Bedingungsloses Grundeinkommen: „Die Zahnschmerzen sind weg“
Was ändert sich, wenn man 1.200 Euro pro Monat geschenkt bekommt? Drei Teilnehmer:innen des Pilotprojekts Grundeinkommen berichten.
S ogar Haarproben mussten die Leute abgeben, bevor es losging. Denn an der Menge eines bestimmten Hormons in den Haaren lässt sich ablesen, wie viel Stress die Person in den vergangenen Monaten oder Jahren erlebte. Das ist eine der Fragen, die die Wissenschaftler:innen im Pilotprojekt Grundeinkommen interessiert: Ändert sich das persönliche Wohlbefinden durch soziale Sicherheit?
Sarah Bäcker ist eine von 122 Teilnehmer:innen in dem Experiment, das Anfang Juni startete. Mittlerweile hat die 39-Jährige vier Überweisungen zu je 1.200 Euro erhalten, zusätzlich zu ihrem normalen Verdienst – steuerfrei, geschenkt, ohne Verpflichtung zu irgendeiner Gegenleistung, außer derjenigen, den Wissenschaftler:innen Auskunft zu geben. Als Bäcker an diesem Freitagnachmittag auf dem sonnigen Hof der alten Kindl-Brauerei in Berlin-Neukölln sitzt, wirkt sie entspannt. Sie und weitere Teilnehmer:innen wird die taz nun drei Jahre begleiten, bis zum Ende des Projekts.
Das Bedingungslose Grundeinkommen ist das Gegenteil von Hartz IV. Seit der Einführung von Hartz IV Anfang der 2000er Jahre läuft die Debatte über ein menschenfreundliches Sozialmodell, das nicht auf Druck, Zwang und Strafen beruht. Die Idee: Alle Bürger:innen sollen einen existenzsichernden Betrag erhalten. Erstmals wird nun in Deutschland wissenschaftlich untersucht, welche Auswirkungen das in der Praxis hätte.
„Dann lebte ich halt eine Zeit lang von Toast und Kartoffeln“, sagt Bäcker, Architektin und Ausstellungsmacherin, im Rückblick auf ihr bisheriges Berufsleben. „Viele Jahre hatte ich extrem wenig Geld und war wahnsinnig sparsam.“ Sich zu verschulden oder staatliche Hilfe zu beantragen, kam aber nicht infrage. Bäcker ist aufgewachsen in Oberhausen im Ruhrgebiet, sie stammt aus einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie. Ehrliches Geldverdienen mit der eigenen Arbeit gehört für sie zu den Grundwerten.
„Erst seit zwei Jahren kann ich eine eigene Wohnung finanzieren“, sagt sie. Ihr normales Einkommen beträgt etwa 1.500 Euro netto monatlich. „Da bleibt nicht viel übrig.“ Während der vergangenen Jahre habe sie mehr und mehr eine Unsicherheit verspürt: „Ich bin fast 40 und habe kaum Eigentum.“ Bäcker betont allerdings, dass sie sich das mitunter asketische Leben freiwillig so einrichte, weil sinnvolles, selbstbestimmtes Arbeiten ihr viel wichtiger erscheine als ein höheres Einkommen. „Insgesamt fühle ich mich privilegiert.“
Sie strahlt, wenn sie über ihre Projekte spricht. Im „Studio Achtviertel“ gestaltet Bäcker zusammen mit ihrer Geschäftspartnerin Ausstellungen, aktuell ein mobiles Geschichtslabor in Karlsruhe. Bei der halben Stelle im Berliner Architektur- und Stadtforschungsbüro „subsolar*“ geht es eher um klassische Planung und Bürger:innenbeteiligung.
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Hier auf dem alten Brauereigelände entwirft Bäcker nun zusammen mit ihren Kolleg:innen eine Freifläche, eine Art Marktplatz für das umliegende Viertel. Bunt ist der Ort schon heute. Aus den Bretterkisten und Hochbeeten des „Vollguten Gemeinschaftsgartens“ wuchern Sonnenblumen, Büsche und Bäume. Auf Paletten und in Liegestühlen sitzen Leute aus verschiedenen Gegenden der Welt. Auf der kleinen Bühne neben dem Infopavillon beginnt gleich ein Konzert, drei Frauen checken ihren Sound. Die Qualität des Ortes soll in die Zukunft gerettet werden. Die Chancen stehen nicht schlecht: Eine Schweizer Stiftung hat das Fabrikareal gekauft, um es dem Immobilienmarkt zu entziehen.
Das zusätzliche Geld – viermal 1.200 Euro – liegt nun auf Bäckers Konto. Sie hat es bis jetzt nicht angerührt. Jeden Monat kommt derselbe Betrag hinzu. Auf der Oberfläche hat sich nichts geändert. Sie arbeitet weiter wie bisher. Um ihren bescheidenen Lebensstandard zu finanzieren, benötigt sie die Überweisung nicht. Und doch bemerkt Bäcker eine Wirkung: „Das Gefühl ändert sich, ich verspüre weniger Druck.“ Vorher habe sie „manchmal Existenzangst“ gehabt. Nun denkt sie: „Egal was passiert, ich bin aufgefangen. Konkret brauche ich zum Beispiel keine Sorgen mehr zu haben, ob ich mir in dieser Stadt eine Wohnung leisten kann. Das gibt mir Sicherheit.“
Was sie mit dem Geld machen soll, weiß Bäcker noch nicht. Gäbe sie es nicht aus, verfügte sie nach drei Jahren über 43.200 Euro. Das reicht als Eigenkapital für den Kauf einer ordentlichen Eigentumswohnung. Sie könnte auch eine Auszeit nehmen, um eine Doktorarbeit oder ein Buch zu schreiben. Mal sehen, das wird die Zeit zeigen.
Weniger Stress und seltener krank
Dennis Dettmer dagegen hat eine genaue Vorstellung, wozu das Geld gut ist. Erstmal bedient er damit die monatlichen Raten des Kredits. Er brauchte ein neues Auto, kein luxuriöses, nur ein zuverlässiges Fortbewegungsmittel. So erwarb er einen gebrauchten Ford Focus. Nach einem Jahr Grundeinkommen kann Dettmer die 15.000 Euro dann „auf einen Schlag zurückzahlen“.
Der 28-Jährige ist auf den Wagen angewiesen. Als Zeitsoldat arbeitet er bei der Bundeswehr. Regelmäßig pendelt er vom sächsischen Meißen, wo er mit seiner Freundin wohnt, nach Hessen in die Kaserne. „Immer habe ich mir einen Kopf gemacht“, sagt der Feldwebel. Etwa 400 Euro kostet der Sprit im Monat – eine Menge angesichts seines Gehalts von rund 2.000 Euro netto. Damit die Finanzen nicht so knapp sind, absolviert er eine Zusatzausbildung als Versicherungsmakler. Bald will er von seinem heimischen Büro aus die ersten Kund:innen betreuen.
Dank des Grundeinkommens freut sich Dettmer nun über den „etwas höheren Lebensstandard“. Unlängst hat er sich und seiner Freundin ein Fünf-Gänge-Menü im Restaurant spendiert. Der erstaunlichste Effekt der neuen Lebenslage jedoch ist dieser: „Die Zahnschmerzen sind weg, die Kopfschmerzen auch.“ Sein Zahnarzt habe ihm erklärt, dass solche Symptome mit Stress zusammenhängen können, sagt Dettmer. „Jetzt gehe ich ganz anders ran, fühle mich wohler, bin nicht mehr dauernd müde und viel seltener krank.“
Nicht weniger Arbeit, sondern mehr vom Leben
Mittagspause: Elisabeth Ragusa sitzt auf dem Hof der Firma im baden-württembergischen Herbolzheim und scrollt durch die Mails auf ihrem Smartphone. Da ist sie plötzlich, die Zusage vom Pilotprojekt. „Ich habe echt die Gabel fallen gelassen.“ Sofort ruft sie ihre Schwester an. „Beide sind wir vor Freude herumgehüpft.“
Ragusa, 28 Jahre alt, arbeitet als Industriekauffrau in einer Druckerei, die Etiketten, zum Beispiel für Weinflaschen, herstellt. 1.900 Euro netto erhält sie am Monatsende, wovon 800 Euro Fixkosten für Miete, Auto und andere Posten abgehen. Das ist kein schlechtes Einkommen, aber große Sprünge kann sie nicht machen. Schon lange führt sie ein Haushaltsbuch, um zu sehen, wo das Geld eigentlich bleibt. Trotzdem vergingen ganze fünf Jahre, bis sie drei Monatsgehälter als Sicherheitsreserve für Notfälle auf dem Konto angespart hatte.
Mit dem Spielraum des Grundeinkommens hat Ragusa sich jetzt zuerst ein neues Fahrrad gegönnt. Außerdem kann sie ihrer Schwester einen Teil des Führerscheins finanzieren. Der größte Teil der zusätzlichen Einnahmen liegt aber noch auf dem Konto und gibt „Sicherheit, ein schönes Gefühl“. Und dann sagt Ragusa noch diesen Satz: „Warum sollte ich aufhören zu arbeiten?“
Damit kommt sie auf die politische Debatte zu sprechen, die Hintergrund und Anlass für das Pilotprojekt ist. Viele Politiker:innen und Ökonom:innen befürchten, dass die Leute weniger arbeiten, wenn sie nicht auf jeden Euro angewiesen sind. Die möglichen negativen Auswirkungen: Der ohnehin bestehende Mangel an Arbeitskräften nimmt zu, die Steuer- und Sozialeinnahmen sinken, während die Ausgaben für das Grundeinkommen explodieren.
Was Dennis Dettmer und Elisabeth Ragusa berichten, deutet allerdings in eine andere Richtung. Sie wollen ihre Arbeit nicht reduzieren, sondern freuen sich über den höheren Lebensstandard. Sarah Bäcker denkt zwar über eine Auszeit nach, würde diese aber mit einer neuen Form von Arbeit füllen. Freilich sind das zu diesem Zeitpunkt nur allererste, anekdotische Befunde.
Zwei positive Effekte des Grundeinkommens erscheinen jedoch bereits jetzt eindeutig zu sein. Erstens: Einkommen von 1.500 bis 2.000 Euro netto monatlich, die Millionen Arbeitnehmer:innen hierzulande erhalten, werden als knapp bemessen erlebt. Viele Menschen bedrückt ein Gefühl materieller Unsicherheit – trotz, oder gerade weil sie Durchschnittsverdienste beziehen. Und zweitens: 1.200 Euro mehr verschaffen ein Gefühl sozialer Sicherheit. Dadurch nimmt die Lebensqualität erheblich zu.
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