Fünf Monate AfD-Landrat in Thüringen: Rechter Nebel in Sonneberg
Etwas mehr als fünf Monate ist Robert Sesselmann im Amt. Die einen begrüßen den ersten AfD-Landrat bundesweit, andere organisieren Widerstand.
D er kleine türkische Supermarkt, ein Schokoladenladen gegenüber, das Kopfsteinpflaster, die prächtigen Gründerzeithäuser, und natürlich das Landratsamt mit seinen roten Ziegeln: Spaziert man vom Sonneberger Bahnhof in Richtung Innenstadt, kommt es einem so vor, als habe sich nichts verändert in der 23.000-Einwohner:innenstadt. Alles sieht noch so aus wie am 26. Juni, als der AfD-Politiker Robert Sesselmann die Landratswahlen gewann. Sesselmann ist der erste AfD-Landrat in Deutschland, seine Wahl versetzte das ganze Land in Aufruhr.
Mit einem Vorsprung von 5,6 Prozentpunkten setzte Sesselmann sich in der Stichwahl gegen seinen Konkurrenten Jürgen Köpper von der CDU durch. Was ist seit Sesselmanns Amtsantritt im Kreistag passiert? Und wie ist die Stimmung im Landkreis?
„Der Ton in Sonneberg ist rauer geworden“, sagt Philipp Müller, Linken-Abgeordneter im Sonneberger Kreistag. Bürger:innen hätten weniger Hemmungen, rechte Meinungen offen kundzutun. „Sie sagen Dinge nicht mehr hinter vorgehaltener Hand.“ Die Normalisierung rechtsextremer Ansichten sei nach der Wahl „unheimlich schnell“ gegangen, sagt Müller. Nach dem Motto: Wenn ein AfD-Politiker dieses Amt ausüben darf, dann sind auch die Positionen der AfD vertretbar.
Marcel Rocho – schwarzes Sweatshirt, Tattoos, Zigarette in der Hand – berichtet Ähnliches. Er lebt seit 25 Jahren im Landkreis und ist Inhaber des „Gewölbes“, einer urigen Kellerbar mit Backsteinwänden und niedrigen Gewölben, knapp 200 Meter vom Landratsamt entfernt. „Durch den AfD-Sieg haben die Rechtsextremen aus Sonneberg einen Fuß in die Mitte der Gesellschaft bekommen“, sagt Rocho. „Sie sitzen jetzt mit am Tisch.“ Weil der „AfD-Mist“ sagbarer geworden sei, könnten Neonazis ihre noch extremeren Ansichten kundtun, ohne gemieden zu werden. Diese Normalität sei „erschreckend“.
Es gebe Gaststätten, erzählt Rocho, da begrüßten sich die Stammgäste und der Betreiber mit „Heil“. In manchen Kneipen klebten Sticker mit der Aufschrift „Kein Bier für Linke“. Im Gewölbe hingegen klebt ein Sticker, auf dem steht: „Björn Höcke ist ein Nazi“. „Hier ist kein Platz für Extreme“, sagt der Barbetreiber. Er sitzt an einem Tisch in seiner Kellerbar, neben ihm seine Bulldogge. Anfang Juli, kurz nach dem AfD-Wahlsieg, hat die linke Punkband Feine Sahne Fischfilet hier ein Überraschungskonzert gespielt, um jene Menschen zu unterstützen, die bei der Landratswahl nicht für die AfD gestimmt haben.
Obwohl die Band den Ort des Konzertes erst wenige Stunden vor Beginn bekannt gegeben hatte, kamen mehr als 1.000 Leute. „Feine Sahne Fischfilet mussten vier kleine Konzerte hintereinander spielen, weil nicht alle Menschen auf einmal in die Bar gepasst haben“, erzählt Rocho, der die Veranstaltung zusammen mit Freund:innen organisiert hat.
Während des Konzerts von Feine Sahne Fischfilet sind Rocho und seine Freund:innen auf die Idee gekommen, einen Verein zu gründen: „Make Some Noise“, mach mal Lärm. „Wir wollen zeigen, dass Sonneberg mehr ist als AfD“, sagt Rocho. Die 14 Vereinsmitglieder organisieren Konzerte, Lesungen, Vorträge und Filmabende – Veranstaltungen also, bei denen Menschen zusammenkommen und sich austauschen. „Wir wollen uns für ein buntes und demokratisches Sonneberg starkmachen“, sagt der Barbesitzer.
Was der Verein hingegen nicht will: Stimmung gegen den AfD-Landrat machen. Das betont Rocho mehrmals im Gespräch. „Einfach nur zu sagen ‚Nazis raus‘, war schon immer dumm. Wohin denn mit ihnen?“, fragt er. Wenn man die AfD ignoriere und nicht mit ihren Wähler:innen spreche, dann sei „alles verloren“. Rocho hofft, mit den Veranstaltungen auch Menschen zu erreichen, die die AfD nur aus Protest gewählt haben. „Vielleicht sagt ja der ein oder andere, dass es nicht clever war, die AfD zu wählen, und entscheidet sich bei der Landtagswahl im Herbst 2024 für eine demokratische Partei.“
Ab kommendem Jahr möchten Rocho und seine Freund:innen auch politische Bildungsarbeit betreiben. Zum einen wollen sie Jugendlichen beibringen, wie sie geschickt auf rassistische oder diskriminierende Aussagen reagieren können. „Wenn der Onkel beim Familienessen rechtsextremen Mist erzählt, muss man nicht still sitzen bleiben und nicken“, sagt er. „Zum anderen wollen wir jungen Leuten verdeutlichen, dass es wichtig ist, zur Wahl zu gehen – und die eigene Stimme sehr wohl etwas bewirken kann.“ Bei der Stichwahl Ende Juni lag die Wahlbeteiligung bei 59,6 Prozent, Sesselmann hat mit einem Vorsprung von 1.572 Stimmen gewonnen – was bei rund 48.200 Wahlberechtigten nicht viele sind. „Wer nicht wählen geht, unterstützt immer Extremismus“, sagt Rocho.
Eine Person, die im Sommer nicht zur Stichwahl gegangen ist, ist die gebürtige Sonnebergerin Maike Schmidt, 38. „Ich wollte meine Stimme weder dem CDU- noch dem AfD-Kandidaten geben“, sagt sie, während sie an einem verregneten Novembertag in einer Buchhandlung in Sonneberg stöbert. Auch ihr Mann habe im zweiten Wahlgang nicht gewählt.
„Von der CDU waren wir enttäuscht, die AfD kam nicht infrage.“ Schmidt ist Sozialpädagogin und heißt in Wirklichkeit anders, ihren echten Namen will sie nicht in der Zeitung lesen. Sie trägt eine schwarze Winterjacke und ein türkisfarbenes Stirnband, ihr braunes Haar hat sie zu einem Zopf gebunden.
„Ich denke nicht, dass Robert Sesselmann Landrat geworden ist, weil hier alle die AfD gut finden“, sagt Schmidt. „Er ist Landrat geworden, weil es keinen attraktiven Gegenkandidaten gab.“ Gegen Sesselmann traten im ersten Wahlgang der damalige Amtsinhaber Jürgen Köpper von der CDU an, die parteilose SPD-Kandidatin Anja Schönheit sowie Nancy Schwalbach, gemeinsame Kandidatin der Linken und Grünen.
„Ich habe im ersten Wahlgang eine der beiden Damen gewählt“, sagt Schmidt. Wen, möchte sie für sich behalten. „Mir war aber von vorneherein klar, dass die Frauen wenig Chancen haben.“ Schönheit hatte keine Erfahrungen in der Kommunalpolitik, Schwalbach ist eine Zugezogene, die so gut wie niemand im Landkreis kannte. Beide schieden im ersten Wahlgang aus, Sesselmann erhielt die mit Abstand meisten Stimmen.
Die AfD hat es dieses Jahr bei mehreren Kommunalwahlen geschafft, im ersten Wahlgang auf Platz eins zu landen, etwa bei der Oberbürgermeisterwahl im thüringischen Nordhausen oder der Landratswahl in Dahme-Spreewald in Brandenburg. Anders als in Sonneberg konnten sich die Gegenkandidaten dort aber in der Stichwahl durchsetzen – in Nordhausen mit knapp 10 Prozentpunkten Vorsprung, in Dahme-Spreewald mit 30 Prozentpunkten. „In Dahme-Spreewald und Nordhausen hat man einen AfD-Sieg noch abwenden können, hier konnte und wollte man ihn nicht abwenden“, sagt Marcel Rocho, der Barinhaber aus Sonneberg.
In Nordhausen gab es nach dem ersten Wahlgang einen regelrechten Aufschrei. Besorgte Bürger:innen, Künstler:innen, soziale Vereine, Stadtratsmitglieder, der Studierendenrat der Hochschule sowie der KZ-Gedenkstätten-Leiter Jens Christian Wagner haben kurzerhand ein zivilgesellschaftliches Bündnis gebildet und heftig gegen die AfD mobilisiert – mit Demos, einem offenem Brief und einem großen Stadtfest.
Auch in Dahme-Spreewald ist die Zivilgesellschaft aktiv geworden. Lokale Unternehmen und Bildungseinrichtungen haben vor den wirtschaftlichen Folgen eines AfD-Landrates gewarnt und alle Wahlberechtigten dazu aufgerufen, „Extremismus und rechten Parolen eine Absage“ zu erteilen. Außerdem fand eine Demo unter dem Motto „Kein brauner Landrat – für ein buntes LDS“ statt, zu der unter anderem die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes aufgerufen hatte.
Und in Sonneberg? Blieb es ruhig. Die Kreisverbände der Linken, Grünen und SPD haben zwar zweckmäßig den Gegenkandidaten Köpper (CDU) unterstützt, große Protestaktionen gab es aber keine. „Wir haben uns dieses AfD-Stigma selbst verpasst“, sagt Barbesitzer Rocho. Nun müsse man sehen, „wie man die Außenwirkung etwas relativieren kann“. Denn: „Nicht alle Menschen in Sonneberg sind rechtsextrem.“
Ein Gespräch mit der taz lehnt Sesselmann ab. Auf Facebook inszeniert sich der 50 Jahre alte Rechtsanwalt als gewöhnlicher Landrat – keine Fotos mit Höcke, keine rechtsextreme Hetze. Lieber postet er Bilder von einem Mittelalterfest, einer Modellflugschau oder der Einweihung eines Spielplatzes. Auf anderen Fotos sieht man, wie Sesselmann Hände schüttelt und lokalen Vereinen Umschläge überreicht.
Beim Scrollen durch Sesselmanns Profil fällt auf, dass er sich ständig für Einladungen zu Festen bedankt, etwa bei der Feuerwehr Piesau, der Kirmesgesellschaft Theuern oder dem Backofenverein Mupperg. So als wolle er demonstrieren, dass die Sonneberger:innen ihn nicht nur akzeptieren, sondern auch mögen.
Auf der Bühne rechts
Nur vereinzelt lässt Sesselmann auf seinem Facebook-Profil durchblicken, dass er zur AfD gehört. Zum Beispiel dann, wenn er ein Foto mit Steffen Kotré postet, dem rechtsradikalen Bundestagsabgeordneten aus dem völkisch-nationalistischen Flügel der AfD, der bei der Landratswahl in Dahme-Spreewald antrat. Oder wenn er dem AfD-Mann Jörg Prophet viel Erfolg für die Oberbürgermeisterwahl in Nordhausen wünscht. Den Namen seiner vom Thüringer Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuften Partei erwähnt Sesselmann in seinen Beiträgen allerdings nie.
Ganz anders als auf Facebook gibt sich der Landrat, wenn er bei AfD-Veranstaltungen auf der Bühne steht. Am Tag der Deutschen Einheit, wenige Tage vor der bayrischen Landtagswahl, spricht er bei einem Wahlkampfauftritt im Mödlareuth von „Klimawahnsinn, „Gender-Gaga“ und „Migrationsirrsinn“. Das ist in einem Facebook-Video der Sonneberger AfD zu sehen. Steuergelder sollten Sesselmann zufolge für „unsere Leute“ eingesetzt werden, nicht für „die Flüchtlinge“. Er fordert Sach- statt Geldleistungen für Asylsuchende, mit Bargeld würden sie „Drogenhandel“ oder „illegale Geschäfte“ betreiben. Der Ampelregierung wirft er vor, eine „Deindustrialisierung“ herbeizuführen.
Im Sonneberger Kreistag trete Sesselmann „weiterhin sehr bürgerlich und gemäßigt“ auf, sagt der Linken-Abgeordnete Müller. Heidi Büttner von den Grünen bestätigt das. Seit Sesselmann Landrat ist, habe sich aber das Klima im Kreistag stark verändert, sagt sie. „Ich weiß bei etlichen Kreistagsabgeordneten der Fraktionen Pro SON/FDP und CDU nicht mehr, wie sie zur AfD stehen.“ Diese Unsicherheit sei „das Allerschwierigste“.
Von den Vorhaben, die Sesselmann im Landratswahlkampf angekündigt hat, hat er noch keines umgesetzt – was auch daran liegt, dass er vor allem mit bundespolitischen Themen geworben hat. Auf seinem Wahlkampfflyer forderte Sesselmann „Friedensverhandlungen mit Russland und ein Ende der Sanktionspolitik“, eine Energiepolitik „mit Sinn und Verstand“ sowie „eine sofortige Abschiebung krimineller und abgelehnter Asylbewerber“.
Seit Sesselmanns Amtsantritt fanden drei Kreistagssitzungen statt. Bisher macht er größtenteils Sachpolitik – in seinen Anträgen geht es zum Beispiel um „die Berufung eines ehrenamtlichen kommunalen Kreiswegewarts“, „die Neubesetzung des Ausschusses für Landkreisentwicklung, Wirtschaftsangelegenheiten und ÖPNV“ oder die „Fortschreibung des Investitionsplanes für den Straßenpersonennahverkehr“.Große Skandale gab es seit Sesselmanns Amtsantritt keine. „Das ist politisches Kalkül. Die AfD will zeigen, dass sie ein kommunalpolitisches Spitzenamt besetzen kann und alles so weiterläuft wie bisher“, sagt der Linken-Politiker Müller.
Sesselmann hat allerdings auch kaum eine andere Wahl. Will er politisch erfolgreich sein, muss er Sacharbeit machen, sich um Radwege, Schulen und Straßensanierungen kümmern. Natürlich könnte er auch rechtsextreme Anträge in den Kreistag einreichen. Aber erstens hat Sesselmann dafür immer noch seine Fraktion. Und zweitens entscheidet der Landrat nicht alleine, sondern braucht eine Mehrheit im Kreistag, um Dinge umsetzen zu können. Diese hat er aber nicht.
Die AfD ist mit neun Mitgliedern die drittgrößte Fraktion im Kreistag. Die CDU sowie die Fraktion Linke/Grüne haben jeweils zehn Sitze, die Fraktion Pro LK SON/FDP hat sieben, die SPD drei. Zwar hat Sesselmann auch ein Stimmrecht, eine Mehrheit bekommt er aber trotzdem nicht zusammen. Mit Blick auf die Thüringer Kommunalwahlen im Mai 2024 wäre es außerdem nicht klug, würde der AfD-Landrat stark parteipolitisch handeln. Schließlich will die AfD ihre Normalisierung vorantreiben und so ihre Anhängerschaft ausweiten.
Im September hat Sesselmann kurz sein wahres AfD-Gesicht gezeigt. Er hat versucht, Gelder für Sonneberger Demokratieprojekte zu streichen. Aufgrund der freiwilligen Haushaltskonsolidierung müsse der Landkreis sparen, so seine Argumentation. Daher wolle er den Förderantrag für das Bundesprogramm „Demokratie leben“ nicht unterschreiben. Seit 2015 ist Sonneberg Teil des Programms: Der Landkreis bekommt jährlich rund 250.000 Euro vom Bund, um damit Projekte zur Demokratieförderung und Extremismusprävention zu unterstützen. Im Gegenzug muss der Kreis 35.000 Euro Eigenmittel aufbringen.
Im Jugendhilfeausschuss sorgte Sesselmanns Vorhaben für heftige Kritik. Erst als die Mitglieder mit einem Sonderkreistag drohten, ruderte er zurück und unterschrieb den Förderantrag. Ohne Zustimmung des Kreistages hätte Sesselmann gar nicht entscheiden dürfen, dass Sonneberg aus dem Bundesprogramm aussteigt.
„Sesselmann ging es nicht ums Sparen, sondern darum, die Demokratieprojekte auszulöschen“, sagt Müller. „35.000 Euro sind bei einem Haushaltsvolumen von 117 Millionen Euro nicht viel Geld.“ Sesselmann habe ein rein ideologisches Ziel verfolgt. „Er wollte austesten, wie weit er gehen kann“, sagt der Linken-Politiker.Heiko Voigt (parteilos) ist Bürgermeister der Stadt Sonneberg und Mitglied der Fraktion Pro LK SON/FDP im Kreistag. In seiner Funktion als Bürgermeister habe Voigt regelmäßig mit Sesselmann zu tun, die Zusammenarbeit sei „sachlich, lösungsorientiert“ und laufe „auf Augenhöhe“.
Ulrich Kurtz hingegen, parteiloser Bürgermeister der Stadt Steinach im Landkreis Sonneberg, beschreibt Sesselmann als einen „Teilzeit-Landrat, der sich nicht entscheiden kann, was er will“. Bei manchen Veranstaltungen betone er, dass er nicht als Landrat spreche, sondern als AfD-Politiker – etwa bei einer Montagsdemo des extrem rechten Vereins „Sonneberg zeigt Gesicht“ Anfang Oktober oder einer AfD-Wahlkampfveranstaltung in Hessen im August. Landrat zu sein sei aber ein „24/7-Engagement“, sagt Kurtz.
Der Bürgermeister beschränkt die Zusammenarbeit mit Sesselmann auf „notwendige dienstliche Belange“, wie etwa eine Besprechung zu einem Straßenbauvorhaben. Zur Eröffnung der Steinacher Kirchweih, eines Volksfests, hat Kurtz den Landrat nicht eingeladen. „Zu einem Fest der Lebensfreude, Offenheit und Toleranz lade ich nicht den Vertreter einer Partei ein, deren Kerngeschäft in Hass und Hetze, Rassismus, Ausgrenzung und Spaltung besteht“, sagt Kurtz. „Meine Aufgabe als Bürgermeister ist es schon gar nicht, solche Leute zu hofieren, ihnen eine Bühne zu bieten.“
Sesselmann erschien trotzdem zum Steinacher Volksfest – wie in einem Video des rechtsextremen Compact-Magazins zu sehen ist. Weil Kurtz den Landrat in seiner Rede nicht willkommen hieß, begrüßte ihn später einer seiner Anhänger – was dem Bürgermeister zufolge „mit großem Beifall quittiert wurde“. Im Nachgang habe Kurtz Mails von „bis dato unbekannten Personen“ erhalten, die ihn dafür stark kritisierten.
Beim Kirchweihumzug zwei Tage später, so erzählt es Kurtz, hätten sich „ein paar AfDler“ mit Plakaten und Trillerpfeifen formiert. Außerdem habe es in der darauf folgenden Stadtratssitzung „eine große Diskussion“ gegeben. Ein FDP-Stadtrat habe dem Bürgermeister eine Missbilligung aussprechen wollen, weil Kurtz die demokratische Wahl Sesselmanns nicht anerkenne. Passend dazu hat die Steinacher FDP in ihrem Schaukasten einen Zettel aufgehängt, auf dem steht: „Schändlich, wenn ein Bürgermeister den anwesenden Landrat seines Kreises zur Eröffnung der Kirmes bewusst nicht begrüßt.“
AfD deutlich selbstbewusster
Thomas Heine ist stellvertretender Kreisvorsitzender der Linken und Abgeordneter im Sonneberger Stadtrat. Nach der Landratswahl sei die AfD-Fraktion deutlich selbstbewusster aufgetreten, sagt Heine. In einer Stadtratssitzung habe Roland Schliewe, der Fraktionsvorsitzende der Sonneberger AfD, einen Lokalreporter vom Freien Wort verbal angegriffen und ihn als „Nestbeschmutzer“ bezeichnet, „den man hier nicht braucht“. Der Reporter hatte in einem Kommentar vor den Folgen gewarnt, die ein AfD-Wahlsieg für den Landkreis hätte. „Ein solch ausfallendes Verhalten hat es seitens der AfD vorher nicht gegeben“, sagt Heine.
Die Frage, ob sich die rechtsextreme Szene im Landkreis nun mehr zeige, weil sie Rückenwind durch Robert Sesselmann habe, beantwortet der Linken-Politiker mit einem klaren Nein. „Auch vor der Wahl war die rechtsextreme Szene hier nicht wirklich sichtbar – zumindest verglichen mit Dessau in Sachsen-Anhalt, wo ich lange gelebt habe“, sagt Heine. Es wohnten zwar mehrere bekannte Rechtsextreme im Landkreis, etwa der Holocaust-Leugner Axel Schlimper. „Aber meines Wissens nach ist es nie zu offenen und gewaltsamen Konfrontationen“ gekommen.
Ende Oktober hat jedoch eine Gruppe vermummter Personen einen Sonneberger Kulturverein angegriffen, der sich klar gegen Rechtsextremismus positioniert. Nach Angaben des Vereins sind Steine und Flaschen geflogen, zwei Menschen hätten den Hitlergruß gezeigt. Fragt man Heine nach der Stimmung im Landkreis, sagt er, dass es „einige Leute“ gebe, die Sesselmanns Wahl als Erfolg sähen. Manche empfänden auch „eine gewisse Genugtuung“ gegenüber den Medien.
Heine zufolge hat die Berichterstattung vor der Stichwahl dazu beigetragen, dass viele Bürger:innen für den AfD-Politiker gestimmt haben, nach dem Motto: „Jetzt wähle ich die AfD erst recht.“ Als Beispiel nennt Heine die Spiegel-TV-Reportage, in der ein kräftiger Mann mit weißem Schnauzer vor laufender Kamera sagt: „Wenn bei den Wahlen die NSDAP wieder führt, dann komme ich wieder.“ Der Beitrag, so Heine, habe die Sonneberger:innen extrem verärgert. „Sie haben sich diskreditiert gefühlt und gleichgesetzt mit den Nazis, die in dem Film exemplarisch gezeigt wurden.“
„Er ist auch nur ein Mensch“
Welche Bilanz ziehen die Bürger:innen, die man in Sonnebergs Fußgängerzone antrifft? „Seit Sesselmann Landrat ist, hat sich hier nichts verändert“, sagt eine Frau um die sechzig, die bei „Bratwurst Frank“ Würstchen verkauft, einem Imbiss in der Fußgängerzone. Es ist ein kalter, verregneter Novembertag, der Himmel ist grau; auf den mit Laubbäumen bewachsenen Berghängen, die die Stadt umgeben, liegt dichter Nebel.
„Das Café da drüben hat zugemacht“, sagt die Bratwurstverkäuferin frustriert und zeigt auf ein nahegelegenes Gebäude. Auch der benachbarte Imbiss „Wunder’s Hüttla“ habe schließen müssen – „nach über hundert Jahren“. Der Besitzer habe aus gesundheitlichen Gründen aufgehört und keinen Nachfolger gefunden, „weil er einen Deutschen haben wollte“. Zu Sesselmann sagt sie: „Er ist auch nur ein Mensch.“ Dass er ein Politiker der AfD ist, sei ihr „wurscht“.
Vor dem Bratwurstimbiss stehen drei Menschen um einen Stehtisch: ein 14 Jahre alter Junge, der Leberkäse im Brötchen isst und dazu Vita Cola trinkt, eine 67-Jährige mit kurzen, violett gefärbten Haaren und ein 52 Jahre alter, korpulenter Mann. Während die Frau offen zugibt, Sesselmann gewählt zu haben, möchte der Mann für sich behalten, wem er seine Stimme gegeben hat. Der Junge, der die beiden Erwachsenen am Tisch gar nicht kennt, sagt: „Mir war’s egal, dass Sesselmann gewonnen hat.“
Fragt man in die Runde, was im Landkreis nicht gut laufe, antwortet der Mann, dass in Sonneberg „alles den Bach“ runtergehe, womit er auf den Leerstand in der Innenstadt anspielt. Dann redet er über Geflüchtete. Er fühle sich mittlerweile fremd im eigenen Land. „Egal ob Tag oder Nacht, siehst du noch einen Deutschen auf der Straße?“, fragt er aufgebracht. „Nö“, antworten die Frau und der Junge.
„Ich bin ja nicht ausländerfeindlich“, sagt der Mann, aber so gehe es nicht weiter. „Als Deutscher bist du in deinem eigenen Land das fünfte Rad am Wagen.“ Die Frau und der 14-Jährige nicken. „Wenn du als Deutscher irgendwas brauchst, werden dir tausend Steine in den Weg gelegt. Bei Leuten, die eine andere Hautfarbe haben und eine andere Sprache sprechen, geht das innerhalb von einer Woche“, sagt der 52-Jährige. „Das ist ungerecht.“ Auch bei der Wohnungssuche würden „Ausländer“ bevorzugt – deswegen, weil die Vermieter wüssten, „dass sie das Geld vom Staat kriegen“.
Ein Stehtisch weiter isst ein Ehepaar um die 60 zu Mittag, das Sesselmann nicht aus Protest gewählt hat, sondern aus voller Überzeugung. „Wir wählen die AfD, seit es sie gibt“, sagt der Mann und beißt genüsslich in eine Bockwurst. Er hat breite Schultern, scharfe Gesichtszüge und eine Glatze. „Der Landrat macht seine Aufgaben vorbildlich“, sagt er bestimmt. Seine Frau isst stillschweigend ihre Bratwurst.
Dann läuft ein Mann um die 40 energisch auf uns zu, der vorher ein paar Meter abseits des Imbisses eine Bratwurst mit Senf gegessen hat. Zu seiner grünen Jacke trägt er eine Camouflage-Hose. „Sesselmann ist nicht nur AfD-Politiker, sondern auch Bürger dieser Stadt“, sagt er aufgebracht. „Viele Leute hier kennen ihn als Rechtsanwalt.“
Auch ein 71 Jahre alter Mann im Rollstuhl, der die Situation mitbekommen hat, nimmt Sesselmann in Schutz. „Er ist ein guter Mensch“, sagt der Rentner, dessen Finger gelb vom Rauchen sind. Er erzählt, wie er im Juni vor einem Wahlkampfstand von Sesselmann in der Sonneberger Innenstadt stehen blieb und zu ihm sagte, dass „ein Ausländer“ ihm 30 Euro aus seiner Tasche geklaut habe. „Wissen Sie, was Sesselmann gemacht hat?“, fragt der Rentner. „Er hat sein Portemonnaie herausgeholt und mir 30 Euro geschenkt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen