Internationale Strafverfolgung: Ein Schlag gegen das Völkerrecht
Mit Ungarn ist das erste Land Europas aus dem Internationalen Strafgerichtshof ausgetreten. Nun sind alle Augen auf Deutschland gerichtet.
Eigentlich hätte er ihn festnehmen müssen. Doch statt den israelischen Premier Benjamin Netanjahu an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) auszuliefern, rollte sein ungarischer Amtskollege Viktor Orbán ihm am vorvergangenen Donnerstag den roten Teppich aus und kündigte an, die Mitgliedschaft Ungarns im IStGH aufzuheben. Der Gerichtshof sei ein „politisches Gericht“ geworden, so Orbán. Mit diesem Schritt wird Ungarn zum einzigen Land der EU, das das Römische Statut nicht mehr unterstützt. Das Römische Statut ist die vertragliche Grundlage des IStGH mit Sitz in Den Haag.
Der Chefankläger des Gerichts, Karim Khan, hatte im November 2024 einen internationalen Haftbefehl gegen Netanjahu und den ehemaligen israelischen Verteidigungsminister Joav Galant erlassen; zudem gegen den palästinensischen Hamas-Führer Mohammed Deif, der den Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober maßgeblich geplant haben soll. Deif wurde wohl im Juli vergangenen Jahres in Gaza getötet, seinen Tod bestätigte die Hamas erst im Januar. Der Vorwurf gegen Netanjahu: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in dem Krieg, der auf den Angriff der Hamas auf Israel folgte.
Netanjahu wird innerlich jubiliert haben, als Orbán den Austritt aus dem IStGH verkündete. Zu Hause versinkt der israelische Premier in einem ganzen Sumpf an Skandalen. Nur zwei Beispiele: Innenpolitisch wird er zunehmend durch die Affäre bedrängt, die derzeit unter dem Namen „Katar-Gate“ die israelische Presse bestimmt. Zwei seiner engen Mitarbeiter sollen Bestechungsgelder angenommen und dafür positive Nachrichten über Katar verbreitet haben. Indes steht Israels Armee unter heftiger internationaler Kritik für die Kriegsführung in Gaza. Zuletzt sorgte ein Angriff israelischer Soldaten auf einen Krankenwagen und ein Feuerwehrauto, bei dem 15 Menschen getötet wurden, international für Entsetzen.
Nichts davon hielt Netanjahu davon ab, sich vier Tage Zeit für seine Reise nach Ungarn zu nehmen, begleitet von seiner Frau Sara. Er spazierte mit Orbán an der Donau entlang und fand einen Verbündeten im Chef der rechtspopulistischen Fidesz-Regierung – deren immer wieder aufkommenden antisemitischen Rhetorik zum Trotz. Der Tag, an dem Orbán aus dem IStGH ausstieg, war für Netanjahu „ein bewegender Tag“, sagte dieser in der gemeinsamen Pressekonferenz.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Es geht nicht nur um Netanjahu
Der Austritt Ungarns aus dem IStGH ist nicht der erste Schlag, den das internationale Recht in jüngster Zeit erfährt. Anfang Februar ordnete US-Präsident Donald Trump Sanktionen gegen das Gericht und seine Mitarbeiter an. Das Gericht habe „seine Macht missbraucht“, indem es „unbegründete Haftbefehle“ gegen den israelischen Ministerpräsidenten und den damaligen israelischen Verteidigungsminister erlassen hat.
Alexander Schwarz ist Co-Leiter des Programmbereichs Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung beim European Center for Constitutional and Human Rights – und er ist denkbar besorgt. Für ihn steht fest, dass der Streit über den Haftbefehl gegen Netanjahu hinausreicht. Es gehe nicht nur um einen Mann, sondern um eine Ordnung, die illiberale Staaten wie Ungarn und die USA als Bedrohung ihrer Macht begreifen. „Der IStGH steht für Rechenschaft, für universelle Normen, für die Idee, dass niemand über dem Recht steht“, sagt Schwarz. „Genau das ist es, was sie delegitimieren wollen – in dem Moment, in dem es ihnen politisch unbequem wird.“
Dabei betont Schwarz, dass die internationale Strafjustiz auch ein Erbe der Nürnberger Prozesse gegen NS-Verbrecher ist. Diese beeinflussten die Entstehung der Völkermordkonvention, die 1948 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde. Im gleichen Atemzug forderte sie einen internationalen Gerichtshof, um Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit international ahnden zu können. Erst 2002 wurde die Forderung mit der Gründung des IStGH in die Tat umgesetzt – während des Kalten Kriegs war das Vorhaben am Widerstand von USA und Sowjetunion gescheitert.
Die Augen sind auf Deutschland gerichtet
Wenn nun die internationale Strafgerichtsbarkeit angefochten wird, steht laut Schwarz auch die europäische Nachkriegsordnung auf dem Spiel. Genau wie er fordern jetzt Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, dass die EU sich – wie sie es bislang getan hat – klar zum IStGH positioniert. Konkret hieße das etwa, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn einzuleiten, was für das Land zu Strafzahlungen führen könnte.
Indes fürchten die Verfechter des internationalen Rechts einen Schneeballeffekt von Ungarns Schritt auf andere Länder. Eigene ausführende Organe, um sein Mandat durchzusetzen, hat der IStGH nicht, er ist dabei auf die Mitgliedstaaten angewiesen. Und da wackelt es in Bezug auf Netanjahu.
Zwar haben einige Länder unmissverständlich angekündigt, dass sie den israelischen Premier verhaften würden, darunter Irland, Spanien und die Niederlande. Andere EU-Länder äußern sich jedoch weniger eindeutig. Frankreich hat bereits angekündigt, dass Netanjahu bei einem Besuch nicht verhaftet werden würde. Da Israel nicht Mitglied des IStGH sei, sollte Israels Premier immun gegen Strafverfolgung sein, hieß es im November aus dem französischen Außenministerium.
Diesem Argument steht entgegen, dass Palästina Mitglied des Gerichtshofs ist und Nichtmitglieder laut Römischem Statut auch dann belangt werden können, wenn sie Verbrechen auf dem Boden eines Mitgliedsstaates begehen. Wobei die entscheidende Frage dann lautet, wer Palästina als Staat anerkennt. Die Augen sind nun auch auf Deutschland gerichtet.
Der Kanzler in spe, Friedrich Merz, steckt in einem Dilemma. Noch am Wahlabend im Februar hatte er Netanjahu am Telefon versichert, er werde Mittel und Wege finden, damit dieser Deutschland ohne Festnahme besuchen könne. Es sei eine „abwegige Vorstellung, dass ein israelischer Ministerpräsident die Bundesrepublik Deutschland nicht besuchen kann“. Ein juristisches Schlupfloch gibt es für Merz nicht, so Schwarz. Es wäre schlichtweg ein eklatanter Völkerrechtsverstoß, würde Deutschland in einer Reihe mit illiberalen Staaten dem internationalen Recht weiter Schaden zufügen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Koalitionsvertrag schwarz-rot
Immer schön fleißig!
Schwarz-rote Koalition
Als Kanzler muss sich Friedrich Merz verscholzen
Schwarz-rote Koalition
Was befürchtet wurde …
Rechte Drohungen und mediale Ignoranz
Wo bleibt der Aufschrei gegen rechts?
Anschläge vor Bundestagswahl
„Der Verdacht ist plausibel“
Starke Börsen-Schwankungen
Arroganz ist nicht links