Bundesverfassungsgericht zu Hartz IV: Obdachlos wegen Sanktionen
Vor der Verhandlung des Verfassungsgerichts zu Hartz-IV hat eine Initiative tausende Menschen befragt. Die Ergebnisse stützen die Kritiker.
Am Dienstag wird das Bundesverfassungsgericht über die Zulässigkeit von Sanktionen bei Verstößen gegen die Hartz-IV-Regeln verhandeln. Die Sozialinitiative Tacheles hat im Vorfeld eine Online-Befragung unter Betroffenen und Fachleuten durchgeführt. Die Ergebnisse stützen die Bedenken derjenigen, die Sanktionen abschaffen wollen.
Wer als Hartz-IV-Empfänger Meldepflichten verpasst, muss mit einer zehnprozentigen Kürzung der Leistung von derzeit 424 Euro für einen Alleinstehenden rechnen. Wer sich weigert, eine „zumutbare“ Arbeit aufzunehmen, erhält 30 Prozent weniger. Im Wiederholungsfall werden 60 Prozent abgezogen, bei weiteren Wiederholungen binnen einem Jahr gibt es gar nichts mehr. Bei jungen Menschen unter 25 Jahren sind die Sanktionen noch schärfer.
Das Sozialgericht im thüringischen Gotha hält die Sanktionsregelungen für verfassungswidrig und hat einen entsprechenden Fall dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt. Das menschenwürdige Existenzminimum müsse vom Staat gedeckt werden, deshalb sei eine Kürzung dieser Leistungen nicht möglich, argumentiert das Sozialgericht.
Als sachverständige Organisation hat das Verfassungsgericht zur Verhandlung am Dienstag auch die Wuppertaler Sozialinitiative Tacheles eingeladen. Der Verein, der seit 1994 existiert, versteht sich als Stimme der Betroffenen. Aufgrund seiner umfangreichen Beratungstätigkeit hat er längst bundesweite Bedeutung. Die Webseite des Vereins sei mit rund 4 Millionen Besuchern pro Monat die am häufigsten besuchte Seite zum Arbeitslosen- und Sozialhilferecht, sagt Tacheles-Vorstand Harald Thomé.
Anfang Dezember erhielt Tacheles einen Fragebogen des Verfassungsgerichts. Diesen setzte der Verein sofort in eine Online-Umfrage um. „Wir dachten, dass etwa 3.000 Leute mitmachen“, erinnert sich Thomé, „am Ende waren es über 21.000.“ Neben Betroffenen haben auch viele Beratungsstellen, Anwälte und Job-Center-Mitarbeitende den Fragebogen ausgefüllt. „Unsere Befragung hat ergeben“, so Thomé, „dass über 80 Prozent aller Antwortenden Sanktionen nicht für ein Mittel halten, das geeignet ist, eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu erreichen.“
Willkürliches Handeln der Jobcenter?
Ein besonders erschreckendes Ergebnis für Thomé: „58 Prozent der Betroffenen und 52 Prozent der Beratungsstellen kennen Fälle, bei denen Hartz-IV-Bezieher wegen Kürzungen ihre Wohnung verloren.“ Als häufigsten Grund, warum Leistungsbezieher ihre Verpflichtungen nicht einhalten, nannten die Teilnehmer der Umfrage mit 44 Prozent „Überforderung wegen einer psychischen Krankheit“. Zwar könnten sich psychisch Kranke ein ärztliches Attest besorgen, viele seien aber auch dazu nicht in der Lage, so Thomé.
Immerhin 38 Prozent der Umfrage-Teilnehmer gehen davon aus, dass auch rechtswidriges und willkürliches Handeln der Jobcenter zu Leistungskürzungen führt. Thomé verbindet diese Angabe mit einer anderen Zahl: 65 Prozent der rund 1.200 beteiligten Jobcenter-Mitarbeiter glauben, dass säumige Erwerbslose „keine Lust auf Arbeit“ hätten. „Wenn das das Vorverständnis in den Jobcentern ist, liegt eine überharte Anwendung der Regeln nahe“, so Thomé.
In einem Freifeld konnten die Teilnehmer der Umfrage weitere Ausführungen zur Sanktionspraxis machen. „Rund 7.000 Befragte haben diese Möglichkeit genutzt, oft sehr differenziert.“ Diese Bögen will Tacheles am Dienstag dem Bundesverfassungsgericht überreichen.
Am Dienstag wird Thomé in Karlsruhe auch das Einleitungsstatement für die Verbände der Sanktionsgegner halten, zu denen er den Sozialgerichtstag, den DGB und die meisten Wohlfahrtsverbände zählt. Sein Konterpart wird Sozialminister Hubertus Heil (SPD) sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar