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Debatte um die SilvesternachtSozialisation raus aus der Tabuzone

Kommentar von Gunnar Hinck

Nach Ausschreitungen zu Silvester warnen die einen vor jungen Männern, die anderen vor Rassismus. Besser wäre, offen miteinander zu reden.

Blick aus einem Berliner Balkon an Silvester Foto: Funke Foto/imago

E s ist paradox: Migration ist eines der wichtigsten gesellschaftlichen Themen in Deutschland. Aber wenn es mal schwierig wird, wie jetzt bei den Silvesterkrawallen nicht nur in Berlin-Neukölln, an denen junge Männer mit Einwanderungsgeschichte doch ziemlich deutlich beteiligt waren, dominiert das Reiz-Reaktions-Schema, das vernünftige Debatten erstickt.

Jens Spahn von der CDU spricht per Ferndiagnose von „ungeregelter Migration“ und „gescheiterter Integration“. Antirassismus-Aktivisten sehen rassistische Hetze, wenn man die Herkunft von Tatverdächtigen nennt. Und die Integrationsbeauftragten der Republik warnen vor Stigmatisierung und sehen soziale Ursachen für die Gewaltexzesse. Die Raketenschießer, die frustrierten Abgehängten.

Es ist der klassische linke Erklärungsansatz: Das Materielle, die soziale Lage erklärt Verhalten. Marxistisch gesprochen: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Natürlich gibt es handfeste Ursachen für Gewalt, schon zigfach durchdekliniert. Der Anteil von Sozialleistungsempfängern in den betroffenen Wohnvierteln ist hoch und damit die Perspektivlosigkeit. Der Anteil von Schulabbrechern ist ebenso hoch, was ein Dauer-Skandal ist und wogegen der Staat viel mehr tun könnte. Wer in der Schule scheitert, häuft Frust an.

Muss man zwingend Silvesterraketen als Schusswaffen gegen Menschen nutzen, weil die Eltern von Hartz IV leben?

Der Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani beklagt zu Recht seit Jahren, dass ausgerechnet in den Vierteln, in denen die besten Schulen nötig wären, oft die schlechtesten Schulen liegen. Und ja, ein Syrer hat auf dem Wohnungsmarkt weniger Chancen als eine Isländerin. Man nennt es Rassismus.

Aber reicht das an Erklärungen? Muss man zwingend Silvesterraketen als Schusswaffen gegen Menschen nutzen, weil die Eltern von Hartz IV leben? Andere Faktoren, wie kulturelle Prägungen oder die Sozialisation durch Herkunft, sind eine Tabuzone in Deutschland, eben weil es leicht ins Ressentiment abrutschen kann. Das ist bedauerlich, denn die Migrationsforschung ist schon längst viel weiter. Natürlich prägt Herkunft. Aber Herkunft ist kein starres Korsett.

Ein konkretes Beispiel: Die Schreckschusspistolen, die massenhaft zum Einsatz kamen. Warum schießen manche arabisch- oder türkischstämmige junge Männer an Silvester gern mit Schreckschusswaffen herum? Weil in ihren Herkunftsländern oder in den Herkunftsländern ihrer Eltern Männer auf Hochzeiten gern Schüsse abgeben, oft auch aus scharfen Waffen. Das zu benennen, ist nicht Rassismus, sondern Sozialanthropologie. In Schwedisch-Lappland gilt man bis heute erst dann als so richtig männlich, wenn man einen Elch erlegt hat. Das kann man aus mitteleuropäischer Perspektive als ebenso bizarr bezeichnen.

Das enge Männlichkeitsbild, das in Berlin-Neukölln oder Hamburg-Wilhelmsburg zu sehen ist, steht in einen seltsamen Kontrast zu sich auffächernden Männlichkeitsbildern insgesamt. Es dürfte einen Zusammenhang geben zwischen einem „Loser“-Dasein (so die Neuköllner Integrationsbeauftragte Güner Balci) und dem Drang, auf der Straße den Macker herauszukehren. Umgekehrt gesagt: Wer auf irgendetwas persönlich Geleistetes stolz sein kann, hat es nicht nötig, sich durch Raketenschüsse auf Passanten mal richtig böse und bedeutend zu fühlen. Soziale Lage und Prägung gehen hier zusammen.

Die Erziehung in muslimischen Familien ist autoritärer, es geht mehr ums Gehorchen, schreibt der Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak seit Jahren (dass es in nicht-muslimischen Familien autoritärer zugehen kann als in manchen muslimischen Familien, ändert nichts an der Tendenz). Jungs haben aber gleichzeitig – anders als Mädchen – viel mehr Freiheiten. Toprak und seine Kollegin Katja Nowacki schreiben in einer Studie für das Bundesfamilienministerium: „Insgesamt besteht in vielen Familien ein inkohärenter Erziehungsstil, der einerseits (…) aus Disziplinarmaßnahmen wie Schlägen besteht, andererseits die männlichen Jugendlichen bereits früh auf eine dominante Rolle vorbereitet, was zu einer Überforderung führen kann.“

Was tun? Helfen könnte, sich von dem bleischweren Dinosaurierwort „Integration“ zu lösen. Es geht erst einmal um geschriebene und ungeschriebene Regeln, die sich eine Einwanderergesellschaft gibt. Miteinander statt übereinander zu reden wäre hilfreich – und nicht nur dann, wenn es spektakuläre Bilder aus Neukölln gibt.

Der Faktor Sozialisation muss endlich aus der Tabuzone geholt werden, damit er nicht weiter rassistisch missbraucht werden kann à la „der Araber ist eben so“. Nur was nüchtern und auf Augenhöhe benannt wird, kann geändert werden. Und dabei sollte auch die Frage gestellt werden, ob es so viel Sinn ergibt, althergebrachte Geschlechterrollen in einer neuen Gesellschaft, in der man lebt, zu konservieren.

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ist Redakteur im taz-Ressort Meinung.
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16 Kommentare

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  • "in einer neuen Gesellschaft, in der man lebt ..." - gerade 'mann' lebt eben häufig ganz und garnicht in einer "neuen Gesellschaft", sondern, und das oft auch noch scheinbar gerne, in einer beschissenen alten. Und das Sichwort 'EINE Gesellschaft' - war es je mehr als Wunsch ? Heute auf jeden Fall nicht.

  • Vielen Dank, Gunnar Hinck, fuer diesen m. E. besten Tag-Artikel zum Thema!

    Gern aber auch diesen hier lesen:

    taz.de/Gewalt-von-...s=Eberhard+seidel/

  • Danke für diesen klugen, differenzierten Kommentar. Er verdient Verbreitung, unter Berliner Politikern ebenso wie unter Bundespolitikern. Naja, etliche Länder ministerInnen dürfen sich auch angesprochen fühlen.

  • "Jens Spahn von der CDU spricht per Ferndiagnose von „ungeregelter Migration“ und „gescheiterter Integration“."



    Hinter CDU müsste ein pop-up liegen, wo die Zeiten der Regierungsbeteiligung dieser Partei sowohl im Bund als auch im BL Berlin runtergerattert werden!

    • @Hugo:

      Was soll an den fehlenden Resourcen des landes berlins für Stradtteile mit hohem Migrationsanteil "geregelt" sein. Was sehen Sie an der immer noch bestehenden Diskriminierung migrantischer Gruppen als erfolgreich an?

  • Es ist wirklich schwer seine guten Vorsätze für das neue Jahr einzuhalten. Ein persönlicher Vorsatz von mir war, mich nicht mehr an jeder zweitrangigen, aufgeblasenen Diskussion zu beteiligen und die allgemeine Hysterie zu ignorieren.

    Dann bekam ich eine Petition gesendet. "Für ein Böllerverbot"-Wegen ein bisschen Krawall.



    Nun geht es mal wieder um Integration und Muslime- Wegen ein bisschen Krawall.

    Als ob verletze Personen an Silvester und Jugendliche die über die Stränge schlagen ein völlig neues und nie dagewesenes Phänomen wären. Nichts daran ist neu, ausser die Bildqualität der Videoaufnahmen vom Smartphone.

    Die Antwort ist so oder so und egal welche Seite die aufgebauschte Online-Debatte gewinnt- "lasst mal irgendwas verbieten"

    • @Alfonso Albertus:

      Was für ein zynischer, menschenverachtender Kommentar.

      Außerdem absichtlich unwissend. "Nichts daran war neu?" Ernsthaft? Seit wann werden denn Rettungswagen absichtlich in einen Hinterhalt gelockt, um dann die Sanitäter anzugreifen? Seit wann werden Feuerwehrleute mit Eisenstangen attackiert?

      "Über die Stränge schlagen?" "Ein bißchen Krawall?"

      Fragen Sie doch mal die Menschen, die dort leben, wie sie diese Verbrechen - um nichts anderes handelt es sich - finden. Die überwältigende Mehrheit wird nicht mit Ihren Verniedlichungen konform gehen.

    • @Alfonso Albertus:

      "Ein bisschen Krawall", wenn die junge Männer den öffentlichen Raum besetzten, andere angreift und Frauen sich dann sowieso nicht auf die Straße trauen? Wir Feministinnen hatten einmal jahrelang 1.Mai-Aktionen mit dem Thema: wir erobern uns die Nacht zurück. Gilt das hier nicht?

  • Danke, danke, danke!

  • Es braucht endlich mal eine kritische Betrachtung des Respektbegriffs, der in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen tradiert wird. Viel zuviel wird über Ausübung von Macht und Sonderrechten definiert.

  • DANKE!!!

    Danke für einen unaufgeregten und intelligenten Kommentar, der sich wohltuend von den "Öl ins Feuer giessen"-Kommentaren abhebt. Leider herrscht allerdings die "Click baiting"-Mentalität in der Presse und Politikern aller Richtungen vor. Umso schöner ist es Gunnar Hinck zu lesen.

  • Es bleibt dann insgesamt nur die Frage: Erklären soziale Benachteiligung, antiquierte Geschlechterrollen, religiöse Prägung (sowie im Artikel vergessen: negative Vorbilder) in ihrem Zusammentreffen die beobachtete Wirkung nicht besser als das rassistische "der Kanake halt"?

    Tatsache ist: Auch unter männlichen Kartoffeln gibt es sozial Benachteiligte mit den gleichen Vorbildern, die sich hier gewaltbereit gezeigt haben. Tatsache ebenso: Unter Reichsbürgern und Neonazis herrschen auch antiquierte Geschlechterrollen, eine "traditionelle Spiritualität" (und es gibt gewaltbereite Vorbilder). Beide Gruppen tendieren erwiesenermaßen zur Gewaltbereitschaft, mehr jedenfalls als unsere Gesellschaft insgesamt.

    Man darf aber niemals (!) mit reiner Statistik für (oder gegen) einen strengen Ursache-Wirkung-Zusammenhang argumentieren; das ist und bleibt Kaffeesatzleserei, im Zusammenhang mit Menschen auch schlicht falsch, weil es jede Entscheidungsfreiheit und jeden individuellen Unterschied negiert.

    Kurzum: Der rassistische Kurzschluss bleibt ein rassistischer Kurzschluss!

  • Sehr guter Artikel. Um mehr geht es mir z.B. auch nicht. Über das sehr komplexe Thema Migration reden zu können, ohne sofort in simple Reiz-Reaktions-Schemata zu verfallen, das wäre schon ein großer Fortschritt. Und wirklich dringend notwendig. Migration ist einfach eine Tatsache, sie findet statt. Und Deutschland ist von gelungener Einwanderung abhängig.

  • Jene die traditionell mit Schreckschusspistolen in die Luft ballern waren nicht das Problem. Auch deren Sozialition nicht. Ein Schuss in die Luft ist kein Schuss auf Menschen, Rettungsdienste, Polizisten. Das sind extrem übergriffige Taten, die sich nicht mit allgemeinen Sozialisationsgedöns erklären lassen.

  • Danke für diesen Artikel der anders als viele hier zuvor in die richtige Richtung geht. Es sind eben nicht „die Migranten“ die hier randaliert haben, sondern junge Männer aus einem muslimisch geprägten Milieu. Davor die Augen zu verschließen weil nicht sein kann, was nicht sein darf hilft niemanden weiter. Es ist gut, dass eine Linke in Deutschland grundsätzlich sensibel ist bei dem Thema, aber es ist schlecht und kontraproduktiv wenn sie durch Verneinung des Offensichtlichen dieses wichtige Thema der Rechten überlässt. Sie tut damit niemanden einen Gefallen, weder der Gesellschaft im Allgemeinen noch „den Migranten“ die ohne jeden Zweifel in ihrer Mehrheit NICHT hinter den Ausschreitungen stehen aber letztlich direkt und indirekt durch Verallgemeinerung darunter leiden. Gut gemeint ist nicht automatisch gut gemacht. Es ist absurd wie Frau Zingher hier in einem andern Kommentar unter anderem patriarchalen Strukturen eine Mitschuld zu geben ohne zu erwähnen, dass diese patriarchalen Strukturen spezifisch der muslimischen Community inhärent ist und eben nicht der Mehrheitsgesellschaft die gemäß einem gängigen Linken Erklärungsmuster immer schuld ist wenn in Sachen Integration offensiv etwas schief läuft. So sehr Ich das Ziel schon verstehe, so sehr ärgert mich die unglaubliche Dummheit zu meinen durch Tabuisierung ließen sich Probleme lösen.

  • Ghettobildung ist n wirkliches Problem, da fängts an und hört nicht auf.

    Klar will man seinen Glaubens- und Kulturgenossen nahe sein, aber wenn man sich dann abschottet (oder abgeschottet wird) hat´s sichs schon mit Multi Kulti.

    Und wenn man nicht offen ist für anderes dann setzt man ein Beispiel für anndere..auf allen Seiten.