Bildungskatastrophe in Deutschland: Schaltet die Gerichte ein!
Wo bleibt die Klage einer Tochter der dritten Einwanderergeneration? Opfer der Bildungspolitik könnten vom Klimakrisen-Widerstand lernen.
A ch, das ZDF. Dass es seinen politischen Bildungsauftrag immer erst gegen Mitternacht erfüllt. So neulich wieder mal Markus Lanz. Zuerst die schlimmen Zahlen: 40.000 Lehrer fehlen. Und die neueste Untersuchung zeigt: Wieder erreicht ein Drittel der Schüler nicht die Mindeststandards in Lesen und Mathematik. Dazu die schlimmen Bilder von morschen Klassenzimmerfenstern; der Sanierungsstau beträgt insgesamt 45 Milliarden Euro.
Dann wird die arme, arme Bundesbildungsministerin vernommen. Knapp vor ihrer Ernennung schrieb sie noch, der Bildungsföderalismus gehöre abgeschafft; im Frühjahr noch stöhnte sie: Was nottäte, wäre eigentlich ein Fridays for Education, wofür sie von einigen Kultusministern scharf gerügt wurde. Bei Lanz stellt sie nun stolz ein „Start-Chancen“-Programm vor, eine Milliarde, na ja, vielleicht auch zwei, für die 4.000 schlimmsten Schulen, eine Viertelmillion also für jede. Davon können die dann die Klos renovieren oder vier Lehrer einstellen – aber erst ab 2024, bis dahin muss das erst noch geplant und vor allem mit den Ländern abgestimmt werden.
Ach, heiliger Erhard Eppler, ehemaliger Bundesentwicklungshilfeminister, du Schutzheiliger aller, die demonstrativ zurücktreten, weil sie ihre Aufgabe nicht erledigen dürfen, die plakativ scheitern und damit für Klarheit sorgen. Es wäre ja schon mal ein schöner Zug, sagt Sascha Lobo, der Zweite in der Runde, wenn Ministerin Stark-Watzinger mal im Bundestag kräftig auf den Putz hauen würde.
Dann verteidigt er die Eltern, deren Lobbykraft nicht für einen Aufstand reicht, weil der ADAC mehr Mitglieder hat als alle Erziehungsberechtigten, die ohnehin überfordert seien mit dem Kleinklein des Alltags. Nein, für gute Schulen zu sorgen, sei die Aufgabe des Staates.
Warum der das nicht tut, bringt der Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani auf den Punkt: Während Experten den Bremsweg diskutieren, stehen die Praktiker schon kurz vor der Wand. Warum nichts passiere? Pädagogisch wissen fast alle, was zu tun ist, aber anders als beim Klima sei die Bildungskatastrophe noch nicht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Es braucht einen Wumms, eine Ansage von ungefähr 100 Milliarden Euro, damit die Bedeutung des Problems, die Dramatik und die Notwendigkeit langfristiger Geldausgaben in die Diskussion kommt.
Denn nur durch viel Geld zeigen Politiker, und verstehen die Bürger, dass etwas wirklich ernst genommen wird. Einen Doppelwumms dürfte es aber kosten, wenn auch nur das jüngste Grundschul-Gutachten der Kultusministerkonferenz ernst genommen würde, und 20 Jahre dürfte es dauern. Zurück in die mitternächtliche talk-Runde. Das Geld zu beschaffen, wäre trotz Schuldenbremse kein Problem, man bräuchte nicht einmal die Kaschierung über Sondervermögen, trug die kluge Ökonomin in der Runde, Philippa Sigl-Glöckner, bei.
Klingt plausibel, kann ich aber hier in Kürze nicht erklären. Schwieriger wird es bei der Frage, woher die Lehrer kommen sollen, wo doch jetzt schon die Hälfte der Lehramtsstudenten spätestens dann, wenn sie mal in einer Schule waren, das Studium abbrechen. Offenbar brauchen wir eben nicht nur eine pekuniäre, sondern auch eine pädagogische Revolution. Auch dafür erinnere ich mich an mehr als genug gute Ideen.
Einschränkung von Lebenschancen
Resümee: Alle wissen, was zu tun ist, aber keiner tut es. Die Parallele zur Klimakatastrophe ist schlagend. Wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir in zehn Jahren eine schlimme Lage erzeugt haben: Unterqualifikation, Wachstumsschwund, Steuerausfall – und Millionen Kinder nicht für ein halbwegs erträgliches und selbstbestimmtes Leben ausgestattet. Die Einschränkung von Lebenschancen aber ist eine Einschränkung von Freiheit – so die Argumentation, mit der das Bundesverfassungsgericht vor zwei Jahren das unzulängliche Klimagesetz der Regierung kippte und das Recht auf „intertemporale Freiheitssicherung“ in die Runde warf.
Möglich wurde das, weil Sophie Backsen von der Insel Pellworm gegen die Regierung geklagt hat: die Unterlassungen in der Klimakrise von heute beschädigten ihre Freiheitsräume in ferner Zukunft. Und sie hat Recht bekommen.
Kürzlich hat das Gericht ein Recht auf den „unverzichtbaren Mindeststandard von Bildungsangeboten“ proklamiert, auf „gleichen Zugang zu Bildungschancen“, welche die „Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu Persönlichkeiten ermöglichen, die ihre Fähigkeiten und Begabungen entfalten und selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben können“. Das ist zum einen eine Aufforderung an Lehrer und Bildungsforscher, mal zu definieren, was für humanistische Exportweltmeister „unverzichtbar“ ist. Das kann dauern.
Aber da mit jedem Jahr Bildungschancen zerstört werden: Wo bleibt die Klage einer aufgeweckten 13-jährigen Tochter der dritten Einwanderergeneration aus Essen-Altenessen oder des dreijährigen Sohns einer alleinerziehenden Mutter aus München-Milbertshofen: für eine Schule, die in Ausstattung, Standards und Lehrer-Schüler-Quote der besten Schulen des Landes nicht nachsteht? Wenn die parlamentarischen Prozesse im Parallelogramm der gelähmten Kräfte verharren – vielleicht hilft ja die Besinnung auf ein paar Werkzeuge der politischen Aufklärung: die Gewaltenteilung und das Verfassungsrecht.
Bildung statt Rosenheim-Cops
Wegen der Bildungshoheit der Länder müssten 16 solcher Klagen oder auch ein paar mehr in koordinierter Weise bei allen Landesverfassungsgerichten eingereicht werden. Am besten von höchstqualifizierten Verfassungsrechtlern, die von den Elternverbänden, den Gewerkschaften, dem BDI und dem BDA finanziert werden.
Und wenn das nichts nützt, sehen wir weiter. Und das ZDF? Ach ja, das könnte solche Umbauprozesse doch mal zur besten Sendezeit verfolgen. Jeden Dienstagabend, statt „Rosenheim-Cops“ oder „Inga Lindström“: die intertemporale Freiheitssicherung im Programm. Markus Lanz, können Sie nicht mal übernehmen?
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