Angela Merkel im taz-Interview: „Ja, dies ist mein Land“
Man kann afghanische Flüchtlinge auch mit freundlichem Gesicht abschieben, sagt die Kanzlerin – und erklärt, was an ihr grün und links ist.
Berlin, 10 Uhr, draußen über dem Tiergarten scheint die Sonne. Drinnen im siebten Stock des Kanzleramts ist es still, auf dem Gang erinnern Schwarzweißfotos von Konrad R. Müller an vergangene Kanzler. Brandt und Kiesinger hängen etwas schief. Sonst ist alles perfekt, Angela Merkel wartet an der Tür ihres hellen, großen Arbeitszimmers. An einem Ende des Konferenztischs liegen Akten, Autogrammkarten und ein Bernstein. Sie setzt sich ans andere Ende. Sie weiß, dieses Interview ist eine Premiere.
taz: Frau Bundeskanzlerin, Winfried Kretschmann hat gesagt, er bete jeden Tag für Sie. Beten Sie manchmal auch für den Grünen Kretschmann?
Angela Merkel: Das muss ich mit Nein beantworten. So konkret politisch bete ich sowieso nicht, aber das ist ohnehin eine sehr private Angelegenheit. Unabhängig davon schätze ich Ministerpräsident Kretschmann sehr.
Ihr jüngerer Bruder Marcus war während der Wendezeit bei Bündnis 90. Warum sind Sie damals eigentlich nicht bei Bündnis 90 und dann den Grünen gelandet?
Hier können Sie das Gespräch mit Angela Merkel in Leichter Sprache lesen.
In der Tat habe ich im Herbst 1989 einen Suchprozess durchgemacht. Ich war beim Demokratischen Aufbruch und bei der SDP, wie die Sozialdemokraten in der DDR damals noch hießen, und ich habe mir natürlich auch das Neue Forum, den Vorläufer von Bündnis 90, angesehen. Aber das Neue Forum stand für den sogenannten dritten Weg, eine demokratisch erneuerte DDR, und daran glaubte ich nicht. Ich gehörte zu denen, die die schnelle deutsche Einheit wollten, die soziale Marktwirtschaft. Schon am Tag der Maueröffnung haben etliche meiner Freunde das ganz anders bewertet als ich. So bin ich beim Demokratischen Aufbruch gelandet und schließlich in der Allianz für Deutschland, in der wir dann mit der Deutschen Einheit 1990 CDU-Mitglieder wurden.
Unsere Frage zielte auf Ihren möglicherweise grünen Kern ab.
Das habe ich auch so verstanden. Ich war ja Bundesumweltministerin, eine sehr spannende Zeit. Und ich habe mich auch in der CDU dafür eingesetzt, dass wir in unserem Grundsatzprogramm nicht nur von der sozialen, sondern auch von der ökologischen Marktwirtschaft sprechen. Andererseits habe ich zum Beispiel 1986, als das furchtbare Reaktorunglück in Tschernobyl passierte, allein die sowjetischen Verhältnisse dafür verantwortlich gemacht, den schlechten Sicherheitsstandard dort und nicht die friedliche Nutzung der Kernenergie an sich. Es hat dann noch bis zur Katastrophe von Fukushima im Jahr 2011 gedauert, bis ich meine Haltung grundsätzlich geändert habe.
In Reden und erst neulich im Wahlkampf gebrauchen Sie immer wieder das Bild von der „frischen Luft“. Ist das Ihr Begriff von Grün?
Damit meine ich, dass man sich immer wieder ins Neue vorwagen muss. Wir leben in einer Welt großer Veränderungen. Und frische Luft heißt da einfach: immer wieder über den Tellerrand gucken, neugierig sein, auf Neues zugehen. Manchmal denke ich, dass wir in Deutschland auf so hohem Niveau leben, dass wir nicht immer innovationsfreudig genug sind.
Ist irgendwas an Ihnen links?
Ich kann mit solchen Schubladen wenig anfangen. Schauen Sie, erst mal bin ich CDU, mit der ich liberale, christlich-soziale und konservative Wurzeln gleichermaßen verbinde. Mir ist die menschliche Gestaltung der Globalisierung wichtig, ebenso wie das Thema Nachhaltigkeit, also Generationengerechtigkeit, nachhaltige Finanzen und Ressourcenverbrauch. Daran habe ich immer gearbeitet.
Aber nichts Linkes.
Sie möchten gerade definieren, was ich nicht bin, und ich antworte jetzt damit, was ich bin. Aus den liberalen, christlich-sozialen und konservativen Wurzeln der CDU, die ich sehr achte, ergeben sich bestimmte Berührungspunkte mit dem, was man gemeinhin links nennt. Nehmen Sie zum Beispiel das Christlich-Soziale: Die christliche Soziallehre hat auch Berührungspunkte mit sozialdemokratischem Denken, die CDU hat sich zum Beispiel immer zur wichtigen Rolle der Gewerkschaften bekannt, denn es ist immer wichtig, sowohl über das Erwirtschaften des Wohlstands als auch über gerechte Verteilung zu sprechen. Ich weiß nicht, ob das für Sie links ist oder nicht – für mich ist es christlich-sozial oder anders gesagt CDU pur.
Was sagen Sie: Leiden die Grünen mittlerweile darunter, dass sie sich zu weit von ihren linken Wurzeln entfernt haben und auf Sie und die bürgerliche Mitte zubewegt haben?
Auch die Grünen haben ja aus meiner Sicht unterschiedliche Wurzeln. Eine, wie ich es sagen würde, sehr staatskritische Wurzel und eine, bei der es um die Bewahrung der Schöpfung geht. Bei diesem behutsamen Umgang mit der Schöpfung sehe ich große Nähe zu meinen Überzeugungen in der CDU. Und dennoch gibt es auch eine sehr starke Staatskritik, die wir in der CDU und ich persönlich überhaupt nicht teilen.
Worin sehen Sie die Aufgabe der Grünen im Parteienspektrum?
Es ist nicht an mir, den Platz der Grünen im politischen Spektrum zu definieren. Das würde ich umgekehrt auch nicht mögen. Wichtig scheint mir, dass sie sich immer wieder neue Themen erarbeiten, weil sich manche Themen, zum Beispiel die Kernenergie, weitgehend erledigt haben. Ich stelle mir vor, dass die humane Gestaltung der Globalisierung auch für die Grünen ein spannendes Thema sein kann.
Frau Merkel, in den ersten Wochen der großen Flüchtlingsdebatte, am 15. September 2015, haben Sie hier im Kanzleramt eine Pressekonferenz gegeben. Auf die Frage, ob Sie Flüchtlinge zum Kommen nach Deutschland animiert haben, erwiderten Sie: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Hatten Sie sich den Satz vorher überlegt?
Nein, ich hatte mir den Satz nicht zurechtgelegt. Er kam auf eine Nachfrage, was ich zu dem Vorwurf sagen würde, dass ich durch mein Vorgehen Flüchtlinge zur Flucht animiert hätte.
Der Selfie-Vorwurf.
Unter anderem. Ich fand das abwegig, in zweierlei Hinsicht. Einmal waren bis zu dieser Aussage im Sommer 2015 schon rund 400.000 Flüchtlinge gekommen. Es gab außerdem Mitte August eine Prognose des Bundesinnenministeriums von 800.000 Flüchtlingen für das gesamte Jahr. Zum Schluss kamen rund 890.000, wir lagen also nicht ganz daneben. Das Zweite war, dass es ja gar nicht allein meine Haltung war, sondern die der Menschen am Bahnhof in München und anderswo, der vielen Menschen, die die Geflüchteten freundlich aufgenommen haben. In dieser Situation habe ich gesagt: Wenn man Menschen hilft und kein freundliches Gesicht dazu machen darf, dann ist das nicht mein Land. Das war spontan. Es kam aus meinem Innersten. Weil das meine Überzeugung ist.
Viele Linke und Linksliberale, auch viele taz-Leser haben damals gestutzt: Ups, dürfen wir Merkel gut finden? Und in der taz entstand ein Titel, der das mit Herzen thematisierte.
Wir haben ja gerade über die christlich-sozialen Wurzeln der Parteien gesprochen. In diesem Sinne war mein Satz eine Aussage, die genauso im Einklang mit Prinzipien der CDU wie mit Prinzipien anderer Menschen und sicher auch anderer Parteien stand.
Waren die Sympathiekundgebungen von links damals ein ernster Hinweis für Sie, wie weit weg Sie sich zu diesem Zeitpunkt von Ihren Konservativen entfernt hatten?
Nein. Auch viele in der Union haben es ja durchaus unterstützt, die Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland einreisen zu lassen. Erst waren diese Menschen mit Zügen gekommen, dann zu Fuß, weil Ministerpräsident Orbán ihnen urplötzlich die Reisemöglichkeit entzogen hatte. Die großen Meinungsunterschiede drehten sich viel mehr um die Frage: Wie geht es weiter? Mir war klar: so natürlich nicht, denn kriminelle Schlepper und Schleuser verdienten mit dem Elend der Flüchtlinge ihr Geld. Deshalb habe ich ab Anfang September an diesem EU-Türkei-Abkommen gearbeitet, nachdem ich schon den ganzen Sommer darüber nachgedacht hatte. Das ist viele Monate ja gar nicht beachtet worden. Ich war dann, vorsichtig formuliert, sehr erstaunt, dass das Abkommen, als es Mitte März 2016 abgeschlossen werden konnte, auf eine so negative Bewertung stieß, und zwar parteiübergreifend. Trotzdem war das der einzige Weg, eine gewisse Ordnung und Steuerung in diese Sache zu bringen, und zwar so, dass es auch im Interesse der Zuflucht suchenden Menschen ist und das Sterben in der Ägäis aufhören kann.
Sie haben das freundliche Gesicht gegen ein hartes, strenges ausgetauscht. Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte, vor allem Syrer. Die Möglichkeit, psychisch Kranke abzuschieben. Abschiebungen ohne Ankündigung, Abschiebungen nach Afghanistan. Ist dieses Land damit immer noch „ihr Land“?
Ja, dies ist mein Land, denn wir geben jedem, der in Deutschland um Asyl bittet, die Chance, einen Antrag zu stellen, und wir schaffen bessere Lebensbedingungen vor Ort, in dem wir Fluchtursachen bekämpfen. Zugleich müssen wir auch deutlich machen, dass es Regeln gibt. An der Stelle finde ich übrigens, dass die grüne Programmatik sehr unklar ist. Sie drückt sich um die schweren Fragen. Wir helfen Afrika doch nicht, indem wir sagen, dass wir jeden aufnehmen, der kommen möchte. Wir müssen ganz anders an die Sache herangehen: Flucht- und Migrationsursachen bekämpfen, zu besseren Lebensbedingungen beitragen und Perspektiven in den Heimatländern schaffen, legale Wege der Migration finden, statt den Schleppern die Hand zu reichen. Deshalb gehören zu unserem humanitären Asylrecht auch die strengen Regeln. Im Übrigen kann man eine Rückführung mit einem freundlichen Gesicht verbinden.
Wie soll das gehen, Abschiebungen mit einem freundlichen Gesicht?
Es ist ohne Zweifel ein schwerer Weg, den dieser Mensch gehen muss, aber auch dabei kann und soll man ihm mit Respekt und Menschlichkeit begegnen. Wir sollten nicht die einfache Botschaft senden, dass Millionen Menschen zum Beispiel aus Afghanistan bei uns eine neue Heimat finden, sosehr ich auch Verständnis für wirtschaftliche Not habe. In diesen Fragen, das sage ich ganz offen, spüre ich, wie schwer politische Verantwortung auch sein kann. Ich sehe die individuellen Schicksale – aber ich muss auch ordnen, steuern und darauf achten, dass Illegalität nicht noch gefördert wird. Das würde niemandem helfen.
Sie haben Afrika angesprochen. Um Flüchtlinge dort aufzuhalten, paktieren Sie mit dem verbrecherischen Regime im Sudan. Das bekommt sogar 100 Millionen Euro von der EU, die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit schult sudanesische Polizisten. Ist das „ihr Land“, ein Land also, das mit dieser weltweit geächteten Diktatur zusammenarbeitet?
Wenn in Deutschland über Afrika und Migration gesprochen wird, geht es meist um die Menschen, die von Libyen nach Italien kommen. Was oft zu wenig gesehen wird: Auf dem Kontinent selbst gibt es enorme Binnenfluchtbewegungen. Wir legitimieren natürlich überhaupt nicht das Regime im Sudan. Wir gehören zu denen, die den dortigen Präsidenten al-Baschir boykottieren. Dennoch stellt sich die Frage, welche und wie viel Entwicklungszusammenarbeit trotzdem sinnvoll ist und wie man Staatlichkeit dort festigt.
Der ehemalige Sudan-Ermittler der UN, Jérôme Tubiana, sagt, es sei „eine Schande“, dass die GIZ sich auf so eine Zusammenarbeit einlasse. Es sei bei solchen Trainings unklar, wer ein Scherge sei, egal welche Uniform er gerade trage.
Sehen Sie, der Sudan ist ein wichtiges Transit-, Herkunfts- und Aufnahmeland von Flüchtlingen am Horn von Afrika. Fast 400.000 Flüchtlinge haben dort Zuflucht gefunden, vor allem aus Südsudan und Eritrea. Sudan ist somit ein Schlüsselland für die Bewältigung der Migration am Horn von Afrika. Wir wollen gezielt gegen Schleusertum, Menschenhandel und illegale Migration vorgehen. Dazu arbeiten wir mit der EU, den Vereinten Nationen und internationalen Organisationen wie IOM an der Verbesserung der Lebensbedingungen von Flüchtlingen, Verbesserung des Grenzschutzes, bei der Rückkehr und bei Informationskampagnen eng zusammen. Grenzmanagement-Maßnahmen werden dabei als Teilbereich des so genannten Migrationsmanagements durchgeführt. Dabei soll etwa erreicht werden, dass Beamte des Grenzmanagements Schutzbedürftige, also zum Beispiel Betroffene des Menschenhandels, erkennen und sie unter Beachtung aller internationalen Standards an die zuständigen staatlichen beziehungsweise zivilgesellschaftlichen Stellen weitervermitteln. Dabei prüfen wir sehr sorgfältig, mit wem wir zusammenarbeiten.
Nach Deutschland darf man allein aus politischen, aus humanitären Gründen. Es fehlt die zweite Tür. Würde ein viertes Kabinett Merkel ein Einwanderungsgesetz schaffen?
Wir haben in unser Regierungsprogramm geschrieben, dass kein freier Arbeitsplatz unbesetzt bleiben darf, und wir haben uns in dem Zusammenhang erstmals ausdrücklich auch zu einem Fachkräfte-Zuwanderungsgesetz bekannt. Es gibt ja heute schon Mechanismen, etwa die Blue Card. Zum Teil haben wir aber auch noch eher komplizierte Prozeduren.
Nirgendwo steht ganz oben: Einwanderung nach Deutschland ist möglich.
Einwanderung nach Deutschland ist eine Realität. Wir haben den europäischen Binnenmarkt und damit die Freizügigkeit für jeden Europäer. Im Regierungsprogramm bekennen wir uns dazu, dass wir Zuwanderung brauchen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir mit afrikanischen Ländern Kontingente vereinbaren, wonach eine bestimmte Anzahl von Menschen hier studieren oder arbeiten kann. So würden wir Anreize dafür schaffen, legale Wege zu finden. Nur zu sagen, Illegalität geht nicht, und gar nichts anzubieten, ist falsch.
Geht es Ihnen da also um „nützliche“ Flüchtlinge?
Nutzen finde ich im Zusammenhang mit Menschen einen falschen Begriff. Flüchtlingen, die nach Deutschland gekommen sind, müssen wir Schutz vor Krieg und politischer Verfolgung gewähren. Bei Menschen, die zu uns aus wirtschaftlichen Gründen kommen wollen, geht es natürlich darum, dass diejenigen kommen, die wir brauchen, Pflegekräfte beispielsweise. Aber eine Einwanderung in ein Studium oder eine Arbeitsmöglichkeit ist auch im Interesse der Migranten und eröffnet ihm oder ihr neue Chancen.
Zu einem anderen Thema: Sie haben viele Jahre eng mit der Autoindustrie zusammengearbeitet. Die Vorstandsvorsitzenden durften oft hierher zu Ihnen ins Kanzleramt kommen und ihre Sorgen vortragen …
… Herr Zetsche war auch schon auf dem Grünen-Parteitag.
… Und jetzt schlagen Sie neue Töne gegenüber der Autoindustrie an: Es sei betrogen worden. Schonungslose Aufklärung sei nötig. Ist das wieder so ein Rollenwechsel Marke Merkel? Von der Freundin der Autobosse zur Anklägerin der Autobosse?
Weder noch. Die Automobilindustrie ist eine eminent wichtige Säule unserer Wirtschaft. Sie beschäftigt 800.000 bis 900.000 Menschen, und das sind sehr gute Arbeitsplätze. Diese Industrie ist in einem starken Umbruch: durch die Digitalisierung, durch neue Antriebstechnologien. Jetzt ist es in unser aller Interesse, dass dieser Wirtschaftszweig die Zeichen der Zeit nicht verschläft. Nun sind aber gravierende Vorkommnisse passiert, die uns alle zu Recht empören. Damit setze ich mich auseinander.
Warum haben Sie nicht viel früher auf ein schnelleres Umdenken Richtung Zukunft gedrängt?
Ich habe mich immer wieder damit befasst, ob die Automobilindustrie mit der Entwicklung auch wirklich mitgeht. Da war das Tempo nicht so hoch, aber man hat ja inzwischen auch einiges getan. Die Automobilfirmen stecken besonders viel in Forschung und Entwicklung. Die Frage ist nur, ob sie sich immer auf die richtigen Schwerpunkte konzentriert haben. Nun muss die Politik schonungslos benennen, wo etwas falsch gelaufen ist. Da Maß und Mitte zu finden, das ist die Aufgabe.
Im Klimaschutz versagt die Autoindustrie völlig. Aus deutschen Autos kommen heute praktisch so viele Co2-Emissionen wie 1990. Ist diese Industrie so veränderungsresistent, dass sie untergehen könnte?
Dass sie im Klimaschutz völlig versagt, sehe ich nicht so. Unsere europäischen Co2-Vorgaben für die Flotten der einzelnen Hersteller sind durchaus ambitioniert. Die Zahl der Autos ist ja seit 1990 auch erheblich gestiegen. Aber wir sind uns einig: Wenn dieses Jahrhundert weitgehend Co2-frei enden soll, dann muss sich im Verkehr massiv etwas ändern. Auf diese Veränderung, ob sie nun in der E-Mobilität liegt oder in der Wasserstoff-Brennstoffzelle, muss sich die Industrie vorbereiten. Verbrennungsmotoren bleiben für längere Zeit noch als Brückentechnologie wichtig. Deshalb müssen wir aufpassen, dass wir nicht auch moderne und insbesondere die sauberen Diesel verteufeln, sonst werden wir die Co2-Vorgaben kaum einhalten können.
Alle Welt streitet über Fahrverbote für Diesel in Innenstädten. Aber das Problem kommt vor allem daher, dass sich der Bund weigert, eine einheitliche Regelung zu treffen. Eine blaue Plakette für neuere Dieselwagen würde schon helfen. Warum verweigert der Bund die?
Die Grenzwerte für Stickoxide werden überschritten, und daran müssen wir etwas ändern. Jetzt könnte man mit Fahrverboten für bestimmte Autotypen antworten, dafür gäbe es die blaue Plakette. Wir wollen aber Fahrverbote verhindern. Wir haben politisch die Menschen animiert, Dieselfahrzeuge zu kaufen, weil die Co2-ärmer sind. Wir würden also gerade die mit Fahrverboten bestrafen, die sich klimaschonend verhalten haben.
Haben Sie sich geärgert, dass die Umweltministerin und das Umweltbundesamt die Ergebnisse Ihres Dieselgipfels zerschossen haben? Das Amt hat ausgerechnet, dass Software-Updates und Umtauschaktionen nicht reichen, um Fahrverbote in den meisten relevanten Städten zu verhindern.
Dass der Gipfel im August nicht ausreicht, die verschiedenen Probleme zu lösen, war immer klar. Ich habe von einem ersten Schritt gesprochen, dem weitere folgen müssen. Es wurden Arbeitsgruppen beschlossen, die man nun auch arbeiten lassen sollte. Unbestritten ist, dass mit dem reinen Software-Update die Grenzwerte nicht eingehalten werden. Wir haben zwei weitere Bausteine. Das eine sind die Umtauschprämien, die ja gerade erst angelaufen sind, es ist also noch offen, wie viele Menschen davon Gebrauch machen und was das für die Emissionen bedeutet. Der zweite ist die Frage, was man im Verkehrsmanagement der Städte noch verändern kann, zum Beispiel über den öffentlichen Personennahverkehr.
Jetzt schieben Sie die Sache zu den Kommunen.
Ich habe für den 4. September die Vertreter der am stärksten betroffenen Kommunen und die Ministerpräsidenten zur Beratung ins Kanzleramt eingeladen. Wir müssen jede Kommune individuell betrachten. In Kiel sind die Stickoxid-Emissionen auch deshalb so hoch, weil Schiffe betankt werden. In Stuttgart spielt die besondere geografische Lage eine Rolle. Ich will, dass wir gerade aus diesen Städten die fortschrittlichsten machen, was Mobilität anbelangt, Städte mit intelligenten Lösungen für die neuen Mobilitätsbedürfnisse. Arbeitgeber könnten zum Beispiel mehr Ladestellen für E-Mobilität einrichten, oder man könnte das verstärkt in Parkhäusern anbieten.
Warum wird nicht die Hardware in alten Dieselfahrzeugen nachgerüstet?
Wenn ich in alte Technologie pro Auto noch mal 1.000 bis 2.000 Euro stecke und die Wirtschaft dafür zwischen 10 und 20 Milliarden Euro aufwenden muss, die sie nicht in die Entwicklung neuer Technologien stecken kann – ist das eine Investition, die der Staat befördern sollte? Da müssen wir erst alle anderen Wege prüfen, bevor wir dazu ein abschließendes Urteil fällen. Ich möchte keine Lösung, die zwar Millionen Dieselfahrer betrifft, aber gleichzeitig dazu führt, dass die Autoindustrie sich nicht ausreichend um eine ressourcenschonende Zukunft kümmern kann. Die taz ist doch jetzt schon der Meinung, dass das nicht ausreichend geschieht, und hat dafür auch einige gute Argumente.
Noch eine Frage, die uns wichtig ist. Unser Kollege Deniz Yücel sitzt immer noch in der Türkei in Haft. Warum konnten Sie bisher nicht erreichen, dass er freikommt?
Wir setzen uns auf allen Kanälen für ihn ein. Das ist leider sehr kompliziert, weil Deniz Yücel Doppelstaatler ist und wir da konsularisch nicht so viele Rechte haben. Trotzdem tun wir alles in unserer Macht Stehende für ihn, öffentlich, aber vor allem auch in unseren Kontakten mit türkischen Behörden. Wir sorgen uns auch um Mesale Tolu und Peter Steudtner und die weiteren Inhaftierten. Wir haben die Reisehinweise für die Türkei verändert und gehen weit restriktiver an wirtschaftliche Kontakte heran. All das hat leider bisher noch nicht zur Freilassung Ihres Kollegen geführt, aber nichts würde ich mir mehr wünschen als das.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Israels Brüche der Waffenruhe
Die USA sind kein neutraler Partner