Falscher Umgang mit der Tat von Hanau: Ich bin kein Opfer
Auch nach dem Anschlag in Hanau tun wieder alle so, als betreffe Rechtsextremismus nur die „anderen“.
A m Morgen nach dem Anschlag in Hanau herrschte bei mir zu Hause der Ausnahmezustand. Meine Mitbewohnerin, Schwarze Deutsche, kam hektisch in die Küche auf der Suche nach ihrem Handy. Sie hat mehrere Cousins in Hanau. Leben sie noch? Diese absurde, grausame Frage hallte in meinem Kopf wider, unaufhörlich.
Meine Mitbewohnerin versuchte ihre Verwandten zu erreichen. Erst hob niemand ab, dann der Rückruf. Die Spannung löste sich in Weinen auf. Bei uns beiden. Familien und Freunde von neun Menschen in Hanau hatten dieses Glück nicht. Neun Menschen tot, außerdem die Mutter des mutmaßlichen Täters und der Täter selbst. Das Leben von Hunderten von Menschen zerstört. Für diese Angehörigen und Freunde gibt es ab jetzt nur noch ein Leben vor Hanau und danach. Für sie wird nichts mehr so sein wie zuvor.
Von der Politik kommen Beileidsbekundungen. Jetzt haben wir es verstanden, aber wirklich. Sogar bei Horst Seehofer ist der Groschen gefallen (mal schauen, wie lange er liegen bleibt, sollte es noch mal einen islamistischen Anschlag geben). Rechtsextremismus sei die größte Bedrohung für Deutschland, sagte er nach dem Anschlag in Hanau. Die Polizeipräsenz vor Moscheen solle verstärkt werden. Seehofer sagte sogar, dass man mit dem Verweis auf Linksextremismus nicht die Gefahr durch den Rechtsextremismus relativieren dürfe. Ach was.
Es ist gut, dass diese Erkenntnisse inzwischen auch in der Politik angekommen sind. Es ist gut, wenn Moscheen beschützt werden. Nur: All das ändert nichts an meinem und dem Gefühl vieler Menschen, „anders“ zu sein in diesem Deutschland. Das Gefühl war da, als die NSU-Terrorzelle aufflog. Es war da, als die AfD im Bundestag einzog. Es war da, als in Thüringen ein Ministerpräsident mit der Hilfe eines Faschisten an die Macht kam. Und es ist jetzt da. Nachdem ein Rechtsextremist in Hanau neun Menschen tötete, weil er sie als „anders“ definierte.
Mir reicht's
Ich habe, ehrlich gesagt, keine Lust mehr, dieses Gefühl ständig zu erklären. Mich zu beschweren, wenn Medien zum tausendsten Mal von „Fremdenfeindlichkeit“ sprechen. Mich aufzuregen, dass in der Bundesregierung zwar drei Saarländer vertreten sind, aber niemand mit Migrationshintergrund. Schockiert zu sein, dass im Land der Schoah Rechtsextremisten Parlamentarier sein können. Mir reicht’s.
Wir führen nach jedem rechtsextremistischen Anschlag, nach jedem Auffliegen rechtsradikaler Gruppen immer wieder dieselbe Debatte. Entweder geht es um Muslime oder um Juden. Auch dieses Mal. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung schlug nach den Morden von Hanau eine Expertenkommission vor, die Muslimfeindlichkeit bekämpfen soll. Weil nur Muslime in Shishabars gehen?
Wir drehen uns spätestens seit der Aufdeckung der NSU-Morde im Kreis. Rechtsextremismus wird externalisiert. Er betrifft die anderen. Er betrifft Menschen mit Kopftüchern, mit Kippa oder mit Davidstern. Wie wunderbar einfach. Damit lassen wir uns den Diskurs seit Jahren von Rechten aufzwingen. Warum sollte die sogenannte Mehrheitsgesellschaft gegen rechts aufbegehren, wenn es doch nur „die anderen“ betrifft?
Merkmale einer vermeintlichen Andersartigkeit
Ja, Menschen, die Merkmale einer vermeintlichen Andersartigkeit tragen, sind stärker gefährdet. Mich griff einmal ein Mann an, weil ich wie eine „Scheißkanake“ aussehe, er attackierte mich erst verbal, dann körperlich. Aber davor hätte mich Polizeipräsenz vor Moscheen auch nicht beschützen können. Beschützen können hätten mich die Dutzenden Menschen um mich herum, von denen nicht eine Person einen Finger rührte.
An jenem Tag fasste ich den Entschluss: Ich bin kein Opfer. Ich will auch keine Beileidsbekundungen. Meine Verwandten sind nicht ermordet worden. Wozu brauche ich Mitleid? Weil ich so arm dran bin, Migrationshintergrund zu haben? Nein, danke. Ich lasse mich auch nicht immer wieder als Teil einer marginalisierten, diskriminierten Gruppe darstellen. Ich bin in einem anderen Land geboren, ja. Ich sehe äußerlich nicht so aus, als würden meine Vorfahren seit Jahrhunderten auf diesem Flecken Erde leben. Na und?
Als Walter Lübcke ermordet wurde, schrieben viele Medien von einer „Zäsur“. Menschen, die seit Jahren von rechtem Gedankengut betroffen sind, konnten da nur bitter lachen. Aber das war wenigstens ehrlich. Ja, Rechtsextremismus betrifft in seinem ganzen Ausmaß jeden Menschen einer Gesellschaft: Homosexuelle, politisch Aktive, Politiker*innen, Journalist*innen, Frauen – alle außer die Rechtsextremen selbst. Aber das hat Deutschland immer noch nicht verstanden. Lieber macht die Gesellschaft uns zu Opfern, spricht uns das Beileid aus, hält Mahnwachen. Das reicht nicht mehr.
Nachdem Björn Höcke in Thüringen zeigte, wie weit man als Faschist in diesem Land (wieder) kommen kann, saß ich mit meiner besten jüdischen Freundin zusammen. Wir überlegten: Wann ist es Zeit, das Land zu verlassen? Es gibt für mich keine Rückkehr nach Iran, dem Land, in dem ich geboren wurde. Dort wartet im besten Falle das Gefängnis auf mich, im schlechtesten Fall der Tod. Dennoch mein Schluss: Ändert sich nicht bald etwas in Deutschland, werde ich meine Emigrationspläne konkretisieren. Auswandern in ein Land, in dem es nicht alle paar Monate rechtsextreme Anschläge gibt.
Mit erhobenem Kopf
Mir ist bewusst, dass nicht alle Menschen den Luxus haben, das Land, ihre Heimat Deutschland verlassen zu können – nein, zu wollen. Die meisten kennen überhaupt keine andere Heimat als Deutschland. Aber dieses Gefühl anders zu sein, das auch ich in mir trage, wird mit jedem Ereignis wie in Hanau verstärkt, es bleibt tief in Herz und Seele der Menschen, es bleibt.
Deutschland steht am Scheideweg. Viele Menschen werden nicht mehr hier leben wollen, werden gehen oder gar nicht erst kommen. Deutschland würde nicht nur wirtschaftlich arm, sondern in jeder anderen Hinsicht auch. Langweilig, isoliert, irrelevant. Deutschland müsste den Menschen, die trotz allem hier bleiben und das Land lieben, jeden Tag die Füße küssen.
Sollte ich eines Tages gehen wollen, fühle ich mich dabei weder schwach noch ängstlich. Ich werde nicht mit eingezogenem Schwanz gehen, sondern mit erhobenem Kopf. Ich bin hier nicht das Opfer, sondern Deutschland.
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