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Die Russen und der UkrainekriegSupermacht statt super Yacht

Kommentar von Wladimir Kaminer

Putin genießt die Aufmerksamkeit seit Beginn des Ukrainekriegs. Reichsein allein war ihm zu langweilig. Der dumme Westen versteht es nur nicht.

Der Kreml interessiert viele Russen so wenig wie Burkina Faso Foto: panthermedia/imago

Z u Beginn meiner literarischen Karriere in Deutschland kündigte nicht selten die eine oder andere Regionalzeitung augenzwinkernd meine Lesung mit dem Spruch „Die Russen kommen“ an. Damals in den Neunzigern hatte man vor Russen keine Angst, höchstens vor russischer Mafia, aber nicht vor russischer Armee.

Die Brandenburger geben oft ihren Hunden und sogar ihren Autos russische Namen. Mein Nachbar Werner hatte seinen Hund Jurij genannt, nach seinem Brieffreund, den er noch aus der sozialistischen Zeit kannte. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine traut sich Werner nicht mehr, seinen Hund in der Öffentlichkeit mit Namen zu rufen, weil gleich die ganze Straße nach ihm guckt.

Der andere Nachbar Karl nannte seine Lada Niva „Putin“, den Namen fand er lustig. Er ist mit dem Auto nach München gefahren, Enkelkinder besuchen. Die Enkel erzählten in der Schule, der Opa kam mit Putin aus Brandenburg zu Besuch, danach musste die ganze Schule beinahe evakuiert werden. Und überall, wo ich nun zur Lesung hinfahre, fragen die Menschen mich, was mit den Russen los sei, warum sie so an ihrem Putin hängen.

Den Umfragen zufolge wird der Präsident, je nachdem wie man die Frage stellt, von 70 bis 80 Prozent der Befragten unterstützt. Das Hauptproblem bei diesen Umfragen ist, dass nur sehr wenige Menschen daran teilnehmen. Dieses Problem ist in jedem Land bekannt, überall haben die Menschen Besseres vor, als Fragen von Fremden zu beantworten.

Wladimir Kaminer

wurde 1967 in Moskau geboren und ist seit dem Jahr 1990 Berliner. Der Schriftsteller („Russendisko“, „Militärmusik“) lebt mit seiner Familie in Prenzlauer Berg.

Das entpolitisierte Volk

Doch die russische Bevölkerung hat in ihrer Abneigung gegen die Fragebögen einen Weltrekord aufgestellt. 95 Prozent der Befragten wollen die Fragen nicht beantworten. Das sind also 80 Prozent von 5 Prozent, die ihren Präsidenten unterstützen.

Warum schweigen die anderen? Das Land führt Krieg, es ist im Notzustand, jede kritische Meinung wird als feindliche Aktion, als Heimatverrat bewertet und kann mit bis zu 15 Jahren Knast bestraft werden. Der Bevölkerung in Russland ist jede Kontrolle über das Handeln der politischen Führung entglitten, es gibt weder freie Medien noch bürgerliche Institute, die ihnen Gehör verschaffen. Und wenn sie nichts wirklich ändern können, ziehen sie es vor, darüber zu schweigen.

Ein entpolitisiertes Volk, das ums Überleben kämpft. Die russische Wirtschaft, die der naive Westen zu schwächen, gar zu vernichten versucht, existiert nämlich nicht. Deswegen haben die Sanktionen auch keine Wirkung. Man kann nicht eine Wirtschaft kaputtmachen, die es nicht gibt. Das Geld in der Staatskasse kommt nicht aus der Wirtschaft, sondern direkt aus der Erde durch Verkauf von fossilen Rohstoffen, die als Abfallprodukte aus toten Pflanzen und Tieren von allein entstehen.

Das Geld kommt quasi für umsonst. Was der Staat damit macht, entscheidet allein der Präsident. Die Menschen sind auf sich selbst, auf ihre Gärten und kleine Jobs angewiesen, sie sind mit dem nackten Überleben beschäftigt. Das kennen sie von früher und sind daran gewöhnt.

Es hat nichts mit ihrem Leben zu tun

Russen auf der Straße zu fragen, was sie von der Politik des Kremls halten, ist das Gleiche, als wenn man in Deutschland Passanten fragen würde, was sie von der Regierung in Burkina Faso halten. Die meisten hierzulande wissen, dass es dort eine Regierung gibt. Was sie genau macht, muss man nicht wissen, es hat nichts mit unserem Leben zu tun.

Für die Russen ist der Kreml Burkina Faso. Es war schon vor dem Krieg so, nun bringt die Angst vor der Ausbreitung des Krieges den Westen dazu, eine große Taschenlampe auf Russland zu richten. Die Führung genießt die Aufmerksamkeit. Sie fühlt sich begehrt und gleichzeitig in ihrer Verachtung dem Westen gegenüber bestätigt.

Aus russischer Sicht ist der Westen dumm, er kann sich noch immer keinen Reim auf den Krieg in der Ukraine machen. Der Westen denkt rational und sucht immer nach Gewinn. Weiß Putin selbst, was er von der Ukraine will? Die Ziele des Angriffs wurden immer wieder neu definiert. Anfangs sollte die russischsprachige Bevölkerung geschützt werden, nun wurde diese Bevölkerung mit großer Mühe weggebombt.

Eine Zeit lang brachte Putin den Regierungswechsel in der Ukraine als Kriegsziel zur Sprache, dann wollte er die ganze Ukraine denazifizieren, später nur die Hälfte und jetzt gar nicht mehr. Die Nato sollte sich nicht erweitern, am nächsten Tag war die Nato plötzlich egal. Danach kam die schlaue Botschaft, er will Land gewinnen, um mit ukrainischem Territorium sein ohnehin größtes Land der Welt noch größer zu machen. Der Westen versteht das nicht.

Putins Lieblingsrolle als Weltenmacher

Was will er mit der kaputten, zerschossenen Ukraine? Ohne fossile Rohstoffe? Die neueste Expertise sagt, er will sich von der Welt abschotten, die Armee der Globalisierungsgegner anführen, dafür hatte er den Krieg begonnen, damit der Westen ihm den Rücken zeigt.

Laut seinen geheimdienstlichen Informationen ist der Westen nämlich am Ende, die Globalisierung ist gescheitert, liberale Demokratien müssen ihre Wähler mit Wohlstandsversprechen schmieren, wenn sie wieder gewählt werden wollen, und das macht sie schwächer als Diktaturen, die sich um nichts dergleichen scheren müssen. Putin gefällt sich in der Rolle des Weltenmachers. Reich sein, das hatte er schon, es war auf Dauer langweilig, „Supermacht statt super Yacht“ lautet die neue Parole.

Das Problem dabei ist, er wurde wieder von seinen Geheimdiensten falsch informiert. Der Westen ist nicht am Ende, Globalisierung ist nicht gescheitert, fossile Rohstoffe werden durch neue Technologien ersetzt und bleiben in der Erde, mit toten Pflanzen, Tieren und Diktatoren. Demokratie wird sich als fortschrittlicheres Modell weiterentwickeln, um die Menschen außerhalb der goldenen Milliarde mit in die Zukunft zu nehmen.

Demokratie kann man bloß nicht exportieren, sie ist kein Werkzeug zur Veränderung der Gesellschaft, sondern ein Produkt ihrer Entwicklung. Demokratien sind wie Gurken, manche reifen früher und die anderen später, man muss nur Geduld haben und zeitig gießen.

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42 Kommentare

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  • Der ökologische Fußabruck ist im internationalen Vergleich wahrscheinlich ähnlich wie der CO2-Fußabdruck. Bei Wikipedia sieht das



    in etwa so aus:



    de.wikipedia.org/w...-Emission_pro_Kopf

    Leider nichts neues. Hier eine Rede von Olof Palme dazu aus dem Jahr 1972:



    www.youtube.com/watch?v=0dGIsMEQYgI

    Wer Reich ist in Ost und West schädigt das Klima mehr.



    www.oxfam.de/ueber...a-doppelt-so-stark

  • Na da können wir ja noch hoffen, dass aus der lupenreinen Gurkenrepublik, mit Ihren Gurkentruppen dann irgendwann in der Zukunft doch noch was reift...

  • Warum klingt die Entschuldigung, dass all die einfachen Leuten gar nicht so genau wussten was die da oben an der Macht so alles wollten und taten, dass Protest ja nicht so einfach möglich und überhaupt Befehlsnotstand war in deutschen Ohren nur so vertraut?

    • @Ingo Bernable:

      "Ihr wart ja nicht dabei damals, ihr könnt das gar nicht beurteilen!"

  • Entschuldigung die Frage in den Raum, aber was ist eigentliche "der Westen" und "der Osten"?

    Ob Oligarchen mit Yachten und Immobilien in Megacities oder Superreiche auf Urlaub oder Geldjagd im Weltall oder Metaverse gute Freude in der Politik- und Mediengeschäft haben wie Putin, Trump, Bolsonaro, Le Pen, Mohammed Bin Salman usw. usw. ist doch egal - ist doch das gleiche in Ost und West und die Leute dieser Insiderklicke kennen sich doch auch schon unter einander.



    Mir kommt es so vor, als wäre "der Westen" und "der Osten" nur nützliche Kategorien der superreichen Eliten mit denen die Menschen dieser Welt sich gegen einander identifizieren und dann bekämpfen sollen statt gemeinsam soziale und ökologische Gerechtigkeit und Stabilität einzufordern.

    • 9G
      95820 (Profil gelöscht)
      @Nilsson Samuelsson:

      „Mir kommt es so vor, als wäre ‚der Westen‘ und ‚der Osten‘ nur nützliche Kategorien der superreichen Eliten mit denen die Menschen dieser Welt sich gegen einander identifizieren und dann bekämpfen sollen statt gemeinsam soziale und ökologische Gerechtigkeit und Stabilität einzufordern.“



      Gut zusammengefasst. Wie sieht es aus mit dem ökologischen Fußabdruck „im Westen“ und „im Osten“?



      Es war und ist gefährlich, dem Kapitalismus (aka „demokratischer Westen“) die Zähne zu zeigen.



      taz.de/Lumumbas-Goldzahn/!5859516/

      • @95820 (Profil gelöscht):

        Der ökologische Fußabruck ist im internationalen Vergleich wahrscheinlich ähnlich wie der CO2-Fußabdruck. Bei Wikipedia sieht das

        in etwa so aus:

        de.wikipedia.org/w...-Emission_pro_Kopf

        Leider nichts neues. Hier eine Rede von Olof Palme dazu aus dem Jahr 1972:

        www.youtube.com/watch?v=0dGIsMEQYgI

        Wer Reich ist in Ost und West schädigt das Klima mehr.

        www.oxfam.de/ueber...a-doppelt-so-stark

  • Das Raumschiff Erde ist in akuter Seenot. Ich glaube nicht, daß die Demokratie westlich, egoistisch-kapitalischer Prägung die Lösung sein kann. Ohne "Kapitän" (Weltregierung) geht die Menschheit unter. "Freiheit" ist schön und gut, aber letztlich eine Illusion. Weil der Planet nicht mit der Bevölkerung wächst und nicht einmal Elon Musk in den Weltraum fliehen kann, werden die individuellen Freiheiten zwangsläufig kleiner, zumal die Ansprüche an Livestyle und Wohlstand wachsen. Der "Bürgerkrieg" zwischen Russland und Ukraine macht das Dilemma deutlich. Nicht Putin , Kim Yong Un, Trump, Assad oder Erdogan sind das Problem. Wir alle müssen die drei Gifte von Arroganz, Dummheit und Gier überwinden, die unser Leben mehr oder weniger bestimmen.

  • Ist schon erstaunlich, was der Autor so alles weiß, was die Menschen in Russland denken und wie und warum sie handeln, die Kriegsziele als auch den Geisteszustand von Putin, was die Geheimdienste so an Putin weiterleiten uns was ihn überhaupt so antreibt (selbstverständlich ohne irgendeine Quellenangabe). Da bleibt eigentlich nur über, dass er Putin jeden Tag trifft und dieser ihm alles erzählt, was so gerade angesagt ist.

  • "Demokratien sind wie Gurken, manche reifen früher und die anderen später, man muss nur Geduld haben und zeitig gießen."

    sehr beruhigend, mir aber zu teleologisch. manche gurken reifen auch gar nicht, weil sie schlicht die saison verpasst haben. in der welt gäbe es noch einige gurken zu reifen, hoffen wir, dass die saison der demokratie nicht vorbei ist.

  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    „fossile Rohstoffe werden durch neue Technologien ersetzt [….] um die Menschen außerhalb der goldenen Milliarde mit in die Zukunft zu nehmen.“ Herr Kaminer, sind Sie der Ghostwriter von Robert Habeck?



    aporpos golden..Wir nehmen alle(s) mit. taz.de/Lumumbas-Goldzahn/!5859516/

    • @95820 (Profil gelöscht):

      Schonn. Nur ist die Ironie Habie nicht bewußt .•

    • @95820 (Profil gelöscht):

      Man könnte das Zitat durch weitere Auslassung noch weiter verfälschen: "fossile Rohstoffe [...] in die Zukunft zu nehmen". Liebes Schaf sind Sie im Pelz Ghostwriter von Pu Ping ?

      • 9G
        95820 (Profil gelöscht)
        @Rudolf Fissner:

        „Man könnte das Zitat durch weitere Auslassung [noch weiter] verfälschen“ Das Original steht ja direkt drüber. Ich habe es nur „bis zur Kenntlichkeit entstellt“ ( © Lowando).



        Das Lesen früher Bücher von W. Kaminer hat mir viel Spaß gemacht. Er war ein toller Beobachter und Erzähler mit erfrischender Lakonie. Ich hatte ihn in letzter Zeit nicht mehr wahrgenommen.



        Hier schreibt er was fast alle schreiben – und was die meisten erwarten. Ich finde das wohlfeil.

  • Eigentlich hat außer Putin so gut wie niemand ein Interesse an dem Krieg. Weder der allergrößte Teil der Russen..und die Ukrainer schon gar nicht.

    Würde Putin "kurzfristig ausfallen" wäre der Krieg innerhalb von 3 Tagen vorbei und die russischen Truppen würden sich zurück ziehen..

    Insofern dreht sich das ganze Drama eigentlich nur um Putins Ego.

    Wir können mittlerweile davon ausgehen, dass er eine psychopathische Charakterstuktur hat. Was bedeutet er hat kein echtes Selbstbewusstsein. In ihm ist vor allem Leere und Langeweile. Um um das zu zu kompensieren, muss er andere Menschen oder Völker unterdrücken, vernichten (Putinsprech.!!), ermorden, Wegsperren, zerstören - also quasi aussaugen.!! - so jedenfalls ticken Psychopathen: Manipulation ist deren Lebensinhalt..

    Leider folgt aus dieser Analyse auch, dass Putin, egal was passiert immer neue Opfer braucht. Und solange er über die Macht verfügt, wird er folglich immer wieder Kriege gegen Länder führen, in denen Menschen über echtes Selbstbewusstsein verfügen, bzw. dabei sind sich dieses zu erkämpfen.

    Von daher ist neben einer fortlaufenden Unterstützung der UA auch von besonderer Bedeutung, sich von Putins Tricks nicht täuschen zu lassen und sich nicht von ihm manipulieren zu lassen.

    Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen.!!

    • @Wunderwelt:

      Naja, mit diesen psychologisierenden Erklärungsansaetzen kann ich nicht viel anfangen (obwohl ich zuweilen selbst dazu neige😉). Vor allem, wenn sie dazu neigen, die Ursachen sowie die Verantwortung für Gewaltherrschaft und Kriegsverbrechen ausschließlich auf den “großen Diktator” und vielleicht noch seine engere Führungsclique zurückzuführen. Kennen wir das Muster nicht aus unserer eigenen deutschen Geschichte?



      Kaminer hat’s doch treffend beschrieben, wie die russische “Seele” hinsichtlich der Einstellung zu ihrer Obrigkeit tickt … weniger Hurra-Patriotismus als vielmehr Gleichgültigkeit findet sich da. Das mag schon fast symphatisch klingen, zugleich liegt darin aber das Problem hinsichtlich der uneingeschränkten Machtfülle Putins in Russland und der Haltung der russischen Bevölkerung zum Krieg in der Ukraine.



      Und schließlich bedurfte es nicht allein des Willens eines eiskalten, skrupellosen Führers, die Mordmaschinerie in Gang zu setzen, sondern auch vieler “ehrbarer” Eisenbahner, die nur ihre Arbeit taten, um die die Züge nach Auschwitz zu fahren, korrekte Bürokraten, Arbeiter in den Rüstungsfabriken usw. … ist das in Russland anders als in Deutschland?

      • @Abdurchdiemitte:

        Ich kann Ihrer Argumentation gut folgen.

        Natürlich ist immer eine ganze Gesellschaft von nöten um einen Krieg zu führen. Ich sehe auch die Besonderheiten der russischen Kultur mit all der Unterdrückung, die (leider!) herausragende Rolle der repressiven Geheimdienste, etc..

        Aber man darf auch nicht vergessen, dass Russland in der Zeit von und nach Gorbatschow schon einmal einen anderen Kurs eingeschlagen hatte. Putin hat das alles wieder komplett zurück gedreht. Insofern ist die Persönlichkeit Putins dann doch von entscheidender Bedeutung, wenn man verstehen will wie die neuerliche Regression Russland vonstatten gehen konnte.

        Insofern erklärt Putins Psyche sicher nicht das ganze Geschehen, aber ohne einen psychologischen Blick auf Putin ist die Dynamik einfach nicht nachvollziehbar.

        Und by the way...ich glaube das die momentan grassierende Naivität unter den (immer noch-) Putinverstehern aus einer naiven Verkennung von Putins Persönlichkeit resultiert.

        • @Wunderwelt:

          Wenn in einer Gesellschaft etwas gehörig schief läuft - wie zweifelsohne in der russischen - schaue ich mir natürlich zuerst die gesellschaftlichen Verhältnisse dort genauer an sowie die historischen und politischen Entwicklungen, die zu diesen Verhältnissen geführt haben … insofern betrachte ich das Ganze mehr aus soziologischer als aus psychologischer Perspektive. Und komme deshalb zu dem Schluss, dass all die Probleme, die wir im Westen derzeit mit Russland haben - inklusive des Überfalls auf die Ukraine - früher oder später sowieso aufgetreten wären, unabhängig davon, ob der politische Führer nun Putin oder anders heißt. Deshalb kann ich dieser ganzen Diskussion, wer denn letztlich “Schuld” an diesem Krieg sei - Putin oder die NATO - nur wenig abgewinnen … man muss da wohl sämtliche Entwicklungen und alle verpassten Chancen seit 1991 in den Blick nehmen. Und nein, das soll jetzt keine Relativierung der zahlreichen russischen Kriegsverbrechen unter Putins Ägide sein.



          Und Gorbatschow - weil Sie ihn erwähnten - war im eigenen Land eben nur ein König ohne Land … seinem Abgang hat in Russland niemand auch nur eine Träne nachgeweint. Was ihn stark gemacht hat, waren lediglich die westlichen Projektionen auf Reformen und Demokratie für die russische Gesellschaft. Im Grunde wollte er selbst nur den Druck vom Kessel der “realsozialistischen” Gesellschaften nehmen, Glasnost und Perestroika sind also eher als noch dazu missglückter “Befreiungsschlag” Gorbatschows zu interpretieren, als Versuch, vom Sozialismus zu retten, was zu retten ist … ob er die gesamte Dynamik seiner Reformpolitik bis hin zum Zusammenbruch der Sowjetunion und der daraus resultierenden Folgen erkannt und richtig eingeschätzt hat, erscheint zumindest mir fraglich. Auch etwas, was im Westen nie richtig verstanden wurde.



          Insofern könnte man auch postulieren, Gorbatschow wäre schuld an dem Krieg in der Ukraine, da er schließlich “den Stein ins Rollen” gebracht habe … ist natürlich genau so Nonsens.

    • @Wunderwelt:

      Ja, sehe ich im Großen und Ganzen genauso. Wenn Putin etwas als Sieg verkaufen kann, erhöht das die mittelfristige Gefahr nur weiter.

      "Würde Putin 'kurzfristig ausfallen' wäre der Krieg innerhalb von 3 Tagen vorbei und die russischen Truppen würden sich zurück ziehen."

      Ab es so einfach wäre, ist unklar. Es haben sich so viele in der Umgebung Putins mitschuldig gemacht an dem Zerstörungskrieg, dass sich möglicherweise andere unter dem Zwang sehen, dieses ebenfalls um jeden Preis fortzuführen.

      Hier kann man aber nur spekulieren.

  • Nein, Demokratien sind nicht wie Gurken. In diesem Sinne..."Demokratie heißt, jedermanns Sklave sein zu dürfen" ( Karl Kraus)

  • Sehr taugliche Analyse bis - leider - zu dieser abschließenden Meinung..." Der Westen ist nicht am Ende, Globalisierung ist nicht gescheitert, fossile Rohstoffe werden durch neue Technologien ersetzt und bleiben in der Erde, mit toten Pflanzen, Tieren und Diktatoren. Demokratie wird sich als fortschrittlicheres Modell weiterentwickeln, um die Menschen außerhalb der goldenen Milliarde mit in die Zukunft zu nehmen.

    Demokratie kann man bloß nicht exportieren, sie ist kein Werkzeug zur Veränderung der Gesellschaft, sondern ein Produkt ihrer Entwicklung. Demokratien sind wie Gurken, manche reifen früher und die anderen später, man muss nur Geduld haben und zeitig gießen"...



    Demokratie und Kapitalismus ergänzen sich bestens. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben! George Bonmiot meint, dass der Kapitalismus scheitern wird..." Das Scheitern des Kapitalismus erwächst aus zwei seiner bestimmenden Elemente. Das erste besteht in permanentem Wachstum. Wirtschaftswachstum ergibt sich zwangsweise aus dem Streben nach Kapitalakkumulation und Extraprofit. Ohne Wachstum bricht der Kapitalismus zusammen, auf einem endlichen Planeten führt permanentes Wachstum aber zwangsläufig in die ökologische Katastrophe"... Der Punkt ist nur, dass die konsumistisch-kapitalistische Lebensform nur in einer sogenannten Demokratie, von Demokratieoligarchen gefördert wird. Das Problem ist dabei nur, dass das Ausmaß an wirtschaftlicher Aktivität (Stichwort Globalisierung) - durch sogenannte demokratische Prozesse - so lange zunimmt..." bis der Kapitalismus alles durchdringt, von der Atmosphäre bis zum Meeresgrund, wird der gesamte Planet zu dem Bereich, der geopfert wird – und wir alle bewohnen die Peripherie der profitmachenden Maschine"...Ein Großteil des Wohlstands - vor allem "demokratischer" reicher Nationen gründet sich auf Sklaverei und koloniale Enteignung und später dann globaler Resourcenausbeutung.

    • @Struppo:

      Demokratie und Kapitalismus ergänzen sich bestens. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben!



      Den Satz verstehe ich nicht ganz. Ist das ein (ironisches)Zitat. Meine Ansicht ist das Kapitalismus auch ohne Demokratie funktioniert. Sogar besser. Bestes Beispiel ist China. Der Kapitalismus boomt einerseits,andererseits greift die Regierung auch immer wieder ein,um die Kontrolle zu behalten. Dabei spielt natürlich neben (halbwegs rationalen )Machtinteressen, auch Korruption eine Rolle.

    • @Struppo:

      Da liegt schon viel an Wahrheit drin.

      Ich habe aber nunmal lieber Demokratie als keine Demokratie.

      Von daher müssen dem Kapitalismus sinnvolle Regeln auferlegt werden. Leider sind wir da immer zu langsam bzw. gerade in den 90ern/00ern, aber auch wieder bei Bankenrettung/Eurokrise wurden dem genannten Wachstum immer mehr dieser beschneidenden Regeln geopfert.

      • @Co-Bold:

        Kann Ihre Hoffnung gut verstehen..."sinnvolle Regeln..." Aber bitte bedenken Sie: Wer soll diesem System mit sinnvollen Regeln begegnen? Den/die Retter*in wird es nicht geben. Angesichts der Faktenlage schöpfe ich den Verdacht, ein volkverdummendes Virus greift um sich. Wie sagte doch einst Berthold Brecht: "Erst kommt das Fressen, dann die Moral". Die Menschen wollen Sicherheit und Wohlstand. Der Autoritarismus kommt heute als Konsum- und Verbrauchsterror daher, dem fast niemand mehr ausweichen kann und vor allem soll. Erich Fromm spricht von der "anonymen Autorität". Man muss es ganz krass formulieren: Demokratie ist hilfreich, weil sie das Wettrüsten um den Konsum fördert. Unter diesem Aspekt kann Demokratie keine Berreicherung für eine solidarische Gesellschaft sein. Selbst die demokratischen Feigenblätter werden welk.

        • @Struppo:

          Wie ungefähr soll denn Ihre "solidarische Gesellschaft" ohne Demokratie aussehen?

  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    „Demokratien sind wie Gurken, manche reifen früher und die anderen später,“ Ja. Und die, die früher reifen, werden eher schlecht. Oder sie werden ( r)eingelegt.

  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    „Demokratien sind wie Gurken, manche reifen früher und die anderen später,“ Ja. Und die, die früher reifen, werden eher schlecht. Oder sie werden ( r)eingelegt.

  • 6G
    657022 (Profil gelöscht)

    Ja, sehr schön ausgedrückt. :-)

    Köstlich amüsiert habe ich micht beim Vergleich der Demokratien mit Gurken. Da freue ich doch zukünftig lieber, wenn wieder mal eine Gurkentruppe des Weges kommt. ;-)

    • @657022 (Profil gelöscht):

      Gurkentruppe … ja, ein schönes Bild eigentlich, auch mit Blick auf die Unzulänglichkeiten demokratischer Gesellschaften. Ob das Kaminer mit seiner Gurken-Metapher auch im Sinn hatte?



      Auf alle Fälle lieber von Gurken regiert als von “harten F … ern” wie Wladimir Putin.

  • 0G
    03998 (Profil gelöscht)

    Wir können uns bei unseren Politikern bedanken, die jahrelang Putin hoffiert haben. In ihrer grenzenlosen Naivität haben sie unsere Abhängkeit von Russland herbeigeführt, obwohl Putin nie ein Blatt vor den Mund genommen hat, wenn es um seine Absichten ging. Und was die russische Bevölkerung angeht, wenn die Falle ersteinmal zugeschnappt hat, gibt es kein entrinnen mehr. Für die Russen bleibt die bittere Erkenntnis, dass die liberalen Demokratien Putin bei jedem Schritt hin zur Diktatur unterstützt haben. Ein paar Sanktionen aber Nordstream2 wurde trotzdem gebaut und für seine Hasstiraden gegen den Westen wurde ihm jede mögliche Bühne gegeben - kein Wunder, dass Putin sich als Weltenlenker sieht. Entscheidend beteiligt am Aufbau seines Egos waren einige deutsche Politiker, die wohl jedem bekannt sein dürften.

    • @03998 (Profil gelöscht):

      Da Sie von Abhängigkeit von Russland schreiben: Hinsichtlich lebenswichtiger Medikamente ist Deutschland total abhängig von China und Indien, da die meisten dort produziert werden. Das stört bisher aber wenig - außer wenn es Lieferkettenprobleme gibt. Vielleicht müsste man noch mehr als nur die Energieversorgung umbauen.

    • @03998 (Profil gelöscht):

      Es waren und sind doch nicht nur Politiker. In den letzten Monaten habe ich in zahlreichen Gesprächen mal wieder demonstriert bekommen, welche Gräben noch zwischen West- und Ostdeutschen bestehen. Fast alle Ostdeutschen scheinen sich für Russlandexperten zu halten (und zwar für bessere und versiertere als Polen, Esten, Letten, Litauer und Ukrainer, obwohl die Ossis in der Regel nun mal wirklich maximal einen russischen Brieffreund hatten, zum großen Teil damals aber Angst und Misstrauen gegenüber den staatlich verordneten "Freunden" hegten) und fast alle schienen zu glauben, man könne, ja, müsse irgendwie mit Putin reden. Dass man es nur versuchen müsse, und der eigentlich voll okaye Onkel Wanja, der an sich ja nur ein etwas vom Westen gereizter gemütlicher Bär sei, kehre zur Vernunft und wir in die alte deutsche Bequemlichkeit zurück. Dass nach der Ukraine das nächste Land dran sein wird, wurde mehrfach emphatisch zurückgewiesen - was mich stets an das "Also das ist doch absurd!" von Wagenknecht drei Tage vor der Invasion erinnerte. Was überhaupt nicht wahrgenommen wird, zumindest nicht von denen, die ihre gesamte Schulbildung in der DDR genossen haben, ist der zutiefst faschistoide Charakter des russischen Systems.

      • 0G
        03998 (Profil gelöscht)
        @Suryo:

        Also die Erfahrung habe ich auch gemacht - es gibt wohl einen Teil der ostdeutschen Bevölkerung, für die Putin der Betrogene ist und die USA der Aggressor. Ist für mich nicht nachvollziehbar.

      • @Suryo:

        nimm mir alles nur nicht meine Vorurteile. Die Wessis haben es also mal wieder besser gewusst. richtig?

        • @ingrid werner:

          Ich schrieb nur von meinen Erfahrungen. Ich habe auch gegenteilige, aber das sind eben Einzelfälle.

          Warum, meinen Sie, sind sich gerade die "Ost-Parteien" Linke und AfD so auffällig einig im Hinblick auf Russland? Zufall?

          • @Suryo:

            darauf schließe ich, dass ihre Erfahrungen mit Ostdeutschen auch eher Einzelfallcharakter haben. Sie vergessen, dass es in AfD u Linke auch jede Menge Leute aus dem Westen gibt, das Geld kommt zumindest bei der AfD nicht nur aus Moskau sondern auch von irgendwelchen Unternehmern, die u.a. in der Schweiz sitzen, die Angst um ihr Geld haben oder vor Muslimen, Grünen usw., und denen Demokratie, soziale Gerechtigkeit usw egal und sie für ihre Interessen auch zu Opfern bereit sind. Auch die anderen bundesdt. Parteien haben sehr lange Handel, politischen u kulturellen Austausch mit Russland als strategisch wichtig erachtet – und dafür die Ukraine, Georgien u Moldawien links liegen gelassen. Dafür gab es auch von russischer Seite mit Sicherheit jede Menge Anreize. Wie leicht auch CDU- Abgeordnete dafür empfänglich sind oder SPDler zeigt sich nicht nur an Schröder oder an den Affären rund um Aserbaidschan. Dieses Land wird primär- ausweislich aller Studien- nicht von Ostdeutschen geleitet. Und trotz aller Warnzeichen- Tschetschenien, Georgien, Syrien u Ukraine wollte man nicht die Konsequenzen daraus ziehen, im gesamten Westen, nicht nur in Dtl. Und jetzt sollen es die Ossis u Frau Wagenknecht gewesen sein, die nie in irgendeiner Regierung saß. Offensichtlich ist der ganze Westen gerade nicht mit strategischen Talenten gesegnet, deshalb konnte Putin erst soviel Aktionsspielraum gewinnen.

            • @ingrid werner:

              Deswegen schreibe ich oben doch: nicht nur Politiker. Es ist doch nicht so, als unterschieden die sich in ihrer Haltung zu Russland vom Rest der Bevölkerung. Und deswegen wurde eben auch nicht auf Warnungen gehört.

      • 6G
        655610 (Profil gelöscht)
        @Suryo:

        Bitte nicht pauschalisieren. Ich bin in der DDR geboren, dort zur Schule gegangen, hab dort studiert und finde mich in ihrem Pauschalurteil trotzdem nicht wieder.

        • @655610 (Profil gelöscht):

          Nun sind wir hier ja auch unter taz-Lesern. Es gibt zwar unter den Kommentator_innen ein paar Putinisten, aber die Foren sindbei weitem noch nicht ganz so durchseucht wie die auf SPON oder ZON - ganz zu schweigen von den Kommentaren auf den FB-Seiten der BILD.

          Meine Erfahrung ist, dass viele ältere Ostdeutsche jetzt den in der DDR üblichen Gebrauch des Wortes "Frieden" reaktivieren. Frieden hier, Frieden da, Kundschafter des Friedens, Berlin-Hauptstadt des Friedens. Hauptsache, Frieden. Und "Faschismus" ist gemäß DDR-Lehre eben nur die Endform des Kapitalismus und das Schlimmste an ihm ist, dass er im Krieg endet - nicht in erster Linie, dass er Unterdrückung, Hass und Entrechtung bringt und die völlige Unterordnung des Individuums unter den Staat verlangt. Ich hab mehrfach gehört "Das geht uns alles nichts an! Die Ukraine soll uns nicht in den Krieg hineinziehen!" Dass wir als Deutsche aus unserer Geschichte die Lehre gezogen haben sollten, Totalitarismus, Unterdrückung des Individuums und Faschismus aktiv zu bekämpfen, und sei es, wenn sie im russischen Gewand daherkommen, ist da nicht so verbreitet. Die staatliche DDR-Lehre aus der Geschichte war eben immer nur "Frieden".

  • sehr schön geschrieben Danke

  • Tapfere, schlagfertige Replik von Kaminer. Aber man merkt schon, dass Putin, mögen seine Ziele noch so konfus sein, einen Erfolg erzielt hat. Von einem strategischen Disaster bislang keine Spur. Stattdessen ist der Westen mit seinen Sanktionen schwer angeschmiert. Indien und China sind wirtschaftlich noch näher an Russland herangerückt und brauchen die angeblich unerschöpfliche Innovationskraft des Westens, die Kaminer hier trotzig heraufbeschwört, nicht zu fürchten.

  • Tja, besser hätte ich das auch nicht formulieren können. Weiter so.