Forscherin über soziale Ungleichheit: „Man kann Armut vermeiden“
Wer hat die Deutungshoheit über Gerechtigkeit? Politikwissenschaftlerin Roswitha Pioch über Umverteilung, Teilhabe – und das geplante Bürgergeld.
taz: Frau Pioch, Sie forschen zum Thema Armut, Exklusion und Gerechtigkeit. Corona, der Ukrainekrieg und die Klimakrise haben dazu geführt, dass immer mehr Gruppen einen staatlichen Ausgleich für Einkommensverluste und Preissteigerungen fordern, seien es Solo-Selbstständige, Unternehmer:innen, Beschäftigte, Eltern, Rentner:innen, Hartz-IV-Empfänger:innen, Geflüchtete. Wie kann man angesichts dieser vielen Bedarfslagen überhaupt noch Armut und Exklusion definieren und abgrenzen?
Roswitha Pioch: Der Begriff Armut bedeutet, dass Menschen so sehr am Existenzminimum leben, dass sie in unserer Gesellschaft in Deutschland nicht genug Möglichkeiten haben, um an Infrastruktur, an kulturellen Angeboten, an Bildungsangeboten teilzuhaben. Arm zu sein heißt also, über zu wenig Teilhabechancen zu verfügen. Wir müssen aber auch darauf gucken, ob der Sozialstaat es leistet, den Lebensstandard im Risikofall abzusichern, was ja eines seiner Versprechen ist. Die Menschen haben Angst, dass sie den Lebensstandard, den sie sich erarbeitet haben, bei Krankheit, im Alter nicht mehr werden halten können.
Auch in den Mittelschichtmilieus fürchten sich die Menschen vor Wohlstandsverlusten durch die Preissteigerungen. Bei welchen Einbußen zieht man da die Grenze, ab der die Verluste durch staatliche Kompensation, also durch Mitteln aus Steuern, ausgeglichen werden sollten?
Es gibt unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen. Ich denke, gut verdienende Gruppen unter den Erwerbstätigen können es hinnehmen, wenn die Gasrechnung im Jahr tausend, zweitausend Euro teurer wird. Aber die Einkommen vieler Erwerbstätiger sind eben nicht so hoch, dass sie diese Preissteigerungen einfach wegstecken können. Wenn Eltern zum Beispiel nicht mehr mit ihren Kindern in Urlaub fahren, weil sie sagen, wir wissen nicht, ob wir mit unserem Geld für die anfallenden Ausgaben das Jahr über hinkommen – dann bedeutet dies, dass die Chancen auf Teilhabe eingeschränkt werden.
Sie haben in einem Beitrag den Soziologen Niklas Luhmann zitiert, der eine immer größere Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme beschreibt, wobei es schwerer wird, einen allgemeinen moralischen Konsens zu finden. Bundessozialminister Hubertus Heil von der SPD will beispielsweise Menschen mit einem Bruttoeinkommen bis zu 4.000 Euro aus Steuermitteln Zuschüsse gewähren, Bundesfinanzminister Christian Lindner von der FDP hingegen möchte vor allem Verdiener:innen von Steuerzahlungen entlasten. Wie kommt man da zusammen?
Ich bin skeptisch, ob die Einzelmaßnahmen der Regierung, wie sie beschlossen sind oder wie sie diskutiert werden, den Kern des Problems treffen. Wir sollten lieber darüber reden, was unser Sozialstaat leisten kann. Grundprobleme unseres Sozialstaates sind die Fragen der zunehmenden Altersarmut und die Frage, ob alle am Gesundheitssystem teilhaben können. Man sollte sich die verschiedenen Bedürftigkeiten angucken. Dann wird man zum Beispiel die Kinderarmut sehen oder die Armut von Frauen im Alter. Ich bin mir gar nicht sicher, ob wir alle Bedarfslagen kennen.
Von Finanzminister Christian Lindner wird betont, dass der Spielraum für staatliche Sozialleistungen begrenzt ist, auch wegen der Schuldenbremse.
Wir haben nach wie vor Wirtschaftswachstum, und Armut vermeidet man durch Geld, indem man Geld umverteilt. Es gibt Unternehmen, die in der Krise gut verdienen, die sollte man mehr in die Pflicht nehmen, und ich finde zum Beispiel die Idee der Übergewinnsteuer nicht verkehrt. Ich weiß nicht, ob die Verteilungsspielräume tatsächlich so eng sind, wie sie oftmals von der Politik erklärt werden. In der Coronakrise und bei der Benzinpreisabfederung haben wir gesehen, dass immer Geld da ist, wenn das politisch gewollt ist.
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Im Koalitionsvertrag der Ampel wird die Einführung eines Bürgergeldes angekündigt, also einer Art umbenannten Hartz IV. Jetzt hat Hubertus Heil einen Entwurf dazu vorgelegt. Könnte das Bürgergeld eine Verbesserung für Menschen, die um ihre Existenz fürchten, sein?
Das Bürgergeld ist ein Schritt in die richtige Richtung, weil man den Zugang erleichtert. Aber man hält immer noch an den Erwartungen einer Gegenleistung fest, die Empfänger:innen sollen eine Erwerbsbereitschaft zeigen, es ist immer noch an den Arbeitsmarkt geknüpft. Die ursprüngliche Idee des Bürgergeldes bedeutete ja, dass es bedingungslos ist, dass man sagte, jeder soll unabhängig von seinen Leistungen eine Existenz finanziert bekommen. Am nun geplanten Bürgergeld ist aber gut, dass die Möglichkeiten für eine Weiterbildung im Leistungsbezug verbessert wurden.
Auf dem Arbeitsmarkt herrscht Personalmangel. Wenn man den Bezug des Bürgergeldes nicht an eine Erwerbsbereitschaft knüpfte, gäbe es vielleicht ein Akzeptanzproblem bei den erwerbstätigen Steuerzahler:innen, denn Jobs sind ja angeblich genug vorhanden.
Man muss immer die Einzelfälle sehen. Wenn eine 60-jährige ehemalige Karstadt-Verkäuferin, die noch ihre demente alte Mutter pflegt, eine neue Tätigkeit aufnehmen soll, dann weiß man, dass das nicht so einfach ist. Ich glaube, dass es da auch eine Öffnung gibt bei den Erwartungen von Reziprozitäten, von Gegenleistungen. Die Menschen wissen, dass die Erziehung von Kindern, die Pflege von Angehörigen aufwendig sind. Man weiß inzwischen, dass unbezahlte Tätigkeiten im Care-Bereich durchaus gleichwertig sind mit der Erwerbsarbeit. Ich bin optimistisch, dass sich die Gerechtigkeitsvorstellungen da gewandelt haben.
Im Entwurf des Bundeshaushalts für 2023 ist keine Summe für ein höheres Bürgergeld eingestellt, obwohl Hubertus Heil angekündigt hat, die Regelsätze zu erhöhen. Am Ende zählt doch, wie viel Grundsicherung beziehungsweise Bürgergeld mehr man zum Leben bekommt.
Stimmt, wir müssen natürlich auch über die Höhe der Sozialleistungen reden. Es steht im Koalitionsvertrag nichts über die Höhe des Bürgergeldes drin. Es muss spürbar höher sein als die bisherigen Leistungen in der Grundsicherung.
59, ist Professorin für Politikwissenschaft an der Fachhochschule Kiel und Mitautorin im Handbuch „Armutsforschung“ (Nomos Verlagsgesellschaft, 2022)
Das Bürgergeld bekommen auch Zugewanderte, die heute Hartz IV beziehen. Wie verändert sich eigentlich der Solidaritätsgedanke bei uns angesichts von Migration, Flucht und Globalisierung?
Wir erleben gerade eine große Solidarität mit den Geflüchteten aus der Ukraine …
… wobei sich Geflüchtete aus anderen Ländern beklagen, dass die Menschen aus der Ukraine bevorzugt werden.
Ein junger Mann aus Afghanistan, der hier jahrelang Deutsch lernen muss, der dafür kämpfen muss, hier sein Fachabitur machen zu können, der kann das sicher ungerecht finden, dass die Menschen aus der Ukraine es leichter haben. Aber ich sehe das hoffnungsvoll, die Solidarität gegenüber den Ukrainer:innen kann auch ausstrahlen auf andere Gruppen.
Könnte es aber sein, dass manche Bürger:innen im deutschen Sozialstaat angesichts der Globalisierung mehr Angst bekommen vor Zugewanderten aus armen Ländern und deren Bedarfslagen, weil das internationale Gefälle so groß ist?
Die Menschen hier sehen, dass die Zuwanderung ein Gewinn ist, denn sie verjüngt die Gesellschaft. Ich beobachte bei jungen Leuten ein großes Solidaritätspotenzial, sie öffnen sich für globale Zusammenhänge, für die Folgen des Klimawandels, für die soziale Ungleichheit zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden. Deswegen denke ich nicht, dass die Gerechtigkeitsvorstellungen nur in eine Neid- oder Abgrenzungsdebatte münden – sondern ich glaube, wir haben auch die Bewegung, dass die Menschen sagen: Wir wollen uns engagieren hin zu einer solidarischen Gesellschaft.
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