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Gewalt gegen FrauenUnd die Politik schweigt

Dank des Muts von Gisèle Pelicot sprechen wir endlich wieder über sexualisierte Gewalt. Es ist Zeit, dass die Politik ihrer Verantwortung nachkommt.

Feminist_innen zeigen Mitte Oktober in Paris Solidarität mit Gisèle Pelicot Foto: Lea Michaelis/rea/laif

D ie feministische #MeToo-Bewegung hat eine neue Ikone. Ihr Name: Gisèle Pelicot. Die 72-jährige Französin steht als Zivilklägerin in Avignon vor Gericht, ihr Mann hat sie jahrelang unter Drogen gesetzt, vergewaltigt oder anderen Männern zur Vergewaltigung angeboten. Mindestens 200 Mal soll sie Opfer sexualisierter Gewalt geworden worden sein – und zwar ohne, dass sie es wusste. Nur durch einen Zufall, wegen einer polizeilichen Hausdurchsuchung anlässlich einer anderen Straftat, kam der Fall ans Tageslicht.

In der Regel finden Verhandlungen über so schwere Gewalttaten unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Um die Persönlichkeitsrechte der Angeklagten zu wahren, aber auch um den Betroffenen einen geschützten Raum zu bieten. Schließlich geht es um intime Details, verstörende Videos und traumatisierende Erfahrungen. Gisèle Pelicot aber verzichtet auf diesen geschützten Raum. Sie möchte ihren Namen und ihr Gesicht zeigen, um allen Frauen, die sich nicht wehren können, eine Stimme zu geben. „Die Scham muss die Seite wechseln“, sagt sie. Denn nicht die Opfer, sondern die Täter sind es, die sich schämen sollten.

Seit Wochen sitzt Pelicot nun also im Gerichtssaal und muss sich anhören, wie Dutzende Männer erklären, warum sie es für normal hielten, eine narkotisierte Frau zu penetrieren oder ihr den Penis in den Mund zu stecken, den sie nicht einmal von selbst öffnen konnte. Nicht alle sind wie der Ehemann geständig. Im Gericht sieht Pelicot die Videos von den Vergewaltigungen und muss zuhören, wie die Ehefrauen der Angeklagten beteuern, ihr Mann könne gar kein Vergewaltiger sein.

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Neuer Aufschwung in der #MeToo-Bewegung

Das auszuhalten, kostet Kraft und Mut, und für diesen wird Pelicot weltweit gefeiert. Wenn sie den Gerichtsaal verlässt, stehen Feminist_innen Spalier und applaudieren. Tausende tragen Pelicots Gesicht auf die Straße, sprühen es an Wände oder posten es in sozialen Medien. Sie fordern, dass dieser Prozess endlich auch zu politischen Veränderungen führt. Internationale Medien berichten, der Fall wirkt weit über die Grenzen Frankreichs hinaus. Gisèle Pelicot hat der #MeToo-Bewegung zu neuem Aufschwung verholfen.

Gisèle Pelicot wurde jahrelang unter Drogen gesetzt und vergewaltigt. Der US-Rapper P. Diddy soll ein Missbrauchssystem ähnlich wie Jeffrey Epstein geführt haben. Die olympische Läuferin Rebecca Cheptegei aus Uganda wurde von ihrem Partner angezündet und getötet. In Istanbul tötete ein Mann zwei 19-jährige Frauen, eine von ihnen enthauptete er. In Südkorea schockiert ein Deepfake-Porno-Skandal, minderjährige Täter von über 500 Schulen sollen Fotos ihrer Mitschülerinnen und Lehrerinnen zu Pornobildern generiert haben.

Ein Mann in Essen verletzte aus misogynen Motiven 31 Menschen, 17 davon schwer, zwei Kinder lebensgefährlich, als er zwei Wohnhäuser anzündete, mit einem Lieferwagen in Geschäfte fuhr und mit einer Machete durch die Straßen zog. In Berlin wurden innerhalb weniger Tage zwei Frauen von ihren Ex-Männern getötet. Bei dem „DSDS“-Juror Pietro Lombardi gab es einen Polizeieinsatz, ihm wird häusliche Gewalt vorgeworfen. Die Liste der Schlagzeilen ließe sich beliebig verlängern, wobei sich jede einzelne Nachricht anfühlt wie ein Schlag in den Magen.

Das ist kein spezifisch französisches Problem

Gisèle Pelicot hat recht, wenn sie fordert: Die Scham muss die Seite wechseln, weg von den Opfern. Doch die Verantwortung muss es auch

Ausgelöst durch die Recherchen zu vielfachem Missbrauch durch den Filmproduzenten Harvey Weinstein und den Mut Tausender Frauen, die ihre Erfahrungen mit der Öffentlichkeit teilten, diskutieren wir nun seit genau sieben Jahren unter #MeToo über sexualisierte Gewalt. Wir zeigen Leerstellen bei Justiz und Politik auf, identifizieren Grenzüberschreitungen und loten Grauzonen aus. Die Erfolge der internationalen Bewegung sind nicht zu übersehen: In fast allen Sparten hat #MeToo Spuren hinterlassen.

Viel hat sich getan seit Oktober 2017, und es fühlt sich so an, als würde sich etwas in die richtige Richtung bewegen. Doch die polizeilichen Statistiken und die Dunkelfeldforschung zeigen etwas anderes. Sie zeichnen das Bild einer desaströsen Lage, die sich immer weiter verschärft. In Deutschland steigt die Zahl der häuslichen, sexualisierten und auch der tödlichen Gewalt gegen Frauen an. Fast jeden zweiten Tag verüben Männer in Deutschland Femizide, 700 Menschen werden täglich Opfer von häuslicher Gewalt, die Zahl schwerer sexueller Übergriffe erreichte einen Höchststand.

Diese Zahlen lassen sich nicht nur mit einer höheren Anzeigenbereitschaft erklären. Der Anstieg der Fallzahlen ist real. Denn auch das ist eine traurige Wahrheit von #MeToo: Für jeden emanzipatorischen Fortschritt gab es einen Rückschritt. Das Patriarchat ist ein harter Gegner, der bei jeder Errungenschaft mit doppelter Kraft zurückschlägt.

Reden allein reicht schon lange nicht mehr

Umso wichtiger, dass wir diesen Fällen immer wieder Aufmerksamkeit schenken und sie nicht einfach als Teil unseres Alltags akzeptieren. Wir dürfen nicht aufhören, darüber zu reden. Aber reden allein reicht schon lange nicht mehr aus. Die feministische Forderung nach einem gesellschaftlichen Wandel droht zu einer Worthülse zu verkommen, weil sie kontinuierlich wiederholt wird, es aber von politischer Seite kaum Reaktionen darauf gibt. Ihr Schweigen dröhnt mindestens so laut wie das der Männer.

In Frankreich haben sich ein paar Wochen nach Prozessbeginn zwar ein paar Politiker_innen zu verurteilenden Worten durchringen können und eine parlamentarische Kommission wurde eingerichtet, doch konkrete Schutzmaßnahmen oder Gesetzesänderungen sind bislang nicht geplant. Ein Skandal könnte man meinen, wenn nicht einmal ein so drastischer Fall die Politik aufrütteln kann. Doch das ist kein spezifisch französisches Problem, auch in Deutschland läuft es nicht besser.

Dabei fing die Ampelregierung vielversprechend an. In ihrem Koalitionsvertrag versprach sie uns das Jahrzehnt der Gleichberechtigung. Darunter verstand sie die Stärkung ökonomischer Gleichstellung, die Freiheit von Gewalt und Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Die Hälfte dieses Jahrzehnts ist nun fast erreicht, doch die Erfolge blieben überschaubar.

Wieso wurde noch kein Notstand ausgerufen?

Als ein mutmaßlicher Islamist auf einem Stadtfest in Solingen Ende August drei Menschen tötete, begaben sich die Parteien in einen Überbietungswettbewerb der Asylverschärfungen. Fünf Tage später stellte die Regierung ein Maßnahmenpaket zu Sicherheit und Asyl vor. Auch wenn dies die falschen Reaktionen sind, zeigen sie, dass Politik durchaus handlungsfähig sein kann. Als wenige Tage später ein Mann in Essen aus misogynen Motiven 31 Menschen verletzte, zwei Wohnhäuser anzündete, mit einem Lieferwagen in Geschäfte fuhr und mit einer Machete durch die Straßen zog – war das fünf Tage später schon wieder in Vergessenheit geraten. Dass in der gleichen Zeit in Berlin innerhalb weniger Tage zwei Frauen von ihren Ex-Männern getötet wurden, haben die wenigsten überhaupt mitbekommen. Dabei stellt sich eigentlich jeden Tag die Frage: Wieso wurde noch kein Notstand ausgerufen?

Gleichberechtigung in zehn Jahren zu erreichen und damit geschlechtsspezifische Gewalt zu überwinden, ist ein ambitioniertes Ziel. Doch es gäbe so viele wirksame Maßnahmen, die nichts mit höheren Gefängnisstrafen, strengeren Überwachungen oder schärferen Asylgesetzen zu tun haben. Ein verpflichtender systematischer und sensibler Umgang durch Polizeibeamt_innen bei häuslicher Gewalt sowie flächendeckende anonyme Spurensicherung wären ein erster Schritt. Die Einführung einer Koordinierungsstelle für alle Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt sowie runde Tische für Hochrisikofälle können Leben retten.

Auch ein breiter Ausbau von (präventiver) Täterarbeit ist dringend notwendig. Und solange die Bundesregierung nicht allen Frauen bezahlbaren Wohnraum und finanzielle Unabhängigkeit garantieren kann, muss sie dafür sorgen, dass es ausreichend Schutzräume für Gewaltbetroffene gibt. Einer Anfrage der Linkspartei zufolge fehlen aktuell 14.000 Frauenhausplätze.

Dass diese Schritte notwendig sind, hat Deutschland längst eingesehen, ihre Umsetzung schon 2011 mit der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention vertraglich zugesichert. Doch fragt man beim Bundesfamilienministerium nach, wie die Umsetzung vorankommt, welche Maßnahmen gegen die verschärfte Gewaltsituation akut ergriffen werden oder was passieren muss, damit wir die Gleichstellung bis zum Ende des Jahrzehnts erreichen, verweist eine Sprecherin immer wieder auf das geplante Gewaltschutzgesetz. Damit gäbe es in Deutschland erstmals einen Rechtsanspruch auf Beratung und Schutz bei geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt.

Das Gesetz ist tatsächlich ein wichtiges Vorhaben, das die Bundesregierung seit Jahren ankündigt. Zuletzt haben in der Sache Verbände, Initiativen und Prominente mit einem Brandbrief Druck gemacht, doch es lässt weiter auf sich warten. Ein Referentenentwurf liegt zwar vor, doch es laufen laut einer Sprecherin noch „regierungs­interne Abstimmungen“. Die Umsetzung in dieser Legislaturperiode sei das Ziel.

Männer sind hier ganz besonders mitgemeint

Der Gesellschaft bleibt nur die Hoffnung, dass das gelingt. Denn ob das Gesetz auch nach der nächsten Wahl käme, bleibt zweifelhaft. Momentan ist die CDU stärkste Kraft in den Umfragen und ihr Kanzlerkandidat Friedrich Merz, der 1997 gegen Vergewaltigung in der Ehe als eigenen Straftatbestand stimmte, nicht gerade als Feminist bekannt.

Gisèle Pelicot hat recht, wenn sie fordert: „Die Scham muss die Seite wechseln.“. Doch die Verantwortung muss es auch. Es kann nicht sein, dass auch diese noch auf den Schultern der Opfern liegt. Vielmehr sollten wir alle – und ja, hier sind Männer ganz besonders mitgemeint – die #MeToo-Welle nicht an uns vorbeiziehen lassen, sondern die neue Aufmerksamkeit nutzen, um die Regierungen zum Handeln zu zwingen.

Sieben weitere Jahre, in denen sich nicht wirklich etwas bewegt, können wir uns schlicht nicht leisten. Sie würden zu viele Gewaltopfer und Tote kosten.

Carolina Schwarz leitet das Ressort taz zwei und hat Mitte Oktober ein Buch zum Thema veröffentlicht. „#MeToo. 100 Seiten“ ist im Reclam-Verlag erschienen.

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Carolina Schwarz
Ressortleiterin taz zwei
Ressortleiterin bei taz zwei - dem Ressort für Gesellschaft und Medien. Schreibt hauptsächlich über intersektionalen Feminismus, (digitale) Gewalt gegen Frauen und Popphänomene. Studium der Literatur- und Kulturwisseschaften in Dresden und Berlin. Seit 2017 bei der taz.
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5 Kommentare

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  • Ja ja, aber den Elefanten im Raum sprechen wir nicht an.

  • "flächendeckende anonyme Spurensicherung" Da ich keine Ahnung hatte was damit gemeint ist: "Die Anonyme/Vertrauliche Spurensicherung ist ein Verfahren, das Opfern im direkten Anschluss an die Gewalttat ermöglichen soll, Tatspuren für ein mögliches späteres Strafverfahren zu sichern." Ohne hierbei die Polizei einschalten zu müssen.



    www.fu-nrw.de/arti...endlich-bundesweit

    Die verschiedenen Verbesserungsvorschläge trage ich mit, als Mensch wohlgemerkt, ich sehe nicht, weshalb ich als Mann hier besonders mitgemeint bin. Als ein keine Gewalt ausübernder Mann, bin ich nicht anders zu behandeln, als eine keine Gewalt ausübende Frau! Diese Gruppenhaftung ist nicht rechtsstaatlich. Asylbewerber sollte man ja auch nicht für die Taten einzelner in Haftung nehmen.

  • Warum sollte ich bei etwas mitreden was mich unter generalverdacht stellt?



    Ich bin bei höheren Strafen für solche abartigen Taten voll dabei, viel mehr Sinnhaftes sehe ich hier leider nicht was getan werden kann.

    • @Abraham Abrahamovic:

      "Warum sollte ich bei etwas mitreden was mich unter generalverdacht stellt?"



      Und warum reden Sie dann mit???

  • Johnny Depp und was Männer erleiden müssen, bevor manche zu Tätern werden gekonnt unter den teppich gekehrt.