Chef des DIW warnt vor AfD-Politik: „Deutschland ist nicht das Paradies“
DIW-Präsident Marcel Fratzscher kritisiert die fehlende Willkommenskultur in Deutschland. Er warnt vor der migrationsfeindlichen Politik der AfD.
taz: Herr Fratzscher, welche Folgen hat der AfD-Wahlerfolg für die Wirtschaft in Thüringen und Sachsen?
Marcel Fratzscher: Es sind große Auswirkungen zu befürchten – vor allem wegen des Umgangs mit Migrant*innen und Geflüchteten. Es entsteht mittlerweile eine sehr ausländerfeindliche und intolerante Stimmung. Und dies wird vor allem in Regionen, in denen die AfD stark ist, die Wirtschaft negativ beeinflussen. Nicht nur ausländische Fachkräfte und Unternehmen meiden diese Regionen, auch viele gut ausgebildete Deutsche wollen dort nicht leben und arbeiten, weil ihnen die Stimmung zu intolerant und rassistisch ist. Das ist das Dilemma einiger dieser Regionen.
taz: Was heißt das genau?
Fratzscher: Wir sehen in unseren Studien, dass die AfD besonders stark in Regionen ist, wo junge, gut ausgebildete Menschen abwandern. Gleichzeitig führt die rechte Stimmung dazu, dass noch mehr abwandern und Unternehmen sich nicht ansiedeln wollen. Und damit geht häufig ein großes Stück öffentlicher Daseinsfürsorge verloren, weil Schulen schließen, Ärzte fehlen und Geschäfte sowie Kneipen dichtmachen. So setzt sich ein Teufelskreislauf aus zunehmender Wirtschaftsschwäche und gesellschaftlicher Polarisierung in Gang. Und insofern ist es auch gefährlich, wenn die demokratischen Parteien versuchen, die AfD zu kopieren und migrationsfeindliche Politik machen.
ist seit 2013 Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Der Ökonom lehrt zudem Makroökonomie an der Humboldt-Universität.
taz: Wie wirkt sich die Politik der AfD auf Gesamtdeutschland aus?
Fratzscher: Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt haben zwar die größten demografischen Probleme. Sie werden auch künftig am meisten unter Geburtenrückgang und Bevölkerungsexodus leiden. Aber Überalterung und Fachkräftemangel sind im gesamten Bundesgebiet ein Problem. In den nächsten zehn Jahren werden 5 Millionen Beschäftigte mehr in den Ruhestand gehen als junge Menschen neu in den Arbeitsmarkt kommen. Diese Lücke wird nicht allein durch eine stärkere Frauenerwerbstätigkeit oder die Mobilisierung von Arbeitslosen geschlossen werden können.
taz: Deutschland muss also ein Einwanderungsland bleiben?
Fratzscher: Deutschland hatte noch nie eine sehr ausgeprägte Willkommenskultur. Deutschlands Zukunft und sein Wohlstand hängen davon ab, ob es gelingt, genügend Fachkräfte nach Deutschland zu bringen. Und das Land braucht nicht nur hochqualifizierte Fachkräfte. Überall fehlen Arbeitskräfte. Es braucht auch geringqualifizierte Menschen für den Dienstleistungsbereich oder die Bauindustrie. Wenn Deutschland sich nicht für Zuwanderung öffnet, wird sehr viel Wohlstand verloren gehen. Besonders strukturschwache Regionen, in denen die AfD stark ist, und besonders geringqualifizierte Menschen im ländlichen Raum werden unter diesem Wohlstandsverlust leiden.
taz: Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) beziffert den jährlichen Bedarf an Nettozuwanderung für den Arbeitsmarkt auf 400.000 Menschen. Also müssten demnach 400.000 Menschen mehr ins Land kommen als es verlassen. Halten Sie diese Zahl für korrekt?
Fratzscher: Das ist eine realistische Zahl. Wir haben heute schon 1,7 Millionen offene Jobs. Und wenn in den nächsten zehn Jahren 5 Millionen Menschen in den Ruhestand gehen, dann braucht es jährliche eine halbe Million neuer Arbeitskräfte. Und die Arbeitskräfte wollen nicht allein kommen. Sie wollen ihre Kinder und Partner*innen mitbringen. Das wird eine gigantische Herausforderung sein. Will Deutschland sie meistern, muss es sich ändern und öffnen.
taz: Was muss passieren?
Fratzscher: Deutschland ist nicht das Paradies auf Erden. Hochqualifizierte Fachkräfte wollen häufig nicht hierherkommen. Schließlich herrscht hier eine schlechte Willkommenskultur, die Sprache ist schwierig, die Bürokratie groß und die Anerkennung ihrer Abschlüsse und Qualifikationen umständlich.
taz: Wurden bei der Integration in der Vergangenheit Fehler gemacht?
Fratzscher: Man muss sich erst mal eingestehen, dass die Integration eine große Herausforderung ist. Und dass auch viel richtig gemacht wurde und wird. So ist die Mehrheit der damals Geflüchteten heute in Arbeit, deutlich mehr als was damals realistisch erwartet werden konnte. Als 2015 im Zuge des Willkommens-Sommer die Zahl der Schutzsuchenden sprunghaft stieg, waren insbesondere die Kommunen nicht darauf vorbereitet. Man hat zwar daraufhin Kapazitäten zur Versorgung von Geflüchteten aufgebaut – sie aber gleich wieder abgebaut. Jetzt fehlen diese Kapazitäten wieder. Gleichzeitig wurde verpasst, auf europäischer Ebene eine Lösung zu finden. Und letztlich ist auch die Mentalität in Deutschland mit schuld.
taz: Was hat Integration mit Mentalität zu tun?
Fratzscher: Im Diskurs heute geht es fast ausschließlich um Abschiebungen und Grenzschließungen. Die ungleich wichtigere und dringendere Frage ist jedoch, wie die Integration der über 3 Millionen Schutzsuchenden in Arbeitsmarkt und Gesellschaft schneller und besser gelingen kann. Ein Teil der Gesellschaft und auch der demokratischen Parteien will verhindern, dass Deutschland ein Einwanderungsland bleibt. Diesen Menschen sind wirtschaftliche Argumente nicht so wichtig. Sie verzichten lieber auf Wohlstand, wenn Deutschland dafür eine weißere, autochtonere Gesellschaft bleibt. Dadurch werden die Menschen, die nach Deutschland kommen, nicht so gut integriert, wie es eigentlich nötig und möglich wäre.
taz: Was muss jetzt geschehen?
Fratzscher: Die gegenwärtige Krise der Demokratie und die zunehmende Polarisierung in Deutschland können nur durch einen ehrlichen Dialog über die Frage gelöst werden, was wir als Gesellschaft wollen. Forderungen nach Einschränkung des Asylrechts hingegen sind nichts als Populismus. Stattdessen sollten wir unsere Anstrengungen auf die Integration der hier Schutz Suchenden fokussieren und nicht so tun, als wären alle Probleme gelöst, wenn wir ihr Menschenrecht auf Asyl beschränken.
taz: Müsste der Staat für die Integration mehr Geld in die Hand nehmen?
Fratzscher: Nicht nur für die Integration. Der Sparkurs der vergangenen Jahre war schädlich. Der gesamte Bildungsbereich ist deutlich unterfinanziert. Es fehlt in Kitas und Schulen an Personal. Wenn geflüchtete Kinder integriert werden sollen, ist das eine zusätzliche Belastung. Gleichzeitig muss auch in anderen Bereichen der öffentlichen Daseinsfürsorge wie der Verkehrsinfrastruktur und dem Wohnungsbau wieder mehr investiert werden. Dafür muss der Staat mehr Geld in die Hand nehmen und vor allem auch die Kommunen besser ausstatten. Es braucht auch eine Wende in der Finanzpolitik und eine Reform der Schuldenbremse.
taz: Hat die Sparpolitik auch zum Wahlerfolg der AfD beigetragen?
Fratzscher: Die AfD-Wähler*innen haben durchaus reale Sorgen. Nicht umsonst ist die Partei in strukturschwachen Regionen stark, wo Schulen schließen und Firmen abwandern. Deswegen brauchen diese Regionen neue wirtschaftliche Impulse. Die Politiker*innen müssen nicht nur ehrlicher kommunizieren, was die Politik leisten kann. Es muss auch wieder mehr in öffentliche Infrastruktur und neue Strukturen investiert werden.
taz: Braucht es also einen neuen Aufbauplan Ostdeutschland?
Fratzscher: Es braucht einen neuen Aufbauplan Gesamtdeutschland. Auch in Westdeutschland gibt es Regionen wie das Ruhrgebiet oder Teile von Rheinland-Pfalz, die strukturschwach sind. Deswegen ist eine Strukturpolitik notwendig, die gezielt in Regionen wirtschaftliche Impulse setzt. Es muss wieder das im Grundgesetz festgeschriebene Versprechen der gleichwertigen Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet gelten.
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