Das Erbe des Kolonialismus: Das Ende weißer Immunität

Koloniale Täterschaft verliert den Schutz eines geschichtspolitischen Binnenraums. Zeit für Reparationen und einen neuen Internationalismus.

Eine mit der Nase auf dem Boden liegende Statue

Flog ins Bristoler Hafenbecken: das Denkmal des Sklavenhändlers Edward Colston Foto: Bristol City Council/ap

Als in Bristol die Statue von Edward Colston gestürzt wurde, begann eine neue Ära. Nicht weil es der erste Akt dieser Art gewesen wäre, sondern weil die Figur selbst, der Sklavenhändler als Philanthrop, ein so hochverdichtetes Sinnbild darstellt, dass sich der Verstand daran wieder und wieder abarbeiten kann. Und weil natürlich der Sturz ins Hafenbecken, den ich zunächst roh und abstoßend fand, unvergesslich wird, sobald man verstanden hat, dass er nur die eigentliche Rohheit nachspielte. Colstons Royal African Company warf von ihren Schiffen Körper wie Abfall ins Meer.

Der Brite symbolisiert auf besonders drastische Weise eine Doppelgesichtigkeit, wie sie zahllosen europäischen Figuren auf Denkmalsockeln eigen ist: Wohltäter aus Sicht der jeweiligen Metropole, Übeltäter aus Sicht eines anderen Teils der Welt. Der Hafensturz hat diese Aufteilung rabiat außer Kraft gesetzt: Hier ist dort, es gibt kein Drinnen & Draußen mehr, keinen geschützten Binnenraum für eine separate weiße Geschichtsbetrachtung und für eine ungestörte Verschleierung von Täterschaft.

Wie jäh nun eine fühlbare, erlebbare Globalität aufkommt, das hat einiges mit der Pandemie zu tun. Die Erfahrung sozialen Ausgeschlossenseins in der Krise verlieh den allerersten George-Floyd-Protesten jene Wucht, die sich dann von Schauplatz zu Schauplatz übertrug, bis hinein in jenen besser gestellten Teil der Weltgesellschaft, wo der Schock der Mobilitätsbegrenzung ein neues Nachdenken über den eigenen Ort im Drinnen & Draußen ausgelöst hatte.

Nicht dass jemand das alles eindeutig erklären könnte, dieses bizarre Zusammenwirken von Faktoren. Aber so funktioniert Globalgeschichte. Und während die Idee einer postkolonialen Globalisierung soeben noch etwas eher Künftiges zu bezeichnen schien, ist daraus unter der Hand Gegenwart geworden.

Schuld und Verantwortung

Dass es kein Drinnen & Draußen mehr gibt, war bereits die Lehre aus der Debatte um Achille Mbembe: Deutsche müssen damit umgehen lernen, dass es im globalen Süden eine andere Sicht auf die Schoah (und somit auch auf Israel) gibt. Nun werfen die Denkmalstürze die Frage nach historischer Täterschaft und heutiger Verantwortlichkeit von einer anderen Seite her auf.

Sie markieren ein Ende weißer Immunität – und der Begriff sei verstanden in seinem doppelten Sinn: als Schutz vor Strafverfolgung und als ein organisches Gefeitsein gegen Angriffe. Beides schmilzt für Europäer dahin: Sie leben nicht mehr unter dem Schutzschirm einer Weltordnung, die ihnen so lange alle Forderungen nach Rechenschaft vom Halse hielt. Und ihre psychische Struktur, ihr Selbstbild, ist nicht mehr ausreichend geimpft gegen Verunsicherung. Letzteres gilt gewiss nicht für alle, aber zum Glück doch für eine wachsende Zahl.

Was die Haltung zu Kolonialverbrechen betrifft, so befanden wir uns bis gestern in einer Phase, die den 50er und 60er Jahren in Bezug auf die Schoah ähnelt: keine Täter, keine kollektive Verantwortung; ausweichen, verharmlosen. Wie mit Schuld und Verantwortung aus zwei historischen Epochen umgegangen wird, das darf durchaus verglichen werden. Wäre es nicht wünschenswert, aus den großen Versäumnissen im Umgang mit NS-Tätern zu lernen für den Blick auf koloniale Verbrechen?

Derzeit steht in Hamburg ein einstiger SS-Wachmann des KZ Stuthof vor Gericht; die Anklage wirft dem damals 17-Jährigen Beihilfe zum Mord in mehr als 5.000 Fällen vor. Anders als in früheren Jahrzehnten gilt nun der Grundsatz: Wer im Vernichtungsapparat mitwirkte, war schuldig.

Wie aber wird für die koloniale Epoche Täterschaft definiert? Gern wird nun auf die „Ambivalenz“ historischer Gestalten verwiesen. Bismarck sei kein Befürworter von Kolonialpolitik gewesen, obwohl auf der Urkunde von der Aufteilung Afrikas ganz oben, steil und schnörkellos, seine Unterschrift steht, mit reichlich rotem Siegellack beschwert.

Kein Schutz vor Verstörung

Ambivalenz ist die vornehmere Vokabel für jene Doppelgesichtigkeit, wie sie in derbster Weise Leopold II. verkörpert, der Baumeister Brüssels – für Belgien die beste Zeit, für den Kongo die schlimmste. Manche entsetzt die Vorstellung, dem steinernen Leopold werde performativ eine Hand abgeschlagen, mehr als die Tatsache, dass dies Tausenden von Kindern widerfuhr, weil sie nicht genug Kautschuk im Korb hatten. Aber es hilft nicht, sich abzuwenden.

Das Ende weißer Immunität bedeutet, dass es keinen Schutz mehr vor der Verstörung gibt. Weiße sind genötigt, in einen Abgrund zu blicken, wo sie Folter, Kastration und das Herausreißen von Eingeweiden sehen, sie sehen dabei Deutsche, Niederländer, Franzosen, Italiener, Briten, es werden immer mehr, die jetzt ins Blickfeld rücken, gerade betreten die bodenständigen Schweizer als Sklavenhändler die Bühne.

Wenn es kein Drinnen & Draußen mehr gibt, keinen abgeschirmten Binnenraum für Geschichtspolitik, dann ist auch eine andere Grenze verweht: die zeitliche. Wie lange ein Unrecht zurückliegt, hat an Relevanz verloren, denn es gilt nun das Prinzip: Kein Unrecht ist vergangen, solange es nicht von seinen Verursachern anerkannt wird. Diese Anerkenntnis wird mehr sein müssen als die windigen Entschuldigungen, die britische Institutionen gerade in Serie verfassen: weil sie ihre Entstehung erst den Profiten aus Sklavenhandel verdankten und später, an dessen Ende, der staatlichen Entschädigung der Händler.

Die Täter zu entschädigen statt die Opfer ist ein unerträglicher Gedanke; wie lange wurde er dennoch ertragen! Eine globale Bewegung für Reparationen werde die größte Gerechtigkeitsbewegung des 21. Jahrhunderts, heißt es heute in den karibischen Staaten. Dies zu unterstützen, daran muss europäischer Antirassismus seine Ernsthaftigkeit beweisen. Gibt es dazu die Kraft? Es wäre nichts weniger als ein neuer Internationalismus.

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