Unter den 65- bis 79-Jährigen ist das Infektionsrisiko so niedrig wie bei Kindern unter 14 Jahren, zugleich ist die Unterstützung der Lockdown-Politik am höchsten.
Ein saturiertes, für Angstmache empfängliches und von protestantischem Verantwortungsbewusstsein geprägtes Milieu interessiert sich wenig für die sozialen Folgen der Pandemiebekämpfung. Oft fehlt die Sensibilität für den Gastronomen, dessen Lokal seit Monaten geschlossen ist. Oder für die freiberufliche Musikerin, die nicht mehr auftreten kann und dennoch keine „Überbrückungshilfe“ erhält, weil sie zu wenig „Fixkosten“ hat.
Mutationen verbreiten sich, Inzidenzen stagnieren, trotzdem kippt die Stimmung. Selbst eine der physikalischen Logik folgende Kanzlerin und ein Arzt mit Tunnelblick, der ihre Schaltzentrale leitet, haben das gemerkt. Angela Merkel und Helge Braun sehen sich bemüßigt, „Lockerungsperspektiven“ in Aussicht zu stellen. Seit Monaten hören sie auf einen eng naturwissenschaftlich ausgerichteten Beratungsstab.
Doch jetzt scheint die Geduld der Regierten am Ende. Der Coronablues grassiert, Kneipen und Geschäfte wollen öffnen, vom Homeschooling genervte Eltern ihre Kinder in Kindergärten und Schulen schicken. Der egalitäre Effekt von öffentlicher Bildung verpufft, in engen Wohnungen ohne Balkon fällt armen Familien die Decke auf den Kopf. Grüne WählerInnen haben solche Sorgen eher selten – und entsprechend handeln ihre PolitikerInnen.
ist promovierter Politikwissenschaftler und freier Journalist in Köln.
Sanktionen mussten abgeschwächt werden
Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg verbietet den Menschen, abends nach 20 Uhr das Haus zu verlassen. Winfried Kretschmann dekretierte nicht nur drastische Ausgangssperren, bis ein Gericht ihn stoppte und zwang, die Sanktionen abzuschwächen. „Quarantäneverweigerern“ drohte er gar an, sie in geschlossenen Einrichtungen zu kasernieren. Sein Kollege Bodo Ramelow wechselte binnen weniger Wochen die Haltung.
Zunächst Lockerungen zugetan, konnte ihm, als die Infektionen in Thüringen stiegen, das Coronaregime nicht hart genug sein. „Die Kanzlerin hatte recht“, erklärte der Konvertit lapidar. In Teilen der Linkspartei kursieren totalitäre Zero-Covid-Strategien, die die Wirtschaft komplett stilllegen wollen – angeblich sinken so die Zahlen binnen Wochen auf null.
Kontakt mit nur einer Person außerhalb des eigenen Haushalts, Geldstrafen schon bei kleinen Verstößen, Reiseverbote und Grenzkontrollen, Ruinieren ganzer Branchen: Vor einem Jahr war kaum vorstellbar, wie rigide die Politik bereit ist, demokratische Grundrechte einzuschränken – und wie sehr sie darüber über Parteigrenzen hinweg einig ist. Abgesehen von der AfD, die sich Corona leugnenden VerschwörungsanhängerInnen anbiedert, hört man selten kritische Stimmen.
Die noch wahrnehmen, dass es das „Große Wir“ bei der Bekämpfung der Pandemie gar nicht gibt. Die darauf hinweisen, dass Eltern oder KleinunternehmerInnen einseitig belastet werden. Solche Statements kommen fast immer aus dem Umfeld der FDP – weshalb Jens Spahn diese neuerdings „krawallig“ findet.
Olaf Scholz, der Vollmundige
Sonst steht die Einheitsfront, das liegt vor allem an der mitregierenden SPD. Wie ein Missionar zieht Karl Lauterbach mit düsteren Prognosen durch die Talkshows und Twitter-Resonanzräume. Parteifreundin Manuela Schwesig war die eifrigste Umsetzerin des berüchtigten Beherbungsverbots, ließ Urlaubsgäste aus Mecklenburg-Vorpommern ausweisen, weil diese dreißig Kilometer von einer verseuchten Fleischfabrik entfernt ihren Wohnsitz hatten.
Olaf Scholz macht vollmundige Versprechungen, an der Lage von Hoteliers oder Künstlerinnen aber geht die Antrags- und Vergabepraxis seiner Programme vorbei. Freie Berufe gehören für Sozialdemokraten, wie für die Gewerkschaften, ohnehin zum Unternehmerlager. Mehr Kurzarbeitergeld für abhängig Beschäftigte, so helfen wir!
Unter den Grünen, nach der Abwahl der Liberalen aus dem Bundestag 2013 als neue Anwältinnen der Bürgerrechte gehandelt, herrscht eine Bereitschaft zum Abnicken, die künftige Koalitionen andeutet. Die ältere Anhängerschaft ist geprägt von Angst – ein vertrauliches Papier des Innenministeriums belegt, dass diese seit einem Jahr gezielt geschürt wird. Von „gewünschter Schockwirkung“ und einem „Worst-Case-Szenario von über einer Million Toten im Jahre 2020 für Deutschland allein“ schrieben damals die Verfasser.
Für Panikmache war die grüne Klientel schon immer anfällig, siehe Atomkraft, Waldsterben und Klimawandel – wobei die enorme Relevanz dieser Themen unstrittig ist. Das alternativlose Regieren per Verordnung in einer „epidemiologischen Notlage“ befürworten auch Alt-68er, die einst gegen die Notstandsgesetze demonstrierten. Zudem irritiert die Nähe zu den No-Covid-Strategien. Keinem Experten sollte man Absicht unterstellen, doch manchen kann es offenbar nicht schlimm genug kommen. Auf der Basis von extrapolierten Kurven zelebrieren sie ihre Meinungsführerschaft. Sinkende Sterbezahlen sind schlecht für medienwirksame Kassandra-Rufe! Abweichende Studien werden nicht ernst genommen und ihre Autoren als „krasse Minderheit“, so die Virologin Melanie Brinkmann, diffamiert.
Armin Laschet lässt sich mehrdimensionaler beraten als die Kanzlerin, der CDU-Chef hat die willkürliche Absenkung von Grenzwerten kritisiert. Annalena Baerbock hebt immerhin die Bedeutung von Schule für benachteiligte Kinder hervor, Katrin Göring-Eckardt sorgt sich um die Nöte der Soloselbstständigen. Das (fiktionale) grüne Rentnerpaar sitzt derweil einsam zu Hause – und beruft sich im Dauerkatastrophenmodus auf seine ethischen Grundsätze.
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