Grünen-Politiker über die EU-Wahl: „Unsere Sprache war austauschbar“

Der Grüne Rasmus Andresen kritisiert Personaldebatten und Forderungen nach härterer Asylpolitik. Blinde Flecken seiner Partei beklagt aber auch er.

Die Parteivorsitzenden Omid Nouripour und Ricarda Lang verlassen mit den Rücken zur Kamera gewandt die Bühne der Grünen-Wahlparty in Berlin

Jubel sieht anders aus: Die Parteivorsitzenden Omid Nouripour und Ricarda Lang verlassen die Bühne der Grünen-Wahlparty in Berlin Foto: Christoph Soeder/dpa

taz: Herr Andresen, der Grünen-Vorstand will bald seine Analyse der verlorenen Europa-Wahl vorlegen. Wie groß ist Ihr Vertrauen, dass er die richtigen Schlüsse zieht?

Rasmus Andresen: Das Wahlergebnis war deutlich unter unseren Erwartungen und hat bei vielen in der Partei einen Schock ausgelöst. Ich habe schon den Eindruck, dass alle Seiten ernsthaft über Konsequenzen nachdenken. Ich vertraue darauf, dass es zu Änderungen kommt. Aber es gibt eine Kontroverse über die Frage, in welche Richtung sich Sachen ändern müssen.

Manche in der Partei sagen: Es braucht neue Leute im Vorstand.

Diesen Reflex erlebt man im politischen Berlin oft. Aber es greift zu kurz, das Ergebnis bei einzelnen Personen abzuladen. Das könnte uns sogar an einer tieferen Analyse der Ursachen hindern. Unser Ergebnis hat mehr mit unserem unklaren politischen Profil zu tun als mit Personen.

Manche in der Partei sagen auch: Robert Habeck muss jetzt zum Kanzlerkandidaten erklärt werden.

Eine Partei, die gerade unter 12 Prozent steht, sollte keine Zeit damit vergeuden, über Kanzlerkandidaten zu fabulieren. Im Wahlkampf haben mich die Leute auch nicht auf die Kandidatenfrage angesprochen, sondern auf Regierungskompromisse und ihre Alltagssorgen. Wir müssen darüber reden, wofür wir stehen wollen und wie wir unser Profil schärfen.

Dann mal los: Was ist für Sie der wichtigste Punkt?

Unter jungen Leuten und unseren Stammwählern haben uns Kompromisse bei grünen Kernthemen Vertrauen gekostet, zum Beispiel beim Klimaschutzgesetz. Wir haben es aber auch nicht geschafft, unsere Antworten auf die wirtschaftliche und soziale Verunsicherung der Gesellschaft zu vermitteln. Wenn ich an Schulen unterwegs bin, werde ich von jungen Menschen oft gefragt: Wie kann ich mir in Zukunft noch ein vernünftiges Leben leisten? Es gibt grüne Parteien in anderen europäischen Ländern, die mit sozialen Botschaften gute Ergebnisse eingefahren haben. Das sollten wir auch nach vorne stellen.

Was ist aber im Jahr 2024 die richtige Antwort auf die soziale Frage? Laut Umfragen war zwar für viele Menschen soziale Gerechtigkeit ein wahlentscheidendes Thema. Gleichzeitig stoßen Verbesserungen für Bürgergeldempfänger, für die sich die Grünen zuletzt starkgemacht haben, oft auf Ablehnung.

Ich finde es richtig, auch in diesem Bereich mehr zu machen. Aber wer sind die Leute, die wir als Grüne in den letzten Jahren erreicht haben und die sich jetzt abwenden? Das sind selten Menschen, die selbst im Bürgergeld sind. Das sind Menschen, denen die Miete zu schaffen macht oder die sich für ihre Familie kein Eigenheim mehr leisten können.

Oder es sind junge Menschen, die nach Corona und wegen ihrer Zukunftsängste mentale Probleme haben. Wohnen, Lebensmittelpreise, Therapieplätze: Solche Themen würde ich bei der sozialen Frage in den Mittelpunkt stellen. Menschen haben völlig zu Recht das Gefühl, dass unser Land in diesen Bereichen nicht mehr funktioniert.

38, sitzt seit 2019 im EU-Parlament und ist dort Sprecher der deutschen Grünen. Zuvor war der Parteilinke Vizepräsident des Landtags von Schleswig-Holstein.

Das sind dicke Bretter. Sie glauben wohl nicht, dass da in der Ampel noch viel zu machen ist?

Nein, aber dass man Kompromisse machen muss und als 15-Prozent-Partei in einer Koalition nicht alles durchsetzen kann, lässt sich den Menschen vermitteln. Es wäre nur wichtig, dass wir neben das Regierungsprojekt auch wieder eine eigenständige Profilierung stellen. Immer weniger Menschen erkennen, dass wir bei diesen Themen für Ziele kämpfen, die über den Koalitionsvertrag hinausgehen.

Die Haushaltseinigung vom Freitag, die in zentralen Punkten die Handschrift der FDP trägt, macht es wohl nicht leichter.

Die Einigung ist mit vielen Härten versehen. Dass sich die FDP trotz sozialer Probleme im Land wieder mit Steuersenkungen für Gutverdiener durchgesetzt hat, wird die Spaltung zementieren. Das macht es für uns in der Tat schwieriger, soziale Forderungen glaubwürdig zu vertreten.

Gleichzeitig sind wir die Partei in der Ampel, die für spürbare Verbesserungen für Menschen mit wenig Einkommen kämpft. Wir kommunizieren das aber nicht stark. Problematisch ist auch, dass aus unseren Reihen immer wieder Äußerungen kommen, die unsere Parteitagsbeschlüssen widersprechen und das Signal senden, dass es uns mit sozialer Politik doch nicht so ernst ist – Stichwort Rentenkürzungen oder Mindestlohn.

Cem Özdemir hat sich kürzlich dagegen ausgesprochen, den Mindestlohn auf 15 Euro zu erhöhen. Aber er will ja auch Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden, da muss man einen anderen Kurs fahren als der Rest der Partei.

Ich war selbst lange Landespolitiker und weiß, dass jedes Bundesland seine eigene Dynamik hat. Aber die Kollegen, die solche Äußerungen treffen, machen das bundespolitisch und nicht landespolitisch. Es schadet uns, wenn wir dann als unsozialer dastehen, als es unser Programm hergibt.

Laut Umfragen war auch die Mi­grationspolitik wahlentscheidend, und auch dazu gibt es kontroverse Wortmeldungen aus Baden-Württemberg. Winfried Kretschmann fordert von den Grünen „mehr Härte und Klarheit“ gegen irreguläre Migration. Was halten Sie davon?

Ich würde in der Bewertung darauf schauen, was in der Realität funktioniert. Die gerade erst beschlossene Verschärfung des EU-Asylrechts wird nicht den Effekt haben, der versprochen wurde. Sie wird das Leben vieler Menschen verschlechtern, ohne mehr Ordnung ins System zu bringen. Als Grüne haben wir aber vielleicht ein bisschen unterschätzt, wie das Thema in der Bevölkerung diskutiert wird.

Wie meinen Sie das?

Gerade von jungen Menschen höre ich oft Sorgen über die Funktionsfähigkeit des Staats. Dazu gehören neben der sozialen Infrastruktur oder dem ÖPNV auf dem Land auch Aspekte wie Kriminalität. Wir müssen also auch hier über Konsequenzen für unsere Politik reden. In der Asyldebatte haben wir meistens zwischen Grünen in Berlin, Stuttgart und Brüssel diskutiert, aber es nicht geschafft, die Diskussion auf die Lage vor Ort zu transferieren.

Was heißt das konkret, wenn es um Gewalttaten von Geflüchteten wie zuletzt in Mannheim oder Bad Oeyn­hausen geht?

Wir sollten da keine Schnellschüsse machen. Aber als Politik haben wir in den letzten Jahren unterschätzt, dass Menschen Angst haben, wenn in ihrem Umfeld Kriminalität passiert – durch wen auch immer. In Regionen, in denen das besonders stark empfunden wird, sollten wir die Sicherheitsbehörden stärken, aber auch in die Daseinsvorsorge, die soziale Infrastruktur und die Sozialarbeit investieren.

Die Strategiedebatte der Grünen dreht sich nicht zuletzt um Zielgruppen. Die einen wollen sich auf die Kernwählerschaft konzentrieren, die anderen stärker um die politische Mitte buhlen. Wen haben Sie mit Ihren Vorschlägen im Sinn?

Wir können mit 12 Prozent nicht zufrieden sein und sollten für die nächsten Jahre wieder den Bereich um 20 Prozent zum Ziel haben. Dafür müssen wir in unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft ausstrahlen. Wenn wir unser soziales Profil stärken, kann das zu einer massiven Ausweitung in Milieus führen, die uns bisher überhaupt nicht wählen. Wir müssen aber vor allem wieder die Leute ansprechen, die uns lange die Treue gehalten haben und die wir bei der Europawahl verloren haben.

Unsere Wahlkampagne zur Europawahl war stark darauf ausgerichtet, konservative Milieus für uns zu gewinnen. Unsere Sprache war austauschbar, unsere Plakate hätten auch von der CDU kommen können. Das hat aber nicht dazu geführt, dass uns diese neuen Milieus gewählt haben. Stattdessen sind angestammte Milieus zu kleineren Parteien gegangen oder haben gar nicht gewählt. Sie müssen wir wieder erreichen.

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