Grüne über Migrationsdebatte: „Wir können damit umgehen“
Das Problem sei nicht Migration, sondern eine dysfunktionale Infrastruktur, sagt die Grüne Misbah Khan. Sachliche Vorschläge hätten es gerade schwer.

taz: Frau Khan, in der Migrationsdebatte geht es gerade vor allem um Verschärfungen. Sei es die Reform des europäischen Asylrechts, Sachleistungen für Geflüchtete oder schärfere Abschiebegesetze: Wie passt das zum grünen Selbstverständnis?
Misbah Khan: Die Herausforderung ist, Humanität hochzuhalten und gleichzeitig für Ordnung zu sorgen. Davon sprechen wir Grünen aber schon seit Langem. Es muss beides geben, nicht nur das eine ohne das andere. Die Debatte gibt sich einem enormen Rechtsruck hin. Wir müssen sachlich bleiben, wo andere vor allem Symbolpolitik machen.
Die Stimmen, die gegenhalten, sind aber sehr leise. Auch die grünen Minister*innen haben den Verschärfungen im Abschiebungsrecht zugestimmt. Diese beinhalten viele Härten, die kaum zu mehr Abschiebungen führen werden. Ist das sachlich?
In dem Entwurf sind noch Fragen offen, gerade beim Schutz von Kindern und Familien. Das werden wir im parlamentarischen Prozess noch besprechen müssen. Klar ist: Es ist völlig o. k., über Rückführungen zu sprechen. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten, die kommen, vor Krieg und Terror fliehen – und ein Recht auf Schutz haben. Deswegen müssen wir endlich die eigentlichen Fragen in den Blick nehmen: Welche Perspektiven können wir diesen Menschen anbieten, und wie kann Integration gelingen?
„Behörden kommen kaum noch hinterher“ schreiben Ihre Parteichefin Ricarda Lang und Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann gerade im Tagesspiegel. Die „Zahlen“ müssten „sinken“. Sehen Sie das auch so?
Wenn wir uns gut vorbereiten, dann können wir mit einer großen Zahl an Menschen umgehen. Es gibt Grundrechte, und die können wir Menschen nicht deshalb absprechen, weil unsere Infrastruktur überlastet ist. Stattdessen müssen wir schauen, wie wir die Herausforderung bewältigen, und zwar nachhaltig. Fluchtbewegungen wird es immer geben. Wir müssen unsere Verwaltung fit machen für das 21. Jahrhundert.
Wie meinen Sie das?
Wir diskutieren, als wäre Migration das Hauptproblem für unsere Verwaltung. Das stimmt aber nicht. Wir haben eine wahnsinnig dysfunktionale Verwaltung, die im analogen Zeitalter hängen geblieben ist. Selbst, wenn die Zahlen sinken, wären die Behörden noch überlastet. Das müssen wir ändern, auch mit Blick auf die dringend nötige Migration von Fachkräften.
An was denken Sie da?
Wir haben das weltweit komplexeste Aufenthaltsrecht, und immer wieder wurde nachjustiert. Nicht mal die Leute in den Ausländerbehörden blicken da noch durch. Wie wäre es mit einer Expert*innenkommission, die Vorschläge macht für ein widerspruchsfreies Einwanderungsrecht aus einem Guss? Wir müssen auch endlich bei der Digitalisierung der Verwaltung vorankommen und Verfahren vereinfachen: Braucht es Ausländerbehörde und Bundesagentur für Arbeit, wenn Ausbildungsvisa vergeben werden, oder reicht eine Behörde?
Kann man Dokumente verschicken, statt ständig Termine mit persönlicher Vorsprache zu vereinbaren? Wenn wir die Zeiträume für Aufenthaltstitel und Duldungen verlängern, hätten die Sachbearbeiter nicht ständig die gleichen Fälle auf dem Tisch. Wir müssen schauen, wo unsere Regelungen zu bürokratischen und arbeitsintensiven Endlosverfahren führen – und wie wir das verschlanken können.
Das hilft aber nicht, wenn es in den Kommunen keine Wohnungen, Kitaplätze und Lehrer*innen gibt.
Das stimmt, wir müssen die Kommunen dringend nachhaltig unterstützen. Immer ad hoc Infrastruktur auf- und dann wieder abzubauen, funktioniert nicht. Eine Lösung könnten Vorhaltepauschalen sein; dass also der Bund Strukturen so mitfinanziert, dass sie auch zur Verfügung stehen, wenn sie gerade nicht gebraucht werden. Und statt Geflüchtete zu gängeln, sollten wir uns grundsätzlich um die sozialen Fragen kümmern: Wie schaffen wir mehr Wohnraum? Wie lösen wir den Arbeitskräftemangel? Wie stabilisieren wir das Sozialsystem? Wie gelingt Integration, sodass die Menschen schnell auf eigenen Beinen stehen?
Deutschland braucht jährlich eine Zuwanderung von mindestens 260.000 Menschen für den Arbeitsmarkt. Viele, auch in der Koalition, sind aber skeptisch, wenn es um die Vermischung von Flucht- und Arbeitsmigration geht.
Die aktuelle Debatte führt zu einem Klima, das generell migrationsfeindlich ist. Das ist ein großes Problem. Fakt ist doch, dass wir bei Abschiebungen gerade oft die Falschen treffen: Die, die gut integriert sind, einen Job haben, eine Ausbildung oder zur Schule gehen. Dass das Kabinett jetzt den Arbeitsmarktzugang für Asylsuchende und Geduldete erleichtert, ist genau richtig. Der Spurwechsel, den wir vor der Sommerpause beschlossen haben, geht genau in die richtige Richtung. Es wäre sinnvoll, den Spurwechsel deutlich zu erweitern und für mehr Menschen zu öffnen. Aber es wird immer schwieriger angesichts des massiven Rechtsrucks in der Debatte, solche sachorientierten Vorschläge zu machen.
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