Forscherin über Frauen auf dem Rad: „Radverkehr muss komfortabel sein“
Frauen bewegen sich anders auf dem Fahrrad als Männer, sagt die Mobilitätsforscherin Katja Leyendecker. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur.
taz: Frau Leyendecker, was hat Radfahren mit Gender zu tun?
Katja Leyendecker: Die Frage, wie wir uns bewegen, ist auf jeden Fall davon abhängig, welcher Gender-Kategorie man sich zuordnet oder besser gesagt: zugeordnet wird. Das hat einerseits mit den Rollenerwartungen zu tun, die die Gesellschaft an Frauen hat, und andererseits damit, dass Radwege für Frauen, insbesondere Frauen mit Kindern, sehr unpraktikabel konstruiert wurden oder schon gar nicht vorhanden sind.
Wie können wir den Radverkehrsanteil von Frauen erhöhen?
Der Radverkehr darf nicht mehr hintenangestellt werden. Die Stadtplanung ist vielerorts noch immer auf den Autoverkehr ausgelegt, das muss sich ändern. Wir brauchen eine flächendeckende Gestaltung des Radwegenetzes, wie in den Niederlanden. Denn je fahrradfreundlicher eine Stadt ist, desto mehr Frauen sind auch mit dem Rad unterwegs.
Inwiefern hat das mit binären Geschlechterrollen zu tun?
In den Datensätzen spiegelt sich wider, dass Frauen mit Kindern wegen dieser ungleichen Flächenverteilung stark benachteiligt werden. Jetzt kann man natürlich argumentieren: Und wie ist das dann bei kinderlosen Frauen wie mir? Aber auch ich möchte ja, dass das Ganze einfacher gestaltet ist. Wenn wir mehr Frauen zum Radfahren bewegen wollen, müssen bestimmte Kriterien oder Bedürfnisse erfüllt sein.
Zum Beispiel?
Einerseits auf der objektiven Ebene: Wir brauchen genug Platz, die Infrastruktur von Wegen, die Frauen zurücklegen, muss ausgebaut werden. Andererseits auf der subjektiven Ebene: Es muss sich sicher anfühlen, man sollte nicht mit Autos mithalten müssen, um im Straßenverkehr voranzukommen.
Aber gilt das nicht auch für Männer?
Ja, allerdings unterscheidet sich das Mobilitätsverhalten von Frauen und Männern. Wenn wir vom traditionellen Bild der Rollenverteilung ausgehen, das heutzutage immer noch vorherrscht, ist der Mann vor allem für den wirtschaftlichen Teil zuständig, und die Frau kümmert sich um die Kinder. Dadurch ergeben sich natürlich andere Bewegungsmuster: Frauen legen häufiger Versorgungswege zurück, um beispielsweise die Kinder wegzubringen oder einzukaufen, wohingegen Männer – ganz vereinfacht gesagt – häufig nur zur Arbeit und wieder zurück fahren.
47, ist Diplom-Ingenieurin und Mobilitätsexpertin. Thema ihrer Dissertation war der Radwege-Aktivismus von Frauen in Bremen und Newcastle samt Stolpersteinen.
Die Wege von Frauen sind also komplizierter?
Ich würde nicht sagen komplizierter, sondern vielfältiger, sozialer. Es werden kleinteiligere Wegeketten statt weitgehend geradliniger Strecken zurückgelegt, und es sind oft Kinder oder vollgepackte Einkaufstaschen mit dabei. Das ist mit dem Fahrrad nicht immer leicht zu bewerkstelligen.
Müssen wir Frauen einfach zu einem anderen Mobilitätsverhalten erziehen?
Auf keinen Fall, denn es hängt wirklich davon ab, ob „Frauenwege“ ausreichend berücksichtigt wurden in der Stadtgestaltung. In den Niederlanden ist das Geschlechterverhältnis von Radfahrenden ungefähr ausgewogen, 55 Prozent aller Radfahrenden sind Frauen. In Deutschland gibt es ein größeres Ungleichgewicht, genauso wie in England, wo nur circa 30 Prozent der Radfahrenden Frauen sind – bei einem Gesamtanteil des Radverkehrs von nur zwei Prozent, wohlgemerkt. Es liegt also nicht an den Frauen, sondern an den Verkehrsbedingungen.
Stimmt das mit Ihren Erfahrungen aus der Radaktivist*innen-Szene überein?
Was mich in der Szene gestört hat, war, dass dieses „Rad fahren macht Spaß“ total in den Vordergrund gerückt wurde, obwohl meine Erfahrung genau das Gegenteil war. Denn wenn wir aus sozialen und umweltgerechten Forderungen heraus Radverkehr steigern wollen, dann muss der vor allem komfortabel sein. Der Spaß kommt dann automatisch.
Und auch die Selbstverständlichkeit?
Definitiv. Wenn ich mir England angucke: Da bist du als Radfahrerin inmitten der ganzen Autos eigentlich nur dann einigermaßen gut einzuordnen, wenn du in voller Montur bist. Wohingegen du dich in den Niederlanden einfach aufs Rad schwingen, losfahren und wieder absteigen kannst, ohne dich als Radfahrer*in zu erkennen zu geben. Da ist das einfach selbstverständlicher.
Warum schafft die Politik nicht einfach mehr Radwege?
Die Politik interpretiert die Forderung nach einer anderen Raumgestaltung oft als Kampfansage. Um das verkürzt darzustellen: Die Politik ist natürlich stark an die Wirtschaft geknüpft, und an der Autoindustrie hängen nun einmal viele Arbeitsplätze. Deshalb ist es schwierig für die Politik, Ansagen zu machen, solange sie keine andere Herangehensweise entwickelt und für Stadtgestaltung keine anderen Narrative findet als „Autos first“. Und genau deshalb brauchen wir eine aktive Zivilgesellschaft, um die Politik auf solche Themen aufmerksam zu machen und uns Gehör zu verschaffen.
Wie kam es dazu, dass Sie sich mit diesem Thema beschäftigten?
Man könnte sagen, aus der Not heraus. Ich habe 23 Jahre lang in Newcastle gelebt, wo es mit Radwegen noch viel schlechter aussieht als mancherorts in Deutschland. Und irgendwann stellte ich fest, wie sehr ich mich eigentlich abmühte mitten im Autoverkehr. Die Stadt wollte zwar eigentlich mehr Menschen zum Radfahren bewegen, aber es passierte nichts. Das war so eine typische Ja-Sager-Politik. Und dann habe ich eine Petition gestartet und mich schließlich mit einer Freundin zusammengetan, um eine Radfahr-Kampagne aufzuziehen, woraufhin auch andere Städte aktiv geworden sind.
Und wie kamen Sie dann auf das Frauenthema?
Ausgangspunkt war, dass das Thema Raumverteilung noch gar nicht angekommen war. Es hieß immer: „Radfahren geht doch auch auf der Straße.“ Und da fühlte ich mich in der Debatte als Frau dann oft missverstanden – sowohl auf der politischen Ebene als auch auf der Diskussionsebene innerhalb der Initiative. Und so fing ich an, mich auch frauenpolitisch einzusetzen.
Was haben Sie gemacht?
Wir haben klare Forderungen aufgestellt, die wir dann diskutiert haben, und dadurch hat sich der Aktivismus in England über die Jahre hinweg auch sehr stark gewandelt: von einer liberal-rechtlichen Forderung zur strukturell-räumlichen Forderung. Daran waren meiner Erfahrung nach viele Frauen maßgeblich beteiligt. Zuvor war die Domäne Radaktivismus eher männlich belegt und durch die Frauenstimmen wurde auf einmal eine andere Diskussions- und Debattenkultur eingeführt. Es ging plötzlich diplomatischer zu, Zuhören spielte eine größere Rolle als vorher.
Wie sieht Ihre Vorstellung von einem gleichberechtigten öffentlichen Verkehrsraum aus?
Wenn wir den Raum so umgestaltet haben, dass Eltern mit Kinderanhängern oder Lastenrädern unbeschwert Rad fahren können, dann haben wir’s geschafft. Denn dann wird es auch für andere Gruppen einfacher: Senioren, Kinder, behinderte Menschen, also auch verschiedenartige Fahrradmodelle und -bauarten.
Ist das eine Utopie?
Tiefgreifende Veränderungen beginnen ja im Prinzip immer mit einer Utopie. Aber ich habe über die letzten Jahre gemerkt, dass es einen Trend gibt, Raumverteilung und Radwegebau endlich als soziales Problem wahrzunehmen. Natürlich auch unter dem Aspekt, dass wir klimafreundlicher werden, wenn wir den individuellen Autoverkehr verringern. Paradebeispiel ist da natürlich Berlin mit dem „Volksentscheid Fahrrad“, der vor zwei Jahren große Wellen geschlagen hat und auch in anderen Städten Veränderungen angestoßen hat. Er zwingt die Stadt Berlin, in die Fahrradinfrastruktur zu investieren. Da findet auf jeden Fall eine Mobilitätswende statt.
Auch in Newcastle?
Einmal haben sie einen 500 Meter langen, richtig guten Radweg gebaut. Wie es davor oder danach weitergeht, egal, aber immerhin ist etwas passiert.
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