Kriminologe über Polizeischüsse: „Fehlerhaftes polizeiliches Handeln“
Der von Polizisten erschossene Lamin Touray war in einer psychischen Krise. Warum greift die Polizei bei psychisch Kranken so schnell zur Waffe?
taz: Herr Feltes, nach allem, was wir wissen, befand sich Lamin Touray in einem psychischen Krisenzustand, als Polizist*innen ihn am Osterwochenende in Nienburg erschossen. Das trifft auf die meisten in Deutschland von der Polizei getöteten zu. Warum?
Thomas Feltes: Leider haben wir keine genauen Zahlen. Viele Bundesländer erheben nicht mal, wie viele Menschen durch ihre Landespolizei wie und warum getötet werden. Ich schätze, dass zwei Drittel der Polizeitoten in einer psychischen Krise waren, als sie getötet wurden. Eigentlich ist es bei all diesen Fällen immer der gleiche Ablauf.
73, ist Professor für Kriminologie und Polizeiwissenschaft an der Ruhr Universität Bochum.
Wie ist der Ablauf?
Die Fehler bei diesen Einsätzen werden am Anfang gemacht. Zum Beispiel, indem Polizei und Rettungssanitäter sich nicht absprechen. Hinterher ist es oft so, dass tatsächlich eine Notwehrlage besteht, dass die Person etwa mit einem Messer auf die Beamten losgeht oder anderweitig Widerstand leistet. Das ist fast immer ein Ergebnis fehlerhaften polizeilichen Handelns.
Welche Fehler meinen Sie?
Wenn Rettungssanitäter oder Notärzte zuerst bei dem Betroffenen sind, eskalieren die Einsätze deutlich seltener. Wenn sich aber Polizisten in Uniform nähern, fühlen sich die Menschen bedroht. Wird Pfefferspray eingesetzt, eskaliert es schnell. Der Betroffene versteht nicht, was passiert. Er merkt nur, dass er angegriffen wird.
Warum kann die Polizei so schlecht auf psychisch Kranke reagieren?
Für die meisten Beamten liegt die Ausbildung lange zurück. Da wurde das Thema nur kurz in Psychologie und eher am Rande behandelt. Das hat sich zwar mittlerweile verändert, aber es fehlt an praktischen Übungen, auch im Rahmen der Fortbildung. Ein anderer Grund ist, dass die Situationen oft dynamisch sind und die Beamten überfordern. Polizisten wollen ein Problem möglichst schnell und umfassend erledigen. Das ist ein Grundproblem
Wie sollte die Polizei stattdessen vorgehen?
Man braucht zwei Faktoren: Zeit und Distanz. Als Polizist muss ich Abstand zu der Person halten und Zeit gewinnen, um selbst oder über andere mit dem Menschen Kontakt aufzunehmen. In der Literatur nennt man das „talk down“, also jemanden „herunterreden“, mit dem Ziel, dass er die akute psychische Verfasstheit überwindet. Aber das, was die Polizei macht, ist das genaue Gegenteil: Sie geht auf ihn zu.
Wie sinnvoll ist in so einer Situation der Einsatz von Pfefferspray oder Tasern – als milderes Mittel im Vergleich zur Schusswaffe?
Absolut dysfunktional. Die Menschen im psychischen Ausnahmezustand sind zum Teil wie hinter einem Schleier, sie nehmen nicht wahr, dass Pfefferspray angedroht wird. Sie spüren entweder einen starken Schmerz durch den Tasereinsatz oder Atemnot durch den Pfefferspray-Einsatz und reagieren unkalkulierbar.
Dann wird es gefährlich.
Der Einsatz des Taser ist ohnehin gefährlich, weil die Menschen andere Krankheiten oder Leiden haben können und ohnehin schon so aufgeregt sind, dass es leicht zum Herzstillstand kommen kann. Beim Taser besteht außerdem das Problem, dass zwei Haken treffen müssen. Das ist gar nicht so leicht, wenn jemand in Bewegung ist. Wenn nur ein Haken trifft, verursacht das zwar starke Schmerzen, aber es bringt die Person nicht zu Fall.
In Nienburg setzte die Polizei einen Hund ein.
Polizeihunde machen oft einen aggressiven Eindruck und sind darauf ausgerichtet, Menschen zu attackieren. Das führt zur weiteren Eskalation. Aber ich möchte noch mal betonen: Die Fehler werden am Anfang gemacht. Die Polizei weigert sich fast immer, psychologische oder psychiatrische Hilfe oder Unterstützung durch besonders geschulte Beamte abzuwarten. Die Begründung lautet oft, es sei keine Zeit dafür – was Blödsinn ist. Es ist ja meist die Polizei selbst, die aus einer statischen Lage eine dynamische und damit nicht mehr beherrschbare Situation macht.
In Nienburg waren 14 Polizist*innen beteiligt. Warum schaffen es so viele Menschen nicht, einen Mann zu überwältigen, ohne zu schießen?
Grundsätzlich braucht man sechs bis acht Personen, um einen Menschen im psychischen Ausnahmezustand zu überwältigen. Mit der Angst und dem Adrenalin entwickeln die Betroffenen unglaubliche Kräfte. Wenn ein Messer im Spiel ist, gilt für Polizeibeamte der Grundsatz: sieben Meter Abstand. Oft unterschreiten Polizisten in der Hektik des Geschehens die Distanz. Es wäre besser, die Person in einer Ecke zu isolieren, sofern dies möglich ist, damit sie keine Gefahr für andere darstellt, bis das SEK mit Schutzschilden kommt oder ein Psychiater.
In Nienburg hatte wohl die Frau des Betroffenen versucht, die Ambulanz zu rufen, aber stattdessen kam die Polizei.
Rettungskräfte sind angewiesen, auf die Polizei zu warten, wenn eine Gefahr besteht. Diesen Grundsatz sollte man überdenken. Klar: Bei einer Messerstecherei können die Rettungskräfte nicht einfach dazwischengehen. Da muss man warten, bis die Polizei die Situation geklärt hat. Aber eine psychisch beeinträchtigte Person muss man zuerst als medizinischen Notfall betrachten und Hilfe leisten.
Wenn dann doch geschossen wird – warum nicht auf die Beine?
Die Beine zu treffen, wenn jemand in Bewegung ist, ist fast unmöglich. Ziel und rechtliche Voraussetzung des Schusswaffeneinsatzes ist es, eine akute Lebensgefahr abzuwenden. Mit anderen Worten: Wenn geschossen wird, muss ein wirksamer Treffer erfolgen, der den Angriff tatsächlich beenden kann. Es ergibt keinen Sinn, die Schusswaffe als nicht tödliche Waffe einzusetzen. Dafür ist sie untauglich.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott
Autoritäre Auswüchse beim BSW
Lenin lässt grüßen
Pro und Contra Sanktionen gegen Iran
Lauter Druck versus stille Diplomatie
BSW in Thüringen auf Koalitionskurs
Wagenknecht lässt ihre Getreuen auf Wolf los
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft