Alte Gewissheiten neu hinterfragt: Werden Kriege wieder normal?
Wir leben nicht mehr in der Welt, in der wir glauben zu leben. Und in der neuen wird es wahrscheinlich mehr Gewalt geben.
W ir leben nicht in der Welt, in der wir zu leben glaubten, und wir sind jetzt in einer Übergangsphase, in der das alte und das neue Denken aufeinanderprallen. Sowohl was die Klimakrise angeht als auch den russischen Angriffskrieg auf Europa, begegnen viele dieser neuen Welt noch mit der gewohnten Kultur und den eingeübten Gefühlen. Versuche, sich realpolitisch der Klimakrise zu stellen, werden als Freiheitsberaubung und soziale Ungerechtigkeit delegitimiert, Versuche, dem Krieg realpolitisch denkend zu begegnen, kategorisch als „bellizistisch“ und „menschenverachtend“ abzuwehren versucht. Wie man das halt immer so machte.
Lassen wir wegen mangelnder Relevanz die historisch Geprägten außen vor, die immer noch die Nato als das Grundproblem sehen. Aber auch die Diskussion zwischen denen, die seit einiger Zeit für Waffenlieferungen sind und denen, die Waffenlieferungen als falsch betrachten, greift zu kurz.
Die alte deutsche Logik: Wir machen nicht mit. Weil wir aus unserer Geschichte gelernt haben (und selbst ja gemütlich unter amerikanischem Schutz stehen). Die neue deutsche Logik: Die Ukrainer sollen Waffen kriegen, aber wenn sie am Ende doch verlieren, dann können wir auch nichts machen, denn wir dürfen nicht den Dritten Weltkrieg auslösen.
Was ein sehr wichtiger Leitgedanke ist. Genau deshalb plädiere ich für das, was Florence Gaub in taz FUTURZWEI vorschlägt: „Wir müssen uns Szenarien einer böseren Welt überlegen.“ Heißt: Wir brauchen auch eine Antwort, wenn eine (Teil-)Eroberung der Ukraine erst der Anfang ist, und Putin im Baltikum einmarschiert. Sagen wir dann: Na ja, Baltikum. Und wenn er in Polen einmarschiert? Sei’s drum, das sind ja letztlich auch Slawen. Und wenn Putin Deutschland angriffe? Das ist jetzt echt bedauerlich, aber wir dürfen nicht den Dritten Weltkrieg auslösen, also bemüht euch nicht, Nato, wir geben besser gleich auf?
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Nein, wir sagen: Wie kann man so etwas auch nur denken! Das wird Putin auf keinen Fall tun, never. Das wissen wir hundertprozentig. Nichts wissen wir. Nichts von dem, wie wir die Welt haben wollen, gilt in Putins Welt. Ja, wir müssen vorsichtig sein, deshalb hat die Nato ja auch beschlossen, die Ukraine zu unterstützen, aber nicht zu intervenieren. Aber wir müssen es gleichzeitig wagen, von jedem möglichen Ende her zu denken, und ein Ende kann eben auch sein, dass wir einen größeren Krieg dadurch auslösen, dass wir immer laut sagen, dass wir ihn nicht auslösen wollen.
Eine Antwort auf ein gutes Szenerio sind Friedensverhandlungen, mit deren Ergebnis alle leben können. Eine Antwort auf ein böses Szenario bestünde darin, Putin klarzumachen, dass wir, der Westen, die Nato, militärisch stärker sind – und bereit, ihm das zur Not auch zu beweisen.
Für den bulgarischen Historiker Ivan Krastev geht mit dem Überfall auf die Ukraine eine Epoche zu Ende, in der wir alles in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg verstehen wollen und speziell die Deutschen Gewalt stets in „Außergewöhnlichkeits-Diskursen“ verhandeln. „Wir werden sehr wahrscheinlich in eine Welt wechseln, in der es sehr viel mehr Gewalt geben wird“, sagt Krastev. Das böse Szenario, das sich daraus ergibt: Kriege werden wieder normal. Die Gewaltoption ist Voraussetzung einer freien und emanzipatorischen Zukunft. Wir sollten auch das denken können. Auch wenn’s wehtut.
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