Debatte Grundeinkommen: Gerechtigkeit geht anders

Das bedingungslose Grundeinkommen hilft nicht gegen Armut. Wer sie verringern will, darf keine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip machen.

mehrere blaue Gießkannen im Freien

Geld für alle? So einfach ist es nicht Foto: dpa

Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) besteht darin, die Existenz aller (Wohn-)Bürger ohne Ansehen der Person, ohne Arbeitspflicht und ohne besonderen Nachweis zu sichern. Tatsächlich aber würde es den bestehenden Sozialstaat zerstören, ohne die Armut verringern und für mehr Gerechtigkeit sorgen zu können.

Bedarfsgerechtigkeit schafft das Grundeinkommen deshalb nicht, weil es alle Bürger über einen Kamm schert, ohne deren spezifische Arbeits- und Lebenssituation, etwa als Wohnungsloser oder Schwerbehinderter, zu berücksichtigen. Und Leistungsgerechtigkeit verwirklicht das Grundeinkommen deshalb nicht, weil alle Bürger, unabhängig von ihrer Arbeits- oder Lebensleistung, es in gleicher Höhe erhalten. Auch Verteilungsgerechtigkeit ermöglicht das Grundeinkommen nicht, weil keinerlei Umverteilung von oben nach unten stattfindet, wenn jeder (Wohn-)Bürger denselben Geldbetrag erhält.

Begründet wird die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen neuerdings oft mit der Digitalisierung. Modebegriffe wie „Industrie 4.0“ oder „Internet der Dinge“, Bilder von einer menschenleeren Fabrik und Horrorszenarien, wonach die Herrschaft der Algorithmen für einen Großteil der arbeitsfähigen Bevölkerung sämtliche Verdienstmöglichkeiten beseitigt, lassen das Grundeinkommen zum letzten Rettungsanker in einer aus den Fugen geratenen Welt erscheinen.

Dabei ist jegliche Panikmache unangebracht, weil der Gesellschaft auch bei früheren wissenschaftlich-technischen Umbrüchen, etwa der Mechanisierung, der Elektrifizierung, der Motorisierung und der Computerisierung, nie die (Erwerbs-)Arbeit ausging, obwohl ähnliche Kassandrarufe ertönten.

Leiharbeiter, Crowdworker, „Generation Praktikum“

Statt das digitale Prekariat mittels Grundeinkommen ruhigzustellen, müssten sich die ökonomischen und politischen Eliten bemühen, die Lage der prekär Beschäftigten durch einen höheren Mindestlohn ohne Ausnahmetatbestände und durch weitere Arbeitszeitverkürzungen zu verbessern. Leiharbeiter, Crowdworker und die „Generation Praktikum“ brauchen in einer so produktiven Volkswirtschaft entsprechende Löhne und mehr soziale Rechte, aber keinen Pauschalbetrag zur Sicherung des Überlebens.

Die linken BGE-Befürworter gehen davon aus, dass seine Bezieher schwere beziehungsweise schmutzige Arbeiten meiden und so insgesamt für erträgliche Arbeitsbedingungen und angemessene Löhne sorgen. Wahrscheinlicher ist allerdings das Gegenteil: Weil das Grundeinkommen seinen Beziehern schon aus Kostengründen höchstens eine spartanische Lebensführung ermöglicht, ihre Existenz aber auf einem Minimalniveau sichert, könnten die Menschen auch schlechter entlohnte Jobs annehmen, ohne darben zu müssen.

Man muss gezielt die Betroffenen unterstützen, nicht Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip machen

Ein neoliberales Kombilohnmodell wie das finnische, bei dem Arbeitslose ein Grundeinkommen auf Hartz-IV-Niveau erhalten, zu dem sie unbegrenzt hinzuverdienen dürfen, mag für Transferleistungsbezieher im Einzelfall attraktiv sein. Es fördert aber Lohndumping, das Nachteile für Millionen abhängig Beschäftigte mit sich bringt, weil der Staat die Lebenshaltung potenzieller Arbeitskräfte finanziert und an Extraprofiten orientierte Unternehmer nur noch wenig Lohn drauflegen müssen, damit sich Erwerbsarbeit für Grundeinkommensbezieher lohnt.

Das bedingungslose Grundeinkommen erscheint utopisch, abgehoben und realitätsblind, weil es sämtliche Individuen, unabhängig von Alter, Herkunft und Besitz, gleichbehandelt. Was in der politischen und Rechtssphäre angemessen ist, wirkt auf ökonomischem und sozialem Gebiet paradox: Einer wohnungslosen Bettlerin in der Großstadt, einem arbeitslosen Jugendlichen aus der Hochhaussiedlung am Stadtrand, einer Landarbeiterin und einem pensionierten Ministerialrat im Eigenheim steht dieselbe Geldsumme zu. Wer die Armut verringern will, muss die davon Betroffenen gezielt unterstützen, darf aber keine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip machen.

Keinen großer Unterschied zur jetzigen Situation

Gibt der Staat einem Multimilliardär genauso viel wie einem Müllwerker und einer Multijobberin, zementiert er damit die bestehende Verteilungsschieflage. Wenn er Besserverdienenden und Vermögenden das Grundeinkommen vorenthielte oder es ihnen im Rahmen der Steuerfestsetzung wieder abzöge, um zu sparen, dann wäre es nicht mehr bedingungslos, sondern an die Voraussetzung geknüpft, dass andere Einkommensquellen fehlen.

Nun würde eben das Finanzamt statt des Jobcenters überprüfen, ob Einkünfte aus Schwarzarbeit existieren, was die Zahl der Kon­trol­lierten vervielfachen, für Hartz-IV-Betroffene aber keinen großen Unterschied zur jetzigen Situation machen würde.

Weil es die AfD stärken würde, wäre das bedingungslose Grundeinkommen auch eine Gefahr für die Demokratie. Fremdenfeindliche und rassistische Diskurse bekämen Auftrieb durch das Argument, nunmehr könnten zahllose „Wirtschaftsflüchtlinge“ aus aller Welt nach Deutschland strömen, um durch den Grundeinkommensbezug „anstrengungslosen Wohlstand“ zu erlangen. Würde man es Migranten deshalb erst nach vielen Jahren ihres legalen Aufenthalts gewähren, könnte zwar von Bedingungslosigkeit keine Rede mehr sein, aber von einer neuartigen Zweiklassengesellschaft.

Die linken BGE-Modellvarianten wollen das Grundeinkommen weder über Verbrauchsteuern (wie Götz Werner) noch über eine Flat Tax (wie Thomas Straubhaar), sondern über höhere Einkommen-, Gewinn- oder Vermögensteuern finanzieren, sind im öffentlichen Diskurs aber gegenüber neoliberalen Konzepten völlig chancenlos und verbessern höchstens deren Realisierungschancen.

Auf das Grundeinkommen könnte man getrost verzichten, wenn ein gerechteres Steuersystem zu seiner Refinanzierung durchsetzbar wäre. Denn mittels der zusätzlichen Staatseinnahmen ließe sich der Sozialstaat fortentwickeln, zu einer solidarischen Bürgerversicherung ausbauen sowie um eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Grundsicherung ergänzen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

geboren 1951, erforscht seit Jahrzehnten wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland. Bis 2016 lehrte der Politikwissenschaftler als Professor an der Universität Köln. Von 1970 bis 1975 und von 1987 bis 2005 Mitglied der SPD, kandidierte er als Parteiloser 2017 auf Vorschlag der Linkspartei für das Amt des Bundespräsidenten. Gerade ist sein neuestes Buch „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ im PapyRossa Verlag erschienen.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.