Bahn nicht barrierefrei: Rollstuhlfahrerin fliegt aus ICE

Die Umweltaktivistin Cécile Lecomte wurde mit ihrem Rollstuhl aus dem ICE verwiesen. Sie wollte ihren Platz nicht für einen Kinderwagen räumen.

Zwei hochgeklappte Tische in einem ICE, die Platz schaffen für Rollstühle

Geht doch: Platz für Rollstühle im ICE Foto: Daniel Karmann/dpa

HAMBURG taz | Beamte der Bundespolizei schleifen eine schwarz gekleidete Frau durch einen Eisenbahnwagen: Ein auf Youtube veröffentlichtes Handyvideo dokumentiert, wie die auf einen Rollstuhl angewiesene Umweltaktivistin Cécile Lecomte in Göttingen aus einem ICE geholt wird. In einem auf Twitter veröffentlichten Video fragt sie verzweifelt auf dem Bahnsteig, wie sie nun weiterkommen solle.

Lecomte hatte sich im Zug geweigert, mit ihrem Rollstuhl Platz für einen Kinderwagen zu machen. Die Schaffnerin warf ihr daraufhin vor, sich unkooperativ zu verhalten – und alarmierte die Bundespolizei. Lecomte kritisiert, die Polizisten hätten keine Rücksicht auf ihre krankheitsbedingten Schmerzen genommen; die Bahn habe unverhältnismäßig agiert und komme ihrer Verpflichtung zur Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung nicht nach.

Die Bahn hat zwar seit 2011 vier Programme aufgelegt, die es Menschen mit Behinderung leichter machen sollen, Züge zu nutzen. Trotzdem sehen Betroffenenvertreter wie ­Alexander Ahrens von der Interessenvertretung „Selbstbestimmt Leben in Deutschland“ (ISL) nach wie vor große Defizite. „Es gibt zu wenig Personal, zu wenige Rollstuhlplätze und es fehlt ein Wunsch- und Wahlrecht“, sagt Ahrens. Menschen mit Behinderungen könnten sich eben nicht aussuchen, wann sie reisen wollten.

Nur Platz im Ruhewagen

Der Fall Lecomtes, die sich im Umweltschutz als Kletteraktivistin „Eichhörnchen“ einen Namen gemacht hat, illustriert die Problematik. Als sie in Darmstadt habe zusteigen wollen, sei niemand vom Mobilitätsservice der Bahn am Steig gewesen. Sie habe ihren Einstieg privat organisieren müssen.

Der Rollstuhlplatz im Zug befand sich in einem Ruhewagen. Als sich Lecomte mit ihrem später zugestiegenen Begleiter unterhielt, führte das zu Konflikten mit anderen Reisenden. Nach Auskunft der Bahn schilderte eine Zeugin, Lecomte habe sich im Wagen lautstark über die Bahn beschwert, dass sie schlecht sei und Rollstuhlfahrer ihr mal zeigen müssten, „wo der Hammer hängt“. Eine Mitreisende habe sich über dieses Verhalten beschwert. Lecomte habe sie wüst beschimpft.

Lecomte sagt, sie habe im Ruhebereich mindestens eine Stunde geschlafen. Bei der Auseinandersetzung zum Thema Barrierefreiheit sei sie sicher etwas gereizt und aufgeregt gewesen, „als ich merkte, dass mein Gegenüber unflexibel ist und sich weder für den diskriminierenden Charakter der Situation noch für meinen Gesundheitszustand interessiert und auf formale Dinge pocht“, erzählt sie der taz. Die Kritik daran, dass sie sich mit ihrem Begleiter im Ruhewagen unterhielt, findet sie diskriminierend. „Rollstuhlfahrer haben leider keine Wahl“, sagt Lecomte. „Sie können den Wagen nicht wechseln.“

Eskaliert ist die Situation nach übereinstimmender Darstellung, als eine Frau mit Doppelkinderwagen zustieg und ebenfalls auf den Rollstuhlwagen verwiesen wurde. Lecomte hatte ihren Rollstuhl neben der Toilette abgestellt. Der eigentlich vorgesehene Platz sei zu schmal für den Rollstuhl, wie sie mit einem Foto dokumentiert. Sie legte sich am Rollstuhlplatz auf den Boden, um ihre Schmerzen zu lindern und weigerte sich, für den Kinderwagen aufzustehen. Sie wolle „die Probleme der Bahn, insbesondere der mangelnden Barrierefreiheit, nicht ausbaden“.

Auf taz-Anfrage zitiert eine Sprecherin der Bahn eine Zeugin, Lecomte solle an dieser Stelle „ausgerastet“ sein. Die Zeugin habe „die Dame im Rollstuhl als absolut unkooperativ und beratungsresistent“ beschrieben. Immerhin habe deren Begleitperson dann als Zeichen des guten Willens beim Verstauen des Kinderwagens geholfen. Lecomte zufolge fand sich ein Platz im Fahrradwagen. Diese Lösung führte allerdings nicht dazu, dass der Polizeieinsatz abgeblasen wurde.

„Bittsteller und Störer“

Betroffenenvertreter Ahrens kann die Aufregung Lecomtes gut nachvollziehen. „Durch die fehlende Barrierefreiheit ist die Situation eskaliert“, vermutet er. Wenn er mit seinem 9-jährigen Sohn unterwegs sei, provoziere ein Platz im Ruheabteil Ärger. Der Mobilitäts­service der Bahn sei immer wieder mal gar nicht erreichbar und nicht gut genug ausgebaut. Jährlich lehne die Mobilitätsservicezentrale (MSZ) ein bis zwei Prozent der Anfragen ab, sagt Ahrens.

Menschen mit Behinderung könnten ohne Hilfe nicht zusteigen und sich in den Zügen auch nicht frei bewegen. Die Zustiegshilfen seien aufwendig zu bedienen. „Wir sind immer Bittsteller und Störer“, sagt Ahrens. Dazu komme, dass der Service an den Tagesrandzeiten gar nicht verfügbar sei. „Solange wir keine Zusage bekommen, dass wir zu jeder Zeit im Fernverkehr reisen dürfen, bringen uns diese Lifte gar nichts“, sagt Ahrens.

Die Bahn verwies darauf, dass ihre MSZ 2021 rund 637.000 Hilfestellungen organisiert habe. Die MSZ berate bei der Planung einer barrierefreien Reise. „Zudem rüstet die DB ihre Bahnhöfe, Züge, Busse, Reisezentren, Fahrkartenautomaten und digitalen Plattformen kontinuierlich für einen barrierefreien Zugang weiter aus“, teilte die Bahnsprecherin mit. 79 Prozent der rund 5.700 Personenbahnhöfe seien stufenfrei erreichbar. Pro Jahr baue die Bahn rund 100 Bahnhöfe barrierefrei um.

„Die Vorwürfe der Rollstuhlfahrerin sind für uns nicht nachvollziehbar“, teilte die Bahnsprecherin mit. Trotzdem wolle die Bahn ihr Bedauern zum Ausdruck bringen, dass die Zugfahrt eine solche Entwicklung genommen habe. Denn natürlich hätten Diskriminierung und Hass keinen Platz bei der Bahn.

In einer älteren Version dieses Artikels war im ersten Absatz vom „Bundesgrenzschutz“ die Rede. Dieser wurde jedoch 2005 in „Bundespolizei“ umbenannt. Der Grenzschutz gehört nach wie vor zu ihren Aufgaben.

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