Abitur in der Pandemie: Wertloses Abi?
Die Abischnitte wurden trotz Pandemie besser. Ein Skandal ist das nicht. Problematisch sind die unterschiedlichen Anforderungen in den Bundesländern.
Pandemie und Schule, das weckt keine guten Erinnerungen. Über Monate lernten Jugendliche in geteilten Klassen oder zu Hause im Kinderzimmer. Wenn sie Glück hatten, waren ihre Lehrer:innen auf Zack und bekamen so eine Art digitalen Unterricht hin. Oft genug sah der so aus: Arbeitsblätter ausdrucken und bearbeiten. Heute ist gut dokumentiert, wie groß die Lernrückstände wegen Corona sind und wie schlecht junge Menschen die soziale Isolation ertragen. Nie wieder Homeschooling, beten die Bildungsminster:innen deshalb bei jeder Gelegenheit rauf und runter.
Den Abiturient:innen scheint die ganze Misere jedoch nicht geschadet zu haben. Zumindest auf dem Papier. Obwohl sie die ganze Oberstufenzeit unter Pandemiebedingungen abgeleistet haben, schneiden sie im Abi besser ab als frühere Jahrgänge. Deutlich besser, wie nun zwei Regionalzeitungen bemerken. Die Stuttgarter Nachrichten und die Stuttgarter Zeitung haben sich die Notenstatistik der Länder genauer angeguckt und mit den Vorjahren abgeglichen.
Ihr Fazit fällt so aus, wie man es normalerweise nur von den ewig besorgten Lehrerverbänden kennt: „Eine Eins im Abi ist nichts Besonderes mehr, erst recht nicht seit Corona“, lamentiert der Artikel. Die Autorin beobachtet eine regelrechte „Einser-Inflation beim Abitur“. Eine Formulierung, die – das nur am Rande – so regelmäßig verwendet wird, dass auch sie ziemlich entwertet ist. Was aber stimmt: Die Zahl der Einser-Abis im Jahr 2022 hat sich im Vergleich zu 2019 in fast allen Bundesländern mehr oder weniger verdoppelt. Und in Thüringen und Sachsen hat mittlerweile fast jede:r Zweite eine eins vor dem Komma.
Beides ist wenig überraschend. So what?! Die Ministerien haben seit Beginn der Pandemie klar gemacht, dass den Schüler:innen wegen des ganzen Hin und Hers keine Nachteile entstehen dürfen. Viele Länder haben die Prüfungen nach hinten verschoben, damit die angehenden Abiturient:innen mehr Zeit für die Vorbereitung haben, und andere Klausuren auf dem Weg zum Abi gestrichen.
Ob es dazu noch einen „Coronabonus“ gegeben hat oder nicht: Es wird wohl niemand ernsthaft bezweifeln, dass dieser Jahrgang Strapazen ausgesetzt war wie keiner je zuvor. Das zu honorieren ist das Mindeste. Die Zeit war für die Schüler:innen ohnehin schon – pardon – scheiße genug. Da muss man ihnen jetzt nicht noch die Zukunft verbauen. Zumal das Problem ganz woanders liegt als in der mutmaßlichen Einserschwemme.
Ungerechte Unterschiede
Der wahre Skandal ist nicht, dass Schüler:innen heute (angeblich) ihr Abi nachgeschmissen bekämen, sondern dass die Anforderungen an das Abi immer noch so unterschiedlich sind. Seit Jahren wollen die Länder die Standards angleichen. Viel passiert ist noch nicht, mehr als ein – optionaler! – gemeinsamer Aufgabenpool für ein paar Abiturfächer ist bisher nicht dabei herausgekommen. Die Folge: Seit Jahren erzielen Abiturient:innen aus Thüringen die mit Abstand besten Schnitte. Auch 2022 lag der Freistaat mit seinem Spitzenschnitt von 2,0 fast eine halbe Schulnote besser als Schleswig-Holstein oder Rheinland-Pfalz. Und das ist doppelt ungerecht.
Schließlich entscheidet der Abischnitt bis heute auch, wer Arzt oder Psychologe wird. Und nicht nur bei den prestigereichen Berufen sind die Abinoten wichtig. Zum aktuellen Wintersemester war bundesweit fast jeder zweite Studiengang zulassungsbeschränkt. Da reicht es nicht, dass die Hochschulen mittlerweile auch weitere Kriterien bei der Studienplatzvergabe berücksichtigen. Die Abinote ist nach wie vor das Maß aller Dinge.
Wenn das so sein soll, dann müssen die Länder endlich verbindlich werden – und gemeinsame Aufgaben nicht nur anbieten, sondern vorschreiben. Wenn dann immer noch überdurchschnittliche viele Einser rauskommen, dann wenigstens nicht nur in Thüringen und Sachsen.
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