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Kontroverse um kulturelle AneignungDas Feuilleton darf nicht kneifen

Um Jeanine Cummins Thriller „American Dirt“ ist eine Debatte um kulturelle Aneignung entbrannt. Diese sollte ernst diskutiert werden.

Ein langer Weg zur Diskussion: Eisenbahn­strecke an der Route mexikanischer Flüchtlinge Foto: Alessandro Grassani/Agentur Focus

Als zu Beginn des Jahres das erste Strohfeuer der Kontroverse über den Roman „American Dirt“ im deutschsprachigen Feuilleton aufloderte, da war das Buch auf Deutsch noch gar nicht erschienen. Trotzdem erfuhr das Publikum erstaunlich viel zur Autorin Jeanine Cummins und ihren Thriller über die Flucht einer mexikanischen Mutter und ihres kleinen Sohnes vor einem gewalttätigen Kartell.

Gerahmt wurde die Debatte hierzulande vor allem als ein weiterer Fall im Kampf von Kunst gegen Identitätspolitik. In der Süddeutschen Zeitung hieß es: „Weil die Autorin des Romans aber keinen lateinamerikanischen Hintergrund hat, sondern eine weiße Amerikanerin ist, und ihr Buch von einer überwiegend weißen Verlagsbranche für ein überwiegend weißes Publikum in Position gebracht wurde, häuften sich kurz nach Erscheinen des Buches identitätspolitische Einwände.“

Diese Rahmung wurde im Titel des entsprechenden Artikels in der Zeit auf den Punkt gebracht: „Darf sie das?“ Verbunden war dieses Framing der Diskussion als Verbotsdebatte mit einem gewissen Unmut darüber, dass diese Debatte überhaupt existiert. Der Artikel in der Welt, der fast exakt den gleichen Titel trägt („Darf die das“), endet mit den Worten: „Aber warum müssen wir solche Debatten über Literatur überhaupt führen?“

Als „American Dirt“ im April auf Deutsch erschien (Rowohlt, aus dem Amerikanischen von Katharina Naumann, 560 Seiten, 15 Euro), flammte die Kontroverse erneut auf. Die Argumente und die Intensität der Genervtheit haben sich aber kaum verändert. Im Spiegel wurden die streitenden Parteien gar apodiktisch in ein liberales und ein illiberales Lager eingeteilt. Illiberal fand man die Kritik an Cummins offenbar auch beim Focus. Dort wurden die Gründe für die Proteste als „schräg und unfair“ bezeichnet: „Es ist der in den USA gerade sehr gängige Vorwurf der ‚kulturellen Aneignung‘: Wer nicht aus Jamaika stammt, solle keine Dreadlocks tragen; wer nicht aus Japan kommt, keinen Kimono anziehen; und wer kein Flüchtling ist, nicht über Flüchtlinge schreiben.“

Angebliche Absurditäten

Ein angebliches Verbot weißer Dreadlocks wird auch im Spiegel genannt, dazu der Protest gegen Sushi auf dem Speiseplan einer Mensa in den USA. Man hat den Eindruck, dass die Debatte über den Roman sich vor allem in eine inzwischen gut bekannte Fallgeschichte einreiht, die die angeblichen Absurditäten der Political Correctness auf besonders grelle Art veranschaulichen soll. Dabei handelt es sich etwa bei der lieb gewonnenen Geschichte vom Sushi­protest um eine mehr als fragwürdige Legende, wie Adrian Daub letztes Jahr in einem Artikel in der FAS gezeigt hat („Selber Snowflakes!“, FAS 19. 11. 2019).

Aber in der deutschen Diskussion geht es auch nicht um die konkrete Komplexität von Einzelfällen, sondern um die ab­strak­te Simplizität einer Prinzipiendiskussion.

Für solche Grundsatzdiskussionen eignet sich der Skandalimport aus den USA in besonderer Weise, weil die kulturelle und räumliche Distanz zu den skandalisierten Fällen sie zum perfekten Spielmaterial einer Kontroverse macht, in der es von Anfang an darum geht, die Gegenmeinung als absurd zu verabschieden. Dazu gehört auch der leicht entgeisterte Ton vieler Texte aus diesem Umfeld wie etwa in der Zeit, wo ungläubig gefragt wurde: „Kann ich noch tollpatschig zu Rap tanzen, oder verhöhne ich damit die Sklaverei?“

Standardisiertes Sprechen

So entsteht ein standardisiertes Sprechen über das extrem komplexe Problem der kulturellen Aneignung. Die anekdotische Evidenz sehr unterschiedlicher Phänomene (Dreadlocks, Kimonos, Sushi, Tanzen, Literatur) wird zu einem diskursiven Strohmann zusammengestoppelt, den man dann halb entnervt, halb genussvoll erledigen kann. Es entspricht dann fast einer Form von emotionaler Ehrlichkeit, wenn der Kommentar im Stern mit den Worten endet: „Wer ‚American Dirt‘ atemlos durchgelesen hat, möchte den Authentizitätswächtern, noch mit gelesenem Geschmack von Reis, Tortillas und Wüstensand im Mund, zurufen: Selbst wenn es ein Eskimo geschrieben hätte, es hat mich durchgewühlt!“

Egal, wie man sich zu diesen Themen positioniert, sie haben es verdient, ernst genommen zu werden

Die Aufzählung und Vermischung angeblicher kultureller Verbote im Dienst der immergleichen Diskussion darüber, was man heute überhaupt noch darf, bezeichnen einen unbefriedigenden Status der intellektuellen Auseinandersetzung über die wichtigen Fragen nach dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik. Allein die Tatsache, dass über dieses Verhältnis erbittert gestritten wird, zeigt seine gesellschaftliche Relevanz. Egal, wie man sich zu diesen Themen positioniert, sie haben es verdient, ernst genommen zu werden: als ein gesellschaftliches Bedürfnis nach theoretischer Reflexion. Literaturwissenschaft und Feuilleton sind aufgerufen, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Eine solche Debatte müsste damit beginnen, dass sich alle Beteiligten eingestehen, dass es sich um extrem komplexe Probleme handelt – Probleme, die vor allem faszinierende und produktive intellektuelle Rätsel darstellen. Was der Debatte unter anderem fehlt, ist eine gewisse Dankbarkeit darüber, dass die Gegenwart noch immer über solche literaturtheoretischen Zankäpfel verfügt.

Ein produktiv rätselhafter Umstand wäre zum Beispiel, dass die Frage nach der ästhetischen Qualität auch die ethische Einschätzung eines Textes zu beeinflussen scheint. Die Kritiken aus den USA, die jetzt als Beispiele für einen antiliterarischen Tugendrigorismus genannt werden, waren ja akribisch und boshaft auf die ästhetischen Probleme von „American Dirt“ ausgerichtet.

Ethik und Ästhetik

Und auch in der deutschen Diskussion wurde die Qualität des Buches thematisiert, hier aber vor allem zur Verteidigung des Buches. Das gilt nicht nur für den Kritiker des Stern, der sich das Gefühl, von der Erzählung „durchwühlt“ worden zu sein, nicht nehmen lassen möchte, sondern auch für den Autor der Welt, der die Prosa in „American Dirt“ als „makellos“ bezeichnete.

Lässt sich aus dieser eigentümlichen Vermischung ästhetischer und ethischer Urteile ableiten, dass künstlerische Hochwertigkeit möglicherweise Transgressionen anderer Art kompensieren kann? Wäre die kulturelle Aneignung von Cummins als weniger skandalös wahrgenommen worden, wenn sie ein besseres Buch geschrieben hätte? Vielleicht hat man es gar nicht mit einer Darf-sie-das-Debatte zu tun, sondern mit einer eine Kann-sie-das-Debatte.

Das führt zu der nächsten großen theoretischen Herausforderung: Was bedeutet Ästhetik überhaupt? Man hat zuweilen den Eindruck, das, was als moralischer Anspruch einer angeblichen Political Correctness die Kunst bedroht, sei extrem überbestimmt; wohingegen das, was mit Kunst gemeint sein könnte, ziemlich vage erscheint.

Man sollte die Kontroversen über den angeblichen Gegensatz von Kunst und Moral nutzen, um die Verwobenheit dieser beiden Konstrukte neu zu untersuchen. Ethisches und ästhetisches Versagen liegen näher beieinander, als man denkt. Es gehört ja auch zum täglichen Brot der Literaturkritik, Klischees anzuprangern, das heißt aber auch, den Text an einer Realität zu messen, die er darstellen möchte.

Konventioneller Thriller

Allerdings ist nicht jede Form von Literatur in gleicher Weise dazu verpflichtet, Klischees zu vermeiden. Hier verbindet sich die Frage nach dem Zusammenhang von Ethik und Ästhetik mit der Frage nach dem Genre. Die Prosa von „American Dirt“ ist natürlich nicht „makellos“, sondern wenn überhaupt routiniert. Es handelt sich um einen kompetent erzählten konventionellen Thriller, mit durch die Luft pfeifenden Patronen und sinister Hühnchen schmatzenden Bösewichten. Das an sich ist – wie die Beliebtheit des Genres zeigt – offenbar kein Problem.

Es wäre aber die Aufgabe einer ethischen Gattungsreflexion herauszufinden, bei welchen Themen es erlaubt ist, daraus einen Thriller zu machen, und bei welchen das zu öffentlicher Empörung führen wird. Daran wiederum lassen sich eine ganze Anzahl an literatursoziologischen Fragen anschließen: Wer profitiert finanziell? Wie steuern die Institutionen des literarischen Lebens den Zugang zur Sichtbarkeit? Inwiefern wird Identität als Ressource im Dienste der Autorinszenierung eingesetzt?

All diese Fragen, die im Bereich der Literatur zu den wichtigsten unserer Zeit gehören, werden allerdings nicht dadurch beantwortet, indem man genervt abwinkt oder die immer gleichen Argumente und Fälle wiederholt. Was die Debatte braucht, ist mehr Ratlosigkeit und weniger Sicherheit, mehr Neugier und weniger Aggressivität.

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35 Kommentare

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  • "Cultural appropriation. The term alone leaves many people primed for offense. Unfortunately, as a tool for policing behavior, the concept makes little sense. It implies that extant cultural differences are precious and worth preserving at great cost; that cultural artifacts can be owned; that the bounds of ownership break cleanly along racial lines; and that the value of minority cultures is somehow contingent upon how members of dominant cultures treat them. The first claim is clumsy and misguided—an understanding of culture reveals the latter two to be both false and pernicious. "

    in:



    Zane Beal:"Stop Stigmatizing Cultural Appropriation"

    areomagazine.com/2...ral-appropriation/

  • Der französische Komponist Claude Debussy hatte erstmals 1898 die Gelegenheit, auf der Weltausstellung in Paris ein javanisches Gamelan-Ensemble zu hören. Debussy hat diese damals in Europa so gut wie unbekannten Klänge in sich aufgesogen und sie haben ihn angeregt zu einigen meisterhaften Kompositionen, die zu den schönsten des muskalischen Impressionismus gehören, ja sie haben überhaupt sein ganzes Schaffen als Komponist tief beeinflusst (siehe hier: www.nmz.de/artikel...ocken-des-gamelan).

    Gehören diese Stücke und überhaupt die Musik Debussys jetzt auf den Index und dürfen nicht mehr gespielt werden?

    Mozart greift in seinem Singspiel "Die Entführung aus dem Serail" den Stil der türkischen "Janitscharen-Musik" auf (die Türken waren ja 100 Jahre vorher vor Wien zurück geschlagen worden), überhaupt dreht sich dieses Singspiel komplett um orientalische Sujets.



    Gehört dieses Singspiel nun auf den Index und von den Opernbühnen verbannt??

    Beethoven greift in seinem Schaffen immer wieder Elemente der sog. französischen Revolutionsmusik auf, seine Oper "Fidelio" übernimmt sogar fast gänzlich den Inhalt einer französischen Revolutionsoper.



    Müssen Beethovens Werke nun um diese Elemente gekürzt werden?

    Fragen über Fragen ...

    Waren die Zeiten besser, als hierzulande alles nichtarische verdammt, verfemt und ausgemerzt wurde, und das "reinrassige arische" als das einzig wahre propagiert wurde, auch und gerade in der Kunst (A. Breker) ????

    Definitiv nicht!

    Kunst, ja Kultur lebt vom Austausch, von der Begegnung der Kulturen. Die Ergebnisse können und müssen, nicht immer das Niveau von Mozart, Beethoven, Debussy und vergleichbaren haben, beileibe nicht, sondern können auch schon mal banal oder kitschig sein.

    Das müssen wir aushalten für die Freiheit und Offenheit der Kunst, die Freiheit und Offenheit der Gesellschaften!



    Beides gehört untrennbar zusammen.

    • @jlMG:

      Tippfehler-Korrektur: die Weltausstellung war 1889, nicht 1898.

  • Die Diskussion um "dürfen" oder "nicht dürfen" ist alarmistisch und versucht den Diskurs in bestimmte Richtungen zu verschieben. Sie durfte und sie hat.



    Auch bei besagter Mensa in den USA ist nicht das FBI angerückt und hat Klebreis und Wasabipulver beschlagnahmt.

  • Literatur soll neue Horizonte eröffnen. Wenn eine weiße Frau das schafft bei einem weißen Pubikum, das zum großen Teilen einen "kulturell originären" Titel nicht kaufen oder erst recht nicht lesen würde, weil ihm alles darin fremd ist - dann finde ich es wertvoll, dass es solche Bücher gibt.



    Die Avantgarde wird sicher auch durch Original-Texte von Mexikanern arbeiten, die viel echter sind.

    Es sind eben 2 paar Schuhe.

    50cent und erst Recht Eminem haben sich auch etwas "angeeignet" und massenkompatibel gemacht. Trotzdem sind ihre Texte für viele Hörer ein Schlüssel, eine andere Sicht auf Probleme zu bekommen, die sie selbst nicht kennen. Und diese Leute würden NIE original-Rap aus einem Schwarzen-Viertel hören, der nicht einmal einen Plattenvertrag bekommt.

  • Translations from the Wokish

    A Plain-Language Encyclopedia of Social Justice Terminology



    Cultural Appropriation

    "One problem with the concept of cultural appropriation is that it is a very Western concept and is not often shared by members of the cultures allegedly being appropriated. Asian people, in particular, both East and South, are likely to regard the use of Asian dress, food, and music positively as a compliment on their cultures, not a form of theft. (This attitude often extends to first-generation immigrants to Western countries from Asia as well, but it frequently reverses in second-generation ones.) At the root of what this difference in attitude exposes is the fact that the question of whether something is cultural appropriation or cultural appreciation is highly subjective. Under the Social Justice approach, the winner of any such disagreement is often declared to be whoever is most offended.



    Objections to cultural appropriation often miss their targets as well, given the subjective nature of cultural appreciation. For example, the objection that white people are appropriating aspects of culture that they have previously been scornful of or prejudiced against disregards the likelihood that these were almost certainly different white people.



    The concept of cultural appropriation can become very limiting when applied to the world of art which it frequently is. Cultural sharing has always been central to the vitality of art, but as more and more styles, artifacts, and tropes become identified as belonging to a certain culture, artists have to work hard not to offend. There is also the concern that some aspects of culture can be very useful. We veer into the worst of the silliness when it is argued that white people have no business in practicing yoga for flexibility or learning Spanish for travel or work.”



    newdiscourses.com/...from-the-wokish/#C

  • In der Liste fehlt noch Justin Timberlake, der vor zwei, drei Jahren einen gewaltigen Shitstorm abbekam.

    Sein identitäspolitisches Verbrechen: Er hatte auf Twitter geschrieben, dass ein bestimmter schwarzer Musiker ihn stark beeinflusst hat!!!

    Schöne, neue Welt....

  • Warüm Identitätspolitik im neoliberalen Machtgefüge so nützlich ist, dazu haben u.a. Adolph Reed Jr. und Walter Benn Michaels alles Wesentliche gesagt:

    www.commondreams.o...-other-not-so-much

    www.chicagoreader....ntent?oid=24418522

  • Das Grundproblem der ganzen Debatte: ein unveräußerliches individuelles Menschenrecht, nämlich die Freiheit des Ausdrucks und der Kunst, wird hier im Gegensatz zu einem vermeintlichen Kollektivrecht einer "community" gebracht. Solche Kollektivrechte gibt es nicht, ihre Existenz werden aber immer gerne behauptet, wenn es z.B. um "Herabwürdigung des Türkentums" in der Türkei, "Beleidigung der polnischen Nation", "Beleidigung des Islams" in Pakistan und diversen anderen Ländern etc. pp. geht. Die Debatte um cultural appropriation hatte ursprünglich, als es um Nutzung bestimmter kultureller Ausdrucksformen durch Weiße zwecks Profits ging, ihre Berechtigung. wenn z.B. ein französischer Couturier die Muster einer westafrikanischen Ethnie bei seinen Entwürfen nutzt, sie dabei ihrem Sinnzusammenhang entreißt und die Kleider am Ende gekauft werden, ohne dass a) Geld an die Urheber der Muster in Afrika fließt und b) die Kundinnen nie auf den Gedanken gekommen wären, die Kleider direkt in Afrika zu kaufen, die Muster also erst nach Verwertung durch einen Weißen "akzeptabel" und hochwertig werden. DAS ist kulturelle Appropriation, wie sie eigentlich gemeint ist. Mittlerweile tut die Debatte aber so, als könne jede Art der kulturellen Beeinflussung und Adaption oder auch nur kurzzeitige Verwendung, aber selbst jede Beurteilung von irgendetwas kulturellem illegitime und verurteilenswerte Aneignung sein. Das behauptete Kollektivrecht von (real nie klar definier- und abgrenzbaren) Kulturen steht dann in der Konsequenz plötzlich über Individualrechten wie der Kunst- oder Meinungsfreiheit.

    • @Suryo:

      Oder, wenn Pharmakonzerne Indigenen ihr Wissen um die medizinische Verwendung und Wirkung bestimmter lokaler Pflanzen abluchsen, um aus der Vermarktung der Wirkstoffe riesigen Profit zu schlagen. Oder, noch derber, wenn sich Agrarkonzerne das Erbgut von Nahrungspflanzen patentieren lassen, um dann die Züchter und Nutzer dieser Pflanzen selbst zur Kasse zu bitten, bzw. zu zwingen.



      Ganz genau.



      Entsprechend ist viel weniger interessant, ob an dem symbolischen Aneignungskram nu was dran ist oder nicht, als die Frage, warum eigentlich dieser Wer-darf-was-sagen-Quatsch und nicht die Dinge so heiß diskutiert werden, bei denen es tatsächlich um beinharte materielle Aneignung und Ausbeutung geht.

  • Alles Gut. Elizabeth George schreibt keine Inspector-Lynley-Romane mehr, Edgar-Wallace-Filme werden verboten und das ZDF hört endlich auf Rosmunde Pilcher zu verfilmen.

    Kulturelle Aneignung? - Mon cul !

    • @Carine Salazar:

      Nicht vergessen: Keine Oktoberfeste in Lederhosen und Dirndl mehr in den USA!

      • @Adam Weishaupt:

        Nein, nein, das würde nicht unter kulturelle Aneignung fallen.

        Es wird nämlich ein hierarchisches Verhältnis, eine Marginalisierung der Gruppe, deren Kultur man aneignet, vorausgesetzt.

        Wenn die Sioux ein Oktoberfest mit Dirndl und Lederhosen veranstalten, wäre das der Theorie nach völlig in Ordnung.

        Veranstalten die Münchner hingegen ein Pow wow, wäre das kulturelle Aneignung in Reinformat.

        Allerdings gibt es bei der Beurteilung der Marginalisierung offenbar eine gewisse Unschärfe.

        Hier sei an den Aufschrei beim Grand Prix erinnert, als die israelische Künstlerin einen Kimono trug. Werden Japaner im Mittleren Osten marginalisiert? Haben jemals Israelis oder Juden Japan kolonialisiert?

        Vor ein paar Jahrzehnten kämpfte Japan in einer Phase nationalen Größenwahns im Schulterschluss mit Nazi-Deutschland auf grausame Art um Hegemonie. Die israelische Sänger wäre zu dieser Zeit in Auschwitz oder Treblinka umgebracht worden. Heute hat Japan einen Wohlstand, von dem Israel noch träumt.

  • Cultural Appropriation - Wenn Weiße sich darüber aufregen dass andere Weiße über fremde Kulturen schreiben.

    Das ist wie wenn Männern abgesprochen wird sich zu Frauenthemen zu äußern.

    Unnötig und falsch. Wer das Buch nicht lesen will soll es lassen, ansonsten bekommt das Buch durch Empörungswellen im Netz auch noch ordentlich Publicity.

  • Anstatt ziemlich lang darüber zu lamentieren, dass man ja wohl noch über kulturelle Aneignung in der Literatur diskutieren dürfte bzw. sollte, hätte der Autor besser mal sagen sollen, was er denn nun konkret von dem Buch hält oder auch von kultureller Aneignung allgemein. - Oder wollte er sich nicht anmaßen, als deutscher Mann über eine amerikanische Autorin zu schreiben?

  • Die Übernahme kultureller Codes, Stoffe und Techniken ist- nun ja -selber eine Kulturtechnik die in sehr vielen Kulturen nachweisbar ist.



    In einer Welt, die sich dem Ziel verpflichtet fühlt Kulturalismus und Rassimus abzuschaffen dürfen selbstverständlich alle Menschen alle kulturellen Stoffe und Techniken nutzen.



    Das heißt konkret: der Kenianer darf Kimono tragen, der Japaner Beethoven singen und der Deutsche Rasta tanzen.



    Kultur ist aus meiner Sicht nicht denkbar ohne Austausch und gegenseitige Befruchtung. Wer etwas anderes will landet aus meiner Sicht früher oder später bei völkisch rassistischem Getümel.



    Natürlich muß auch über die Sichtbarkeit von POC in der Kulturzenen gesprochen werden. Aber anhand von Hautfarbe oder Geburtsort zu entscheiden wer welche kulturelle Leistung erbringen darf und wer nicht ist aus meiner Sicht halt einfach nur rassistisch und rückwärtsgewandt

  • 0G
    01209 (Profil gelöscht)

    Das unwichtigste Thema, das ich mir vorstellen kann. Wer‘s nicht mag, kauft das Buch nicht oder isst eben kein Sushi, Döner, Pizza oder Falafel in Deutschland.

  • Das einzige Argument des Autors, dass dieser Diskurs Relevanz hat, ist, dass er geführt wird. Ich glaube nicht, dass die Gesellschaft über jedes Stöckchen springen sollte, das ihr hingehalten wird.



    "Es wäre aber die Aufgabe einer ethischen Gattungsreflexion herauszufinden, bei welchen Themen es erlaubt ist, daraus einen Thriller zu machen, und bei welchen das zu öffentlicher Empörung führen wird."



    Soll das heißen, sobald sich jemand in unserer Empörungskultur über ein Buch empört, darf es nicht geschrieben werden? Dann können wir Kunst und Literatur abschaffen.

  • “ Die anekdotische Evidenz sehr unterschiedlicher Phänomene (Dreadlocks, Kimonos, Sushi, Tanzen, Literatur) wird zu einem diskursiven Strohmann zusammengestoppelt”

    Aber eben auch von der anderen Seite. Das ursprüngliche Konzept ging noch von der monetären Verwertung bestimmter kultureller Phänomene durch Weiße aus. Speziell in den USA ist die Diskussion aber mittlerweile so ausgeufert (man vergleiche die bedeutungsverschiebung der Wörter “liberal” und “conservative”, die jetzt kampfbegriffe und Synonyme für “alles nicht rechte” und “rechts” geworden sind), dass ein zumindest im



    Internet entfesseltet Shitstorm wegen “cultural appropriation” aufgrund von Sushi an der Mensa absolut denkbar ist. Dass speziell Japaner den Europäern in Sachen Unterdrückung anderer Gruppen bei gleichzeitiger Übernahme westlicher kultureller Ausdrucksformen (Kleidung, Architektur, etc) seit Ende des 19. Jahrhunderts in nichts nachstanden und japanischstämmige Amerikaner (echte Japaner stört Sushi in westlichen Mensen meist überhaupt nicht) dann eventuell doch keinen so wichtigen Grund hätten, sich aufzuregen, würde dann wieder geflissentlich ignoriert...

  • Es gab mal eine Zeit, in der Literatur als Kunst galt. Es gab eine Zeit, in der man sich vom Pöbel dadurch distinguierte, dass man Werk und Autor trennte..... Autoren nahmen sich das Recht heraus zu sagen, dass ihr Werk allein aus ihnen selbst entsprungen sei, ohne Einfluss der Verhältnisse. Ich erinnere an Tolkien, der weit von sich wies, dass Sauron und Mordor von den Nazis beeinflusst waren.



    Man sollte sich mal überlegen, wie wenig Literatur es gäbe, wenn die rigiden Vorstellungen des Artikels tatsächlich umgesetzt werden. Kunstfreiheit können wir dann nur noch von Ferne im Dunst der angeblichen Political Correctness ausmachen. Bücher der Weltliteratur müssten zu Hauf indexiert werden. Die Unterschiede zwischen Prosa und Sachbuch scheinen irrelevant geworden zu sein. J.K. Rolling und Marion Zimmer Bradley sollten die Anhänger der kulturellen Aneignung bitte ganz schnell erklären, wen sie alles "verhöhnen" mit ihrer ungebührlichen Phantasie und erst Proust! Mit seinen tausendseitenlangen Frechheiten.... und bitte sprechen wir nicht von Victor Hugo, wie konnte er es wagen, über die Elenden zu schreiben?!

  • Diese Debatte ist im Ansatz völlig verfehlt.



    Es ist keine kulturelle Aneignung sich in andere Lebenslagen hineinzuversetzen und aus ihrer Perspektive zu erzählen.



    Es gibt keine Eigentumsrechte an Kultur.



    Kultur und Identität sind fließend.



    Universelle Ziele müssen es sein, um in sozialen Bewegungen der Unterdrückung und Herrschaft ein Ende zu setzen.



    Sprachen wandeln sich: Kisuaheli enthält Elemente des Arabischen, Rumänisch enthält Elemente des Türkischen. Jede Purifizierung wäre völkisch.



    Im Gegenteil: die weltweite Vermischung ist kosmopolitisch.



    Der berechtigte Protest sollte sich gegen die Geschichtsverfälschung richten: sämtliche Western in der US-Filmindustrie sind aus weißer Perspektive und blenden die Vertreibung der Indianer aus.



    Es ist wichtig, dass sich die soziale Basis eine politische Idee aneignet.



    Es kommt immer auf die Aneignung an! So viel Aneignung wie möglich - das ist Empowerment!

    • @nzuli sana:

      "sämtliche Western in der US-Filmindustrie sind aus weißer Perspektive und blenden die Vertreibung der Indianer aus."

      Nein, das ist pauschalisierend.



      Sicherlich gibt es viele Western aus den 50er und 60er Jahren, die das ausblenden - sofern es überhaupt um Indianer geht. Es gibt aber reichlich Western, die die Vertreibung und den Rassismus gegenüber den Ureinwohnern thematisiert. Selbst wenn sie von Weissen gedreht wurden. Als positive Beispiele wären da GERONIMO von Walter Hill oder DER MIT DEM WOLF TANZT von Kevin Costner. Selbst in den 60ern, die ja eher rassistsich geprägt waren, gab es Western mit kritischen Elementen wie CHEYENNE AUTUMN von John Ford.



      Ich kenne leider keinen Western, der die amerikanischen Ureinwohner thematisiert und der von einem inszeniert wurde.

  • Es geht doch um Klischees versus Selbstausdruck einer Gruppe. In Deutschland schreiben ständig Heteros über Homos. Wenn einmal ein Homo an die Feder darf, schreibt der noch klischeehafter als alle Heteros zusammen. Das Problem lässt sich nur durch Vielfalt lösen, nicht durch Verbote.

  • Was ist jetzt schlimmer? Privilegierte Weiße, die in der Stimme unterprivilegierter Ethnien platte Thriller für ein überwiegend weißes Publikum schreiben, oder Mitglieder diverser Ethnien, die ihre Identität für ein überwiegend weißes Publlikum zu literarischem Ethnokitsch verwursten? Die interessantere Frage ist eigentlich, wer das warum liest.

    Und noch kurz zur kulturellen Aneignung. Problematisch ist die, wenn struktureller Rassismus dazu führt, das Weiße Profit in einer Weise aus ethnischer Kultur schlagen, die den Hervorbringern dieser Kultur verwehrt ist. Also wenn Bob Dylan black traditionals als Eigenkomposition ausgibt und damit durchkommt und abkassiert (im Gegensatz zu schwarzen Bluesern, die das auch gemacjht haben, aber selten mit finanziellem Erfolg).

  • naja ... OK, ich vermeide ab jetzt jede kulturelle Aneignung, versprochen.



    Jedenfalls dann, wenn Asiatische BesucherInnen fortan gefälligst Kimono tragen und afrikanische Personen ihre eigene Tracht und damit aufhören, sich die westliche Mode kulturell anzueignen.



    Indianer in Jeans geht gar nicht, und Türken tragen gefälligst die Tracht eines Reitervolkes, keine Zweireiher.



    Ach, das ist jetzt rassistisch ? Echt, habe ich fast vermutet. Musste ja so kommen.

    Meine Fresse, wie sowas langweilt.

  • Kulturelle Aneignung zeigt die gleichen denkstruckturen wie die der ethno plurallisten. Kritik sollte sich nicht an Ethnien richten, sondern an Inhalt. alles andere wäre rassismus.



    Emphati oder Kultur kennt keine Grenze und die verschmelzung von Kulur ist zu befürworten und nicht verhindern.

  • Ich habe dieses Konzept noch nie verstanden.

    Es schreibt strenge Grenzen zwischen verschiedenen Kulturen oder kulturellen Gruppen fest. Es gibt also kein Crossover, keine zumindest nachhaltige Beeinflussung der einen auf die andere Kultur.

    Weil das ja Aneignung wäre.

    Und was wahrscheinlich noch schimmer ist, es verbindet etwa den Japaner mit dem Kimono und dem Sushi, den Rastafari mit den Dreadlocks. Ob sie wollen oder nicht.

    Es mutet an wie ein Sammelalbum der Völker aus den 20er-Jahren.

    Emanzipatorisch wäre es doch zu fordern, dass diese Unterschiede keine Rolle mehr spielen sollen. Natürlich gibt es rassistische Grenzziehungen und so weiter.

    Aber es sollte doch darum gehen, zumindest zu fordern, alle Grenzen aufzuheben, anstatt sie immer kleinteiliger auszudefinieren.

    • @Jim Hawkins:

      Wenn Heteros über ihre Schriften/Filme/Artikel schwule Subkultur definieren - die taz zB schreibt immer nur über schwule Saunen und nie über die Probleme nach 30 Jahren Beziehung oder Einsamkeit, obwohl dies schwules Leben nachhaltiger prägt als Saunen, in die ja nur ein Bruchteil geht - dann vermittelt das ein falsches Bild. Lässt sich prima auf Indigene und Roma übertragen, da sind Türken und US-Schwarze deutlich weiter. Wenn man Betroffene als Autoren hinstellt, wirken die Klischees oder der Rufmord authentischer. Macht die taz auch so. Das ist, was dieses Konzept will. Unsere Vorurteile sind richtig, weil autorisiert. Der Spiegel hat es so mit Praunheim gemacht, Emir Kustorica mit seinen Operettenfilmen. Das wiederum legitimiert Politik. Vielfalt und Realität unerwünscht, klare Regeln. Konzept jetzt kapiert?

  • "Identitätspolitische Einwände" sind aber durchaus gerechtfertigt. Da bastelt sich eine Autorin die Chicanos ihrer Träume und verpasst ihnen die Gefühlswelt bzw Wahrnehmung der Gringos. Das stimmt vorne und hinten nicht.

    Das ist Karl May.



    Und nicht Joseph Roth.

    • @el presidente:

      "Da bastelt sich eine Autorin die Chicanos ihrer Träume und verpasst ihnen die Gefühlswelt bzw Wahrnehmung der Gringos."

      Das nennt man Fiktion. Oder auch Fantasie. Darauf basiert Literatur immer.

    • @el presidente:

      Wenn das Karl May ist, ist doch alles super.

      Über Karl May sagt Rafik Schami:



      „Bei Allah, dieser Karl Ben May hat den Orient im Hirn und Herzen mehr verstanden als ein Heer heutiger Journalisten, Orientalisten und ähnliche Idiotisten.“

      Namo Aziz bestätigt Karl May im 1992 "dass er eine erstaunlich treffende Charakterisierung des Landes in seinem Buch 'Durchs wilde Kurdistan'" gegeben hat, die noch dazu "wenig an Aktualität verloren" habe.

    • @el presidente:

      Das wären aber literarische Einwände, die am Text zu belegen wären, keine "identitätspolitischen".



      Ich habe das Buch nicht gelesen, kann das also nicht beurteilen. Aber hier geht es doch darum , dass offenbar einige der Meinung sind, eine weiße Amerikanerin dürfe nicht eine Geschichte aus der Sicht mexikanischer Frauen schreiben. Das ist dann aber tatsächlich illiberal und wir müssten einen Großteil der Literaturgeschichte in die Mülltonne treten. Oder ins Feuer schmeissen?

    • @el presidente:

      Das kann man ja dann literaturkritisch entsprechend sezieren (und durchaus zu Recht). Leider ist die vulgäridentitäre Kritik dieser Tagte aber essentialistisch flach und fordert damit entsprechend platte Repliken geradezu heraus.

  • Das Ding mit Identitätspolitik ist, dass sie ermüdend ist. Verbrauch von Zeit&Kraft, die sich für anderes hätte vielleicht sinnvoller brauchen lassen.



    Dazu die Debatte über "kulturelle Aneignung" als aus den Staaten herüberschwappend, was interessiert mich deren Gezanke in völlig verhärteten und verbohrten Fronten, mit Feindbildern und Problemfeldern die hier gar nicht vorkommen bzw. in völlig anderer Form?

  • Es ist mir unbegreiflich, wie man bei einer fiktiven Geschichte von kultureller Aneignung sprechen kann. Wenn man nur noch Charaktere erfinden dürfte, deren Hautfarbe man teilt, wäre das eine neue Form der Segregation und würde die Spaltung der Gesellschaft in unterschiedliche Ethnien weiter vorantreiben.