Europawahl 2024: Eine demokratische Zumutung
Die Europawahl ist wichtig. Doch Brüssel tut nahezu nichts, um den Bürger:innen zu erklären, worum es dabei geht.
N utze deine Stimme – sonst entscheiden andere für dich. So wirbt das Europaparlament für eine hohe Beteiligung an der Europawahl am kommenden Sonntag. Leider verrät das Parlament nicht, wofür man seine Stimme nutzen kann – und wer ansonsten entscheiden würde. Dabei sollte man bei dieser Wahl ganz genau wissen, worum es geht. Das Parlament tut aber herzlich wenig, um die Bürger darüber aufzuklären. Obwohl das sogenannte Spitzenkandidatenprinzip bei der letzten Europawahl 2019 gescheitert ist, tut die Straßburger Kammer immer noch so, als könnten sich die Wähler zwischen verschiedenen Kandidaten entscheiden und die Personalpolitik der EU mitbestimmen.
Doch das ist falsch. Es geht nicht um die Wahl der Kommissionspräsidentin (oder des Präsidenten). Auch wenn das Parlament einen anderen Eindruck erweckt – diese Entscheidung fällt im Europäischen Rat, also beim EU-Gipfel Ende Juni, und nicht an der Wahlurne. Vieles spricht dafür, dass sie längst gefallen ist.
Amtsinhaberin Ursula von der Leyen soll weitermachen. Viele Staats- und Regierungschefs, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz, haben sich längst für eine zweite Amtszeit der CDU-Politikerin ausgesprochen. Wenn ihre Parteienfamilie, die konservative Europäische Volkspartei, am Sonntag wie erwartet vorn liegt, ist die Sache geritzt.
Selbst wenn von der Leyen wider Erwarten doch noch scheitern sollte, entscheiden immer noch die Chefs. Genau wie 2019 dürften sie ihre Wahl im Hinterzimmer treffen und jemanden aussuchen, die oder der gar nicht kandidiert hat. Die Europawahl ist, was das betrifft, kein Wählervotum, sondern eine Farce. Wenn man seine Stimme nicht für oder gegen die „Queen of Europe“ nutzen kann – von der Leyen steht nicht einmal auf dem Wahlzettel – entscheidet sie dann wenigstens über die Politik der nächsten Jahre mit?
Kein Zurück in der Migrationspolitik
Hier kommt die nächste Enttäuschung. Denn auch hier ist fast alles festgezurrt und die Grundrichtung ist klar. Bei den wohl wichtigsten Themen – Ukraine und Migration – hat sich die EU längst festgelegt. Die Ukraine soll Mitglied werden und sich weiter mit massiver europäischer Hilfe gegen Russland verteidigen. Ein Verhandlungsfriede steht nicht zur Wahl; die Weichen wurden bereits bei den letzten EU-Gipfeln gestellt.
In der Migrationspolitik gibt es auch kein Zurück: Das (alte) Parlament hat kurz vor Toresschluss den umstrittenen Asyl- und Migrationspakt gebilligt, der den Bau von Lagern an den Außengrenzen vorsieht. Die Abgeordneten wollten „Handlungsfähigkeit“ beweisen, sie haben aber auch die demokratische Wahl beschnitten. Klar, man kann sich immer noch für Parteien entscheiden, die die Asylreform ablehnen und für humanere Lösungen streiten. Doch eine Reform der Reform hat wenig Aussicht auf Erfolg. Von der Leyen arbeitet bereits an der nächsten Verschärfung – mit Migrationsabkommen in Tunesien, Ägypten und anderen Drittländern.
Auch bei anderen wichtigen Themen spielt die Europawahl nur eine Nebenrolle. Die Staats- und Regierungschefs arbeiten schon seit Monaten an einer „strategischen Agenda“, die die Politik der nächsten Jahre definiert. Sie soll beim EU-Gipfel im Juni verabschiedet werden, die Wähler haben darauf keinen Einfluss. All das sollte man wissen, bevor man am Sonntag sein Kreuz für Europa macht. Selten war die Wahl so eingeschränkt und vorbestimmt wie diesmal.
Stimme gegen rechts verhindert keine rechte Partei
Aber es geht doch um die Verteidigung der Demokratie, um den Kampf gegen Rechts? Richtig. Eine selbstbewusste Demokratie sollte ihren Bürgern nicht misstrauen – sondern sie ermächtigen, über Personen und Politik aktiv mitzubestimmen. Davon kann keine Rede sein, die Wahl ist deshalb eine demokratische Zumutung. Selbst auf den Umgang mit Rechten und Rechtsextremen haben die Wähler kaum Einfluss. Wer gegen Rechts stimmt, kann dennoch nicht verhindern, dass sich die EVP und von der Leyen auf Händel mit der rechtspopulistischen EKR-Partei und der postfaschistischen italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni einlässt. Die Sondierungen haben längst begonnen.
Auch die Neuordnung des rechten Lagers ist in vollem Gange. Doch ob EKR und die rechtsextreme ID-Fraktion zusammengehen und der EU ihren Stempel aufdrücken, entscheiden nicht die neu gewählten Europaabgeordneten, sondern Meloni und Frankreichs Nationalistenführerin Marine Le Pen.
Auch nach der Wahl werden die wichtigsten Weichen außerhalb des Europaparlaments gestellt. Der deutsche EU-Experte Nicolai von Ondarza spricht deshalb von einer „demokratischen Scharade“. Die Ränkespiele in den Hinterzimmern der Macht trügen zur Entfremdung zwischen den Bürgern und der EU-Politik bei. Egal was du wählst – es entscheiden ohnehin andere für dich: Dieses Gefühl der Ohnmacht ist weit verbreitet, und es ist leider berechtigt. Denn die demokratischen Reformen, die die EU nach der Europawahl 2019 versprochen hatte, sind ausgeblieben. Die Ergebnisse der Bürgerkonferenz zur Zukunft Europas wurden ignoriert.
Dennoch ist diese Wahl wichtig. Denn zum einen steht viel auf dem Spiel. Die EU wandelt sich gerade zur Kriegsunion, wie der Chef des einflussreichen European Council on Foreign Relations, Mark Leonard, schreibt. Die Wähler sollen diese gefährliche Entwicklung absegnen. Sie können aber auch nein sagen und Parteien wählen, die den Kriegskurs ablehnen.
Zum anderen ist auch diese Europawahl ein Stimmungstest für die 27 EU-Länder. In Deutschland und den meisten anderen Mitgliedstaaten wird (auch) über die Regierung und ihre Politik abgestimmt. Für die Berliner Ampel-Regierung verheißt das nichts Gutes. Auch Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron muss eine Klatsche fürchten. Wenn seine liberale Partei am Sonntag von Le Pen geschlagen wird, so ist das ein politisches Erdbeben. Es wird nicht nur Paris erschüttern, sondern auch Berlin – und Brüssel.
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