Ethikrätin Graumann zu Maßnahmen: „Furcht vor dem Kontrollverlust“
Warum gibt es bei 11.000 Coronatoten einen Lockdown, während 25.000 Grippe-Opfer und 30.000 Sterbefälle durch Raucherkrebs in Kauf genommen werden?
taz: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig“, erklärte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im vergangenen April, als das öffentliche Leben wegen Corona zum ersten Mal eingefroren wurde. Seit zwei Wochen gibt es nun neue Kontaktbeschränkungen. Teilen Sie Schäubles Zweifel, Frau Graumann?
Sigrid Graumann: Ja, ich kann den Gedanken nachvollziehen. Dem Recht auf Leben kommt zwar eine sehr hohe Bedeutung zu. Andere Rechte und wichtige Güter wie die persönliche Freiheit müssen wir aber dagegen abwägen. Schäuble wurde wegen seiner Äußerung Kaltherzigkeit vorgeworfen. Das kann ich nicht unterschreiben.
Bisher sind an Corona hierzulande etwa 12.000 Menschen gestorben. Die normale Sterblichkeit liegt bei rund 940.000 pro Jahr. Warum sind erhebliche Einschränkungen der individuellen Freiheiten im Falle dieser Pandemie gerechtfertigt, obwohl die Zahl der Sterbefälle nur um 1,3 Prozent steigt?
Es geht nicht um die absolute Zahl. Die ist im Vergleich zur Gesamtsterblichkeit bisher in der Tat nicht hoch. Die entscheidenden Fragen lautet: Was passiert bei exponentiellem Wachstum, also einer Vervielfachung der Infektionen und Todesfälle innerhalb kurzer Zeiträume? Können wir die Kranken dann noch human versorgen und unnötige Todesfälle vermeiden? Die Situation kann sehr schnell außer Kontrolle geraten. Davor haben Medizin und Politik zu Recht Angst.
Sigrid Graumann, Jahrgang 1962, ist Humangenetikerin und Philosophin an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. Die Professorin ist Spezialistin für Berufsethik sozialer Berufe, etwa in der Pflege. Seit 2016 sitzt sie im Deutschen Ethikrat, der die Bundesregierung berät.
2017/18 starben in Deutschland etwa 25.000 Leute an der Grippe. Pro Jahr sterben etwa 30.000 Männer an Lungenkrebs. Hohe Todeszahlen aus diesen Gründen bringen unsere Gesellschaft nicht aus der Ruhe. Warum ist das bei Corona anders?
Sollte die Zahl der Coronakranken auf den Intensivstationen und damit die Zahl der schweren Fälle rapide zunehmen, hat das möglicherweise dramatische Folgen für das gesamte Gesundheitssystem. Dann können auch viele Patienten, die an anderen Krankheiten leiden, nicht mehr gut versorgt werden. Von diesen würden ebenfalls viele sterben – als Folge von Corona. Noch mal: Nicht die absolute Zahl ist der Punkt, sondern die Angst, mit schwer Kranken insgesamt nicht mehr human umgehen zu können.
Aber wir wissen nicht, ob es wirklich so kommt.
Wir können nicht einschätzen, wie es weitergeht. Hoffentlich bleiben die Zahlen im beherrschbaren Bereich. Aber die Gefahr angesichts des exponentiellen Wachstums ist real, und sie macht uns Angst. Politik und Gesellschaft fürchten sich vor dem Kontrollverlust. Das liegt auch daran, dass wir uns mit Corona immer noch zu wenig auskennen.
Starren wir vielleicht zu sehr auf das mögliche exponentielle Wachstum?
Die Politik handelt nach wie vor unter der Bedingung großer Unsicherheit. Man weiß nicht genau, wo und wie sich das Virus ausbreitet und mit welchen Maßnahmen genau das effektiv verhindert werden kann. Deshalb ist es auch unklar, wie welche Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens wirken und wann ihre Effekte eintreten. Wir müssen dringend mehr forschen, um gezieltere Schutzmaßnahmen entwickeln zu können.
Geht die Gesellschaft mit den anderen Krankheiten, die viel mehr Opfer fordern als Corona bisher, entspannter um, weil man deren Risiko besser einschätzen kann?
Krebs oder Herzinfarkt zum Beispiel sind nicht ansteckend. Eine exponentielle Verbreitung der Erkrankungen ist unmöglich. Deshalb lösen diese Krankheiten trotz hoher Todeszahlen keine Angst vor Kontrollverlust aus. Und im Gegensatz zur Grippe haben Medizin und Politik bei Corona das Problem, dass weder die Verbreitung noch die Behandlung des Virus richtig verstanden sind. Wir kennen die Risikofaktoren zu wenig.
Werden wir auch bei Corona irgendwann höhere Todeszahlen tolerieren, weil wir uns daran gewöhnen und das Risiko kennen?
Wenn später die Gefahr des Kontrollverlustes durch Impfungen, bessere Therapien, Wissen über die Ansteckungswege und gezielte Schutzmaßnahmen abnimmt, akzeptiert die Gesellschaft eventuell höhere Zahlen. Dann wird man vielleicht dazu kommen, die negativen Wirkungen der Schutzmaßnahmen ernster zu nehmen. Man könnte beispielsweise die Vermeidung von Coronatoten und mögliche Todesfälle durch unterlassene Operationen anders abwägen als heute.
Dann wären auch 20.000 oder 30.000 Coronatote pro Jahr erträglich – wie bei der Grippe?
Solche absoluten Zahlen möchte ich nicht nennen.
Finden Sie diese Erwägung zu brutal, amoralisch, zynisch?
Sie stellen harte Fragen. Antworten darauf können schnell in politisch schwieriges Fahrwasser führen. AfD-Fraktionschef Alexander Gauland argumentierte kürzlich im Bundestag mit einem Vergleich: Unsere Gesellschaft akzeptiere 3.000 Verkehrstote jährlich, ohne den Autoverkehr zu verbieten. In dieser Sichtweise können auch 10.000 oder mehr Coronatote tolerabel erscheinen. Ich halte dagegen: Vermeidbare Todesfälle sollte man niemals einfach hinnehmen.
Warum unterhalten wir uns gesellschaftlich nicht offen darüber, wie viele Tote wir in welchem Fall akzeptieren – oder tun wir es?
Nein, das wird meist vermieden. Tod und Sterben sind in unserer Gesellschaft weitgehend tabuisiert. Vielleicht hat es damit zu tun, dass die Unkontrollierbarkeit des Todes dem Wunsch nach Sicherheit und Planbarkeit widerspricht. Das macht es aber auch schwerer, rational mit dem Coronarisiko umzugehen.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und zahlreiche weitere Ärzteverbände haben die aktuellen Kontaktbeschränkungen kritisiert. Sie widersprächen teilweise dem fundamentalen ärztlichen Prinzip, an erster Stelle Schaden zu vermeiden. Die wirtschaftlichen und sozialen Schäden seien zu gravierend. Was halten Sie davon?
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft und weitere Wissenschaftsorganisationen sagen das Gegenteil. Die Wissenschaft ist uneins. Aber so funktioniert sie eben: Thesen werden aufgestellt, kritisiert, bestätigt, verworfen oder verändert. Und dabei nähern wir uns der Wahrheit über das Virus langsam an. Das spricht gegen „alternative Fakten“ ebenso wie gegen eine naive Wissenschaftsgläubigkeit.
Lassen sich vermiedene Coronasterbefälle ethisch belastbar abwägen gegen die Schäden, die die Coronapolitik medizinisch, psychisch, wirtschaftlich und politisch verursacht?
Abwägen ja, aber nicht aufrechnen. Man kann subjektiv qualifizieren und entscheiden, dass beispielsweise Bildung wichtiger ist als Unterhaltung und dass die Schulen geöffnet bleiben, während die Theater wieder schließen müssen. Eine konkrete Gegenüberstellung von geretteten Leben und dadurch verursachten Kosten wäre jedoch unethisch. Denn damit würde man dem Leben ein Preisschild anheften.
Notwendige Operationen werden verschoben, Kranke trauen sich nicht, zum Hausarzt zu gehen, alte Leute verfallen in Depression. Werden diese Folgen ausreichend berücksichtigt?
Während des jüngsten Lockdowns in Berchtesgaden durften anfangs nicht mal Seelsorger die Patienten in Pflegeheimen besuchen. Durch solche unzumutbaren und unverhältnismäßigen Einschränkungen erleiden Menschen, die man eigentlich schützen will, erhebliche Schäden – beispielsweise verstärken sich Demenzen. Ich empfehle stattdessen regelmäßige Coronatests der Mitarbeitenden und kleinere Betreuungsgruppen. Das kostet mehr Geld, ist aber wirksamer und menschenfreundlicher. Und noch etwas: Man sollte endlich die Sammelunterkünfte für Flüchtlinge auflösen und die Leute in einzelnen Wohnungen unterbringen. Das wäre zweifellos eine wirksame Maßnahme.
Im Zuge der neuen Einschränkungen sind nun auch die Kinos wieder geschlossen, obwohl man sich dort aufgrund der ohnehin schon vorgeschriebenen großen Abstände zwischen den Zuschauern quasi nicht anstecken konnte.
Ja, denselben Eindruck hatte ich bei Theaterbesuchen. Ich fühlte mich sicher. Aber darum geht es nicht.
Agieren die Regierungen unplausibel?
Ja, aber angesichts des Zeitdrucks durch rasch steigende Infektionszahlen hatte die Politik kaum eine andere Möglichkeit. Es ist aktuell notwendig, das soziale Leben generell wieder stark einzuschränken. Richtig ist aber auch: Wir brauchen künftig differenziertere Maßnahmen. Vorausgesetzt dafür ist zum einen mehr Wissen und zum anderen, dass genauere Maßnahmen auch politisch durchgesetzt werden können.
Sollten Bund und Länder bei ihrem Treffen am Montag beschließen, die Einschränkungen ab Anfang Dezember wieder zu lockern?
Ich fürchte, das wäre, so sehr wir uns alle eine Rückkehr zur Normalität wünschen, zu früh. Wir sehen ja eben die allerersten Anzeichen dafür, dass die Kontakteinschränkungen wirken. Das sollten wir nichts aufs Spiel setzen. Schließlich geht es ja darum, einen harten Lockdown zu vermeiden.
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