Wohlstand jenseits vom BIP: „Wir schätzen das, was wir messen“

Die Wissenschaftlerin Katharina Lima de Miranda ist überzeugt: Was wir unter einem guten Leben verstehen, hängt davon ab, wie wir es messen.

Eine Person liegt in einer Hängematte, die zwischen zwei Palmen gespannt hängt

Es gibt auch noch andere Werte: Work-Life-Balance, nachhaltiger Konsum, Erfüllung im Leben Foto: Cavan/imago

Frau Lima de Miranda, was ist Wohlstand?

Katharina Lima de Miranda: In unserer Gesellschaft gilt Wohlstand meist als etwas Materielles. Also: Habe ich ein Auto? Ein neues Handy? Ein Eigenheim? Aber wenn wir uns mal angucken, was das Leben tatsächlich ausmacht, dann ist Wohlstand deutlich breiter. ­Neben dem Abdecken der materiellen Bedürfnisse sehe ich zwei weitere Dimensionen: erstens das Soziale. Also: Fühlen wir uns eingebettet in die Gesellschaft, haben wir Freunde, Familie, Bekannte, auf die wir zählen können? Haben wir eine Aufgabe und Chancen innerhalb der Gesellschaft? Und zweitens die Umwelt: Wie ist die Luft an dem Ort, an dem wir leben? Haben wir Grün um uns herum? Das bringt direkt ein Gefühl von einem guten Leben.

37, forscht am Kiel Institut für Weltwirtschaft zur Frage, wie sich verhaltensökonomische Erkenntnisse auf eine nachhaltige soziale Entwicklung anwenden lassen. Als Teil eines interdisziplinären Forschungsprojekts ist sie Mitentwicklerin des Recoupling Dashboards, das verschiedene Dimensionen von Wohlstand jenseits des Bruttoinlandsprodukts misst.

Anhaltende Lieferengpässe und die zunehmende Inflation führen dazu, dass sich viele Menschen Dinge nicht mehr leisten können, die vorher für sie zum Leben dazugehörten. Ist das schon ein Verlust von Wohlstand?

Die Kaufkraft der privaten Haushalte dürfte laut Prognose des Instituts für Wirtschaft im kommenden Jahr um 4,1 Prozent einbrechen – das ist so stark wie noch nie im wiedervereinigten Deutschland. Ja, der materielle Wohlstand wird zurück­gehen, zumindest temporär. Und das besorgt viele Menschen. Was ich aber leider beobachte, ist, dass eine ganz wichtige Debatte, die schon ein bisschen in Gang gekommen war, wieder verschwindet, nämlich: Wie lässt sich dieser Verlust an Wohlstand in anderen Bereichen kompensieren? Wohlgemerkt, die Menschen, die schon am Existenz­minimum kratzen, bei denen geht es darum, dass sie auch die materiellen Bedürfnisse weiter befriedigen können. Aber gesamtgesellschaftlich müssen wir fragen: Wie lässt sich die Umwelt, die gesellschaftliche Teilhabe, das soziale Gefüge so stärken, dass es nicht mehr wichtig ist, ob das eigene Smartphone wirklich das neueste ist?

Und wie kommen wir dahin?

Ich glaube, bei vielen Menschen ist tatsächlich ein größeres Bewusstsein da, dass es nicht nur materiellen Wohlstand gibt. Aber der materielle Aspekt ist sehr verwurzelt in unserem Denken. Das wird ganz besonders von Ent­schei­dungs­trä­ge­r:in­nen in Politik und Unternehmen gespiegelt: Oh weia, Inflation steigt, Kaufkraft sinkt, wir müssen den Konsum an­kurbeln! Ich sehe aber gerade bei der jüngeren Generation eine große Bereitschaft, nicht in die Konsumfalle zu geraten. Denn da gibt es andere Werte: Work-Life-Balance, nachhaltiger Konsum, Erfüllung im Leben.

Wie lässt sich diese Verhaftung vor allem der Älteren an das Materielle lösen?

Wir messen, was wir schätzen. Aber andersherum gilt es auch: Wir schätzen das, was wir messen. Wenn wir also hören: Das Bruttoinlandsprodukt ist gesunken, dann kann das Sorgen auslösen. Wenn wir aber hören: Ein Indikator, der beispielsweise den gesellschaftlichen Zusammenhalt misst, die Gesundheit der Menschen und die Größe der Grünflächen, dieser Indikator hat sich verbessert, dann verändert das auch die eigene Wahrnehmung positiv.

Aber es ist doch längst nicht alles prima.

Und darüber darf und soll man auch sprechen. Die Frage ist, wie. Es gibt von der Universität Oxford zum Beispiel einen interessanten Ansatz, der sagt: Unternehmen haben nur dann eine Daseinsberechtigung, wenn sie mit ihren Pro­dukten oder Dienstleistungen Probleme lösen. Und nicht, wenn sie neue schaffen. Und ich glaube, dieses Denken können wir in ganz viele Bereiche mitnehmen: Schaffen wir mit unserem ­Denken, unseren Messwerten, unseren ­Indikatoren neue Probleme? Oder begeben wir uns zumindest auf den Weg, um Lösungen zu finden, und sehen Potenziale? Ich wünsche mir daher auf gesellschaftlicher Ebene einen Diskurs darüber, was ein gutes Leben eigentlich ausmacht und was wir dafür brauchen. In der Pandemie ist beispielsweise vielen Menschen erst richtig bewusst geworden, wie wichtig soziale Kontakte, Gesundheit und ein naturnahes Umfeld sind. Da sehen wir schon: Einkommen ist ein Faktor – aber eben nicht der einzige.

Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hat im Frühjahr gesagt, wir hätten den Höhepunkt unseres Wohlstands wahrscheinlich hinter uns. Welche Wirkung haben solche Aussagen?

Das ist natürlich keine hilfreiche Aussage, weil sie ein überholtes Denkmuster manifestiert, das Wohlstand über Einkommen, Vermögen, Besitz definiert. Wenn wir da angeblich den Zenit erreicht haben, dann löst das natürlich Ängste aus.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Macht die Bundesregierung es besser?

Immerhin gibt es im Koalitionsvertrag die Absicht, neue Indikatoren zu entwickeln, die Wohlstand ganzheitlicher sehen. Ich hoffe sehr, dass da in dieser Legislatur etwas kommt.

Wir sprechen jetzt aus einer privilegierten Perspektive – wie unterscheidet sich die Wahrnehmung von Wohlstand zwischen verschiedenen Gesellschaften?

Unsere Forschung zeigt, dass grundlegende menschliche Bedürfnisse eben nicht nur materielle Bedürfnisse sind, sondern auch soziale, gesundheitliche und nachhaltige. Das gilt über Länder- und Kulturgrenzen hinweg. Natürlich sind die Schwerpunkte verschieden, je nachdem, wo es Defizite gibt. In Ländern, wo viele Menschen unter der Armutsgrenze leben, ist es erst mal wichtiger, die materiellen Grundbedürfnisse zu befriedigen als, beispielsweise, auf nachhaltigen Konsum zu schauen. Allerdings sind die nichtmateriellen Aspekte – zum Beispiel das Gemeinwesen oder die Nachhaltigkeit – in industrialisierten Nationen nicht zwangsläufig besser als in ärmeren Ländern. Ein ganzheitlicher Blickwinkel kann daher die Fragen von reich und arm überraschend verschieben.

Es gibt neben dem bekanntesten Indikator für Wohlstandsmessung – dem Bruttoinlandsprodukt – weitere Indizes. Sie haben an einem Projekt mitgearbeitet, das noch mal einen ganz neuen entwickelt hat. Braucht die Welt noch einen Index mehr?

Die Frage ist berechtigt, aber ich denke: ja.

Aber der Happy Planet Index oder der Better Life Index ­gehen doch schon weg vom Materiellen.

Das stimmt, aber auch bei ihnen geht es um Utilitarismus, also Nutzenmaximierung. Im Sinne von: Je mehr ich von etwas habe, desto besser geht es mir. Je mehr Menschen in der Gesellschaft also mehr haben, desto besser geht es der Gesellschaft. Das ist aber ein Denkfehler: Gruppen sind mehr als die Summe ihrer Mitglieder. Sie haben andere Dynamiken.

Zum Beispiel?

Man kann zum Beispiel nicht sagen: Je mehr soziale Kontakte, desto besser. Es kommt auf die Qualität der Kontakte an. Unser Index enthält daher vier Dimensionen. Erstens: materieller Wohlstand. Zweitens: das Gefühl, in einer Gesellschaft eingebunden zu sein und dort auch gebraucht zu werden. ­Drittens: die Möglichkeit, sich persönlich entfalten zu können, und viertens der Zustand der Umwelt. Diese vier Punkte nehmen die realen Bedürfnisse der Menschen in den Blick. Man kann sie messen und sich an den Ergebnissen orientieren.

Komplexität ist allerdings auch immer schwer vermittelbar. Weil das Modell mehrere Werte zeigt, sind etwa Ländervergleiche schwierig.

Ja, aber vier Dimensionen sind etwas, das sich noch darstellen lässt. Nicht wie bei den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Na­tionen beispielsweise, wo es 17 gibt. Und die Gefahr besteht, dass sich Akteure diejenigen raus­picken können, die ihnen gerade ins Konzept passen.

Wenn wir jetzt sagen: Um ein neues Wirtschaften hinzukriegen, müssen wir erst unser Verständnis von Wohlstand ändern – was sind dann die nächsten Schritte?

Auf Ebene der G20 arbeiten For­sche­r:in­nen mit der Regierung in Indonesien, die aktuell die Präsidentschaft innehat, an einem inklusiven Ansatz, der das Wohlergehen messen soll. In der Abschlusserklärung des T-20-Gipfels, eines Zusammenschlusses von For­sche­r:in­nen der G20-Länder, steht ein schöner Absatz, der die Mit­glieder dazu einlädt, Wohlstand jenseits des Bruttoinlands­produktes zu definieren, und die natio­nalen Statistikbehörden aufruft, diese neuen Wohlstandsmaße auch tatsächlich zu messen. Und wenn gleichzeitig der gesellschaftliche Diskurs wieder an Fahrt aufnimmt, darüber, was ein gutes Leben ausmacht, dann passiert da was. Genauso wie die Fridays-for-Future-Bewegung ein politisches Mo­mentum erzeugt hat durch Druck auf die Politik, können wir das auch schaffen, wenn es darum geht, Nachhaltigkeit sozial und Soziales nachhaltig zu denken.

Wie lange wird es dann dauern, bis in der Tagesschau nicht mehr das Bruttoinlandsprodukt vorkommt, sondern etwas anderes?

Ich glaube, wenn die Bewegung in Gang kommt, kann das sehr schnell gehen. Ein Jahr halte ich für realistisch.

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