Friedenspreis für Anne Applebaum: Für den Frieden, aber nicht bedingungslos
Die US-amerikanisch-polnische Publizistin Anne Applebaum hält in Frankfurt eine scharfzüngige Rede wider Appeasementpolitik mit Russland.
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Die Ukraine, als Teil der Sowjetunion Opfer eines Holodomor, einer gezielt bewirkten Hungerkatastrophe, und seit 2022 Opfer eines russischen Krieges, hatte sie schon 2014 als freiheitserkämpfendes Land beschrieben: Da hatte Russland gerade deren Halbinsel Krim annektiert und Teile der Ostukraine dazu. Das war zu einer Zeit, als das bundesdeutsche Politikestablishment (die Union, besonders aber die SPD) Russland als „Nachbarland“ imaginierte und von den kleineren Ländern zwischen dem rohstoffreichen Imperium und ihrem „Modell Deutschland“ nur das Nötigste wissen wollte
Applebaum erinnerte in ihrer Rede auch an Manès Sperber, Friedenspreisträger 1983, der zu den Hochzeiten der bundesdeutschen Friedensbewegung vor einem antipolitischen Pazifismus warnte – und sich definitiv, wie im Übrigen Applebaum nun auch, keine Freunde auf der politischen Linken machte: Diese ja noch ihren Melancholien in puncto Weltrevolution anhängend, der Feind hatte für sie die USA zu bleiben.
So führte Applebaum aus: „Es ist auch ein guter Moment, um zu betonen, dass die Lektion der deutschen Geschichte nicht sein kann, dass die Deutschen Pazifisten sein müssen. Im Gegenteil. Seit fast einem Jahrhundert wissen wir, dass der Ruf nach Pazifismus angesichts einer aggressiven Diktatur oft nichts anderes ist als Appeasement und Hinnahme dieser Diktatur.“
Sie ist, das betont sie seit Jahren, für den Frieden, aber nicht bedingungslosen, insofern könne sie sich nicht als Pazifistin verstehen. Ein demokratisches Land wie Deutschland könne sich nicht herausreden, wonach militärische Enthaltsamkeit zum Frieden beitrage, im Gegenteil. Mit Bezug auf Thomas Mann, der in den 40er Jahren in zahlreichen Radioansprachen versuchte, NS-Deutschland rhetorisch zu besiegen, sagte Applebaum, ein „Nie wieder!“ könne nicht politische Enthaltsamkeit bedeuten. Die Ukraine seit jetzt in Gefahr, Putin und sein Regime ließen daran nicht den geringsten Zweifel. George Orwell, Antistalinist sondergleichen, so zitierte ihn die Amerikanerin und seit langem auch in Polen lebende Applebaum, verheiratet mit dem polnischen Außenminister Radosław Sikorski, dieser noble Autor sagte: „Der Krieg ist ein Übel, aber manchmal das Kleinere.“
Beifall in der Paulskirche, in der nur zwei Regierungsmitglieder zugegen waren, Kulturstaatssekretärin Claudia Roth von den Grünen und Bettina Stark-Watzinger, Bildungsministerin von der FDP. Auch SPD-Mitchefin Saskia Esken war zugegen, aber eben kein Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, den die Kritik Applebaums gewiss hätte beeindrucken können.
Optimistisch gesinnte Kämpferin
Es ließ sich nicht klären, ob der Beifall aus dem Auditorium Höflichkeit im bürgerlichen Sinne meinte – oder sogar und obendrein von Herzen kam: Applebaum weiß, wie es alle wussten in der Paulskirche, dass die US-Präsidentschaftswahlen am 5. November mit einem Votum für Donald Trump ausgehen könnten. Was dieser fordert und was seine Mitbewerberin Kamala Harris von den Demokraten letztlich auch fordert: dass das reiche Europa, zu dem auch Deutschland gehört, sich militärisch, bei der Abwehr autokratischer Regime, nicht mehr hinter den USA verstecken dürfe. Applebaum wirkte gut gelaunt: eine optimistisch, keineswegs nihilistisch gesinnte Kämpferin für die offene Gesellschaft.
Was offen blieb, ist freilich der Umstand der Konkretion. Applebaum hielt, so auch der seufzende Hinweis der Zeit-Politikanalystin und früheren taz-Redakteurin Mariam Lau auf Twitter, quasi eine Rede vor Eingeweihten, eine Predigt zu den ohnehin Wissenden oder Bekehrten. Die Sozialdemokraten, die den „Wandel-durch-Handel“-Schlamassel (Nord-Stream-Gaspipelines etc.) bewirkten oder ihn mehr oder weniger offenen Auges geschehen ließen, etwa der amtierende Bundespräsident, hängen im Geiste vielleicht nach wie vor wesentlich am Sentiment, dass Russland doch vielleicht Gründe habe … Und die Union hat immer schon gern das Geschäftliche, zumal Öl und Gas, im Blick gehabt, die Ex-Kanzlerin Angela Merkel inklusive. Wer in der Paulskirche mehr oder weniger respektvoll-ergriffen zuhörte, hatte seine (bzw. ihre) Lektion gelernt.
Nur, und diese Hinweise ersparte sich Anne Applebaum, wie soll das gehen: Demokratie verteidigen, die offene Gesellschaft, wie wehrt sich diese gegen autoritäre Versuchungen? Wie war das konkret in Polen, wie ist das aktuell in den USA, wie in Ostdeutschland, mit einer AfD als stärkster Fraktion in Thüringen und dem russlandfreundlichen Bündnis Sahra Wagenknecht, ohne die sowohl in Thüringen als auch in Sachsen keine Koalition mehr zu machen ist?
Und überhaupt: Österreich, Ungarn, die Slowakei? Es hätte womöglich für eine gewisse Unruhe im Auditorium gesorgt, wäre die US-amerikanische Polin Applebaum zu den eigenen Fehlern vorgedrungen, etwa zum Fantasma, per Krieg, beispielsweise in Irak und Afghanistan, Demokratie implantieren zu können. Applebaum plädierte einmal sehr für den Irakkrieg, brillante Neocon-Fellow – und sie irrte sich. Da hätte das Publikum vielleicht erfahren: Wie lernt es sich, als Anti-Totalitäre, aus Fehlern?
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