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Toxische Männlichkeit und MigrationOrientalische Luftschlösser

Gastkommentar von Fikri Anıl Altıntaş

Das Problem mit toxischer Männlichkeit wird gern auf Migranten abgewälzt. Dabei ist es ein umfassendes, das nur mit Feminismus zu lösen ist.

Jeder dritte Mann in Deutschland hat ein sexistisches Weltbild Foto: Malte Müller/getty images

N ach der Silvesternacht die Empörung. Deutschland gerät mal wieder aus den Fugen, und die Verantwortlichen sind schnell ausgemacht. Die Debatten über junge Männer aus der vermeintlichen Parallelgesellschaft, die aus der Bildungsferne ins Leben blicken, sind schon immer mühselig gewesen. Auch jetzt wieder. Wenn Friedrich Merz von „kleinen Paschas“ redet, die sich in den Schulen nicht im Griff hätten, Jens Spahn von „kulturell vermittelter toxischer Männlichkeit“ spricht, dann ist eine Intervention notwendig: für eine antirassistische und feministische Neuausrichtung von Männ­lich­keits­per­for­mance.

Denn die Debatten verlieren sich in der unermüdlichen Wiederholung bekannter Vorwürfe, weißer Ignoranz und bewusstem Desinteresse von Po­li­ti­ke­r*in­nen an Lebensrealitäten marginalisierter Menschen in Deutschland. Das Credo der Mehrheitsgesellschaft: Manche Männlichkeiten sind einfach nicht dazu gemacht, sich zu verändern.

Nicht in der Lage, sich aus ihrer vermeintlich festgefahrenen, antifeministischen Kultur und Religion zu befreien, die ihnen ultimative toxische Männlichkeit vorlebt. Die Debatten nach den Silvesternächten in Berlin oder Köln sind mittlerweile verankerte Politik. Racial Profiling, Rufe nach Law and Order und auch die rassistischen Morde von Hanau zeigen das nur zu deutlich.

So groß das Problem ist, so einfach scheint die Lösung: Toxische Männlichkeit wird in alter deutscher Tradition auf Mi­gran­t*in­nen abgewälzt. Wer so denkt, hat nichts kapiert. Toxische Männlichkeit kann nicht durch Recht und Ordnung „gelöst“ werden, es braucht zunächst ein Eingeständnis: Das Patriarchat betrifft auch Männer, und durch sie viele andere Menschen in ihrem Umfeld, die Gewalt erfahren. Mich macht es müde und wütend, dass das noch immer nicht überall angekommen ist.

Toxische Männlichkeit als gesamtgesellschaftliches Problem

Wer Männlichkeit verändern will, muss das als gesamtgesellschaftliches Problem begreifen. Männ­lich­keits­vorstel­lungen ändern sich ständig – oft auch zum Guten: Immer mehr Männer sprechen öffentlich über die Auswirkungen von Männlichkeit auf ihre Gesundheit und ihr Umfeld, wie der Fußballer Timo Baumgartl nach seiner Hodenkrebserkrankung. Selbst Bundeskanzler Scholz spricht von sich als Feminist. Vielen Männern scheinen auch durch #aufschrei und #MeToo zumindest ein wenig die Augen geöffnet worden zu sein.

Vieles bewegt sich aber auch in eine Richtung, die eigentlich der Vergangenheit angehören sollte. Im März 2022, kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, sprach Tobias Haberl in einem Spiegel-Artikel davon, dass „Pesto nicht vor Pistolen“ schütze. In den Medien wurden plötzlich Stimmen lauter, man müsse die Wehrpflicht wieder aufleben lassen, denn die Verweichlichung würde nicht nur den Männern schaden, im Zweifel auch Deutschland und Europa.

Das klingt nach Björn Höckes „Männlichkeit wiederentdecken“, nur in bürgerlich. Misogyne Figuren wie der Influencer Andrew Tate und der Psychologe Jordan Peterson erhalten online viel Zuspruch. Davon profitiert die AfD, die Hort vieler „Männerrechtler“ ist. Und selbst Rapper wie Kollegah gaben „Alpha-Mentoring“-Coachings für verunsicherte Männer.

Jeder dritte Mann hier hat ein sexistisches Weltbild

Die Ergebnisse der Leipziger Autoritarismus-Studien 2022 unterstreichen diese Entwicklung. Jeder dritte Mann in Deutschland hat ein geschlossenes, antifeministisches und sexistisches Weltbild. Kaum Aufregung darüber, im Gegenteil: Einfache Antworten für komplexe Sachverhalte zu finden, ist bequem, denn das heißt: An Männlichkeit muss sich nichts ändern, nur die Männlichkeit nichtweißer Männer ist ein Problem.

Deutschland spricht in kolonialrassistischer Kontinuität oft und gern von Menschen wie mir und dem „Orient“ – als sei er ein Familienmitglied, mit dem ich jeden Tag telefoniere, um zu beraten, wie ich heute Deutschland auf den Sack gehen könnte. Der Orientalismus ist ein Luftschloss, auf das eine weiße Mehrheitsgesellschaft gerne blickt, wenn sie erklären will, warum ich, durch Religion und Kultur gefangen, hinter deren Mauern zu stecken scheine. Männlichkeiten sind auch immer Ergebnis sozialer Bedingungen, aber das scheint wenig zu interessieren. Unsere Männlichkeiten sind lediglich Probleme, die es zu beseitigen gilt.

Als ich zu Männlichkeiten zu schreiben begann, lag für mich der unmögliche Versuch darin, mich als cis-hetero-türkisch-muslimischer Mann zu begreifen, der trotz und wegen Deutschland zu einer Männlichkeit gedrängt und geformt wurde, die viel Spaß daran hatte, sie zu performen, sie bisweilen zu lieben und Sicherheit darin zu finden. Damit meine ich nicht nur Fußball spielen oder zum 16. Geburtstag Shisha rauchen, sondern die Selbstverständlichkeit zu entwickeln, permanent Grenzen zu überschreiten.

Kampf gegen Rassismus ist auch ein feministischer Kampf

Wir brauchen keine neue Männlichkeit, bitte nicht, aber zumindest eine, die in den Spiegel schaut und merkt: Wir stehen vor einem Problem und müssen uns als Gesellschaft verändern. Das heißt aber auch zu realisieren, dass mit Rassismus noch nie feministische Utopien gelungen sind.

Fikri Anıl Altıntaş

ist Autor und schreibt über Männlichkeiten und Orientalismus. Sein Debüt „Im Morgen wächst ein Birnbaum“ erscheint im April im btb Verlag.

Alle Männer, und besonders „migrantische“, müssen verstehen, dass intersektionaler Feminismus auch für sie ein Ausweg sein kann. Weniger Druck verspüren, ständig hart sein zu müssen, weniger gewalttätig zu sein, mehr Zärtlichkeit in sich und mit anderen finden. Gleichzeitig gehört der Kampf gegen Rassismus eben auch dazu und auch, Teil feministischer Kämpfe zu werden.

Unsere Männlichkeiten werden politisiert, das heißt, wir müssen erst recht politisch werden – für eine feministische Zeitenwende, für die Gesellschaft und uns selbst. Gegen Luftschlösser, für eine postmigrantische, feministische Zukunft, die Männlichkeit in die Pflicht nimmt. Denn wir alle haben ein Problem mit dieser Gesellschaft, verändern können wir sie aber nur gemeinsam.

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28 Kommentare

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  • In Kombination mit den vom Autor früher hier schon dargestellten Erfahrungen mit tradierten Geschlechterrollen wird dann ein ganzes Paar Schuhe draus: taz.de/Rollenklisc...-stellen/!5686467/

    Es ist doch nicht nur die ominöse Mehrheitsgesellschaft (die in sich so vielfältig ist), die arme migrantische Jungs marginalisiert, es sind doch auch immer noch viele türkische (und andere) Omas und Mütter, die ihre männlichen Kinder von aller Care-Arbeit wie Abwasch und Badputz fernhalten und ihnen überkommene Männerbilder als Vorbild geben - den Mädchen ein entsprechend komplementäres. Ist das wirklich so anders als z.B. bei schlesisch-katholischen Familien in den 60ern und 70ern? Na, nicht wirklich. Da ist schon auch eigene, individuelle Loslösung gefragt.



    Und selbstverständlich die gesellschaftliche Möglichkeit, Anerkennung und einen Platz im sozialen Miteinander zu finden. Dass v.a. männliche Heranwachsende unabhängig von Herkunft, aber tendenziell abhängig vom sozialen Status der Eltern, eher mal deviant bis delinquent handeln und mehr Aufmerksamkeit brauchen, ist doch eine Binsenweisheit aller Sozialarbeiter, Pädagoginnen, Polizistinnen und Türsteher.

    Bisschen weniger Fingerzeigen hin und her und mehr sowohl-als auch wär fein.

  • Heuchelei wegen Einschüchterung wird mit Respekt verwechselt.



    Die Möglichkeit zum Konsum von Sextourismus wird mit (sexueller) Freiheit verwechselt.



    Gewalt gegen Kinder wird mit erhaltenswerter Tradition verwechselt.



    Rücksichtslosigkeit im öffentlichen Raum wird mit Selbstbehauptung verwechselt. Und so weiter...



    Diese anscheinend weltweiten Probleme müssen universal kritisiert werden können, ohne auf Gruppenzugehörigkeiten Rücksicht zu nehmen.

  • Ich glaube der Artikel hat auch ein zu simples Gesellschaftsbild. Ist es wirklich sinnvoll die weiß-europäische Mehrheitsgesellschaft gerade dann so zu betonen, wenn sie in Zahl und Einfluss am Zurückgehen ist? Beschreibt sich vieles nicht eher als Kampf zwischen Gruppen neuer Mehrheitsverhältnisse (zu denen sicher auch alte Gruppen gehören, aber eben nur noch "auch").

    Und: wenn außer der allgemeinen patriarchalen Männlichkeit keine kulturellen Aspekte vorhanden sein können: ist das nicht ein gefährliches Argument, weil es schnell dünn wird in der Argumentation anderen Gruppen kulturelle Korrekturen nahezulegen - z.B. einer weiß-europäisch-rassisitisch-kolonialen Kultur?

    Mir scheint es eine bessere Beschreibung unserer heutigen Gesellschaft, dass sie aus verschiedenen Kulturen besteht, die übereinander tief erschüttert und verunsichert sind. Das scheint mir sogar dominant eine kulturelle Sache zu sein - ohne das irgendeine Seite dabei falsch wäre, es passt nur nicht so gut zusammen.

    Viele Leute arbeiten daran, über das Ganze eine neue universelle Kultur zu setzen, in der die alten Gruppen und Kulturen alle verschwinden, aber es ist bis jetzt unklar, ob das klappt und ob es dann von allen als besser empfunden wird.

  • „ Das Patriarchat betrifft auch Männer, und durch sie viele andere Menschen in ihrem Umfeld, die Gewalt erfahren.“

    Richtig, aber das wird ja zB gerade auch von denen geleugnet, die behaupten, dass sogenannte Ehrenmorde einfach unter dem Begriff Femizid abstrahiert und im großen Ganzen aufgelöst werden können.

    Natürlich kann man nach Gemeinsamkeiten unter diversen Phänomenen schauen und sie darunter subsumieren. Aber manchmal sind die Unterschiede zwischen den Phänomenen eben auch wichtig, gerade bei der Suche nach Lösungen. Das kann auch für kulturelle Unterschiede gelten.

  • Ich denke wir sollten generell umdenken und im Kriegsfall die Grenzen nicht nur für Männer schließen.

    • @Dr.B:

      Wir haben die Grenzen für Männer geschlossen und lassen nur Frauen rein? Wenn sie auf die Ukraine anspielen, die haben ihre Grenzen für Männer selbst dicht gemacht, nicht wir. Eine schräge Vorstellung von Geschlechtergleichheit haben sie.

    • @Dr.B:

      Ist das Humor oder kann das weg?

  • "mich als cis-hetero-türkisch-muslimischer Mann zu begreifen, der trotz und wegen Deutschland zu einer Männlichkeit gedrängt und geformt wurde, die viel Spaß daran hatte, sie zu performen, sie bisweilen zu lieben und Sicherheit darin zu finden." --> Interessante Aussage. Hier findet sich ja verklausuliert exakt das, was der Autor selbst zuvor als rassistisches Klischee geißelt:

    Es gibt einen Teil der vorderasiatisch-nordafrikanischen Migranten, für die toxische Männlichkeit insbesondere in Deutschland ein Lebensinhalt ist. Nicht einmal der Autor - der sich jetzt gegen diese Kultur ausspricht - war scheinbar als Jugendlicher davor gefeit.

    Zunächst einmal gilt natürlich dem Autor absoluter Respekt für Selbsterkenntnis und Veränderungswillen hin zum Feminismus und der Kultur der Gleichberechtigung.

    Warum es aber - angesichts derartiger Eingeständnisse - Rassismus sein soll, das Problem mit einem Teil der Migranten in Deutschland zu benennen, erschließt sich dann noch weniger. Es gibt offenkundig einen Teil der Migranten oder Kinder und Enkel von Migranten, die Gewalt und "permanente Grenzüberschreitung" (gemeint sind wohl Gesetzesbrüche) als Teil ihrer Männlichkeitskultur sehen. Um dieses Problem anzugehen, muss man es doch zunächst einmal benennen dürfen.

  • Mehr Zärtlichkeiten in sich oder andere zu finden? Keine feministische Lösung - FLINTA* lässt grüßen. Möchte Mann Zärtlichkeit in anderen finden, kommt der Vorwurf schnell, Zärtlichkeiten von anderen Personen sind nicht einforderbar oder ist die Vorstufe davon.

    Den Rest kann man so stehen lassen.

    • @Troll Eulenspiegel:

      Ich glaube, dass der Aspekt der Zärtlichkeit hier grundlegender gemeint ist. Zärtlichkeit gehört nicht unbedingt zum klassischen Männlichkeitsbild, sondern eher Stärke, Panzerung, die Verleugnung eigener Bedürfnisse nach Zärtlichkeit, Schutz und Nähe.



      Allzu oft wird das Bedürfnis nach Zärtlichkeit, Nähe, Intimität, Geborgenheit etc. in tradierten Männlichkeitskulturen vor allem über Sex und Sexualität 'gelöst' bzw. damit gleichgesetzt und dadurch auch auf Sex reduziert. Nicht umsonst gehen nicht wenige Männer zu einer*einem Sexarbeiter*in, um Intimität (und nicht unbedingt Sex) zu erfahren, wollen reden oder im Arm gehalten werden. Was dabei jedoch auffällt ist, dass Männer häufig über keine Sprache verfügen, um zwischen diesen Facetten zu differenzieren und das hat Auswirkungen auf den Umgang mit den eigenen Bedürfnissen.



      Insofern spricht der Autor durchaus ein wichtiges Thema in Bezug auf gängige Formen von Männlichkeit an.

      Abgesehen davon macht es für mich einen zentralen Unterschied, ob ich für mich und ggf. gegenüber anderen ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit äußere oder ob ich es mit dem Anspruch der Befriedigung gleichsetze. Erstmal wäre wichtig, dass Männer ihre Bedürfnisse überhaupt erkennen und artikulieren können. Wie diese (und durch wen) sie zu befriedigen sind, steht dann nochmal auf nem ganz anderen Blatt. Es ist aber mitnichten so, dass Feminist*innen Männer per se dafür angreifen oder kritisieren würden. Was kritisiert wird, ist ein Anspruchsdenken an andere.

    • @Troll Eulenspiegel:

      Sie interpretieren das "finden" als einseitige Aneignung. Ich habe es so verstanden, dass Männer, die mit mehr Empathie und ja auch Zärtlichkeit auf andere Menschen zugehen, auch mehr Empathie und Zärtlichkeit erfahren. Es kann entspannend sein sich, auf Augenhöhe wertzuschätzen, statt immer das Subordinationsverhältnis aufrechterhalten zu müssen. Kuscheln kann sehr glücklich machen, es muss nicht der pornolike Analsex sein ...;-)

      • @BluesBrothers:

        Keine Frage, auch Kuscheln macht glücklich. Man sollte aber bitte keine Kuschelsuchenden oder denen die einfach nur empathisch sind toxische Männlichkeit zuschreiben oder sonst irgendeine Aneignung hineininterpretieren. Weil das bringt genauso wenig, wie in dieser Debatte ausländische Jugendliche mit toxischer Männlichkeit assoziieren.

        Alle jugendliche Ausländer verhalten sich wie Andrew Tate, alle Dauersingles sind Incels: Problemlösung gleich null.

  • "Das Credo der Mehrheitsgesellschaft: Manche Männlichkeiten sind einfach nicht dazu gemacht, sich zu verändern." Wo ist dies das Credo der Mehrheitsgesellschaft?

    "Männlichkeiten sind auch immer Ergebnis sozialer Bedingungen, aber das scheint wenig zu interessieren."



    Das ist absolut richtig, volle Zustimmung. Allerdings bringt es auch nichts, die vorhandenen Probleme, die der Artikel ja selbst benennt, damit zu relativieren, dass man - zugespitzt - sagt, ihr seid auch nicht besser. Ich denke auch, dass die Debatte von rassistischen Klischees durchzogen ist, aber eine kritische Auseinandersetzung würde für mich auch bedeuten, gemeinsam nach Lösungen für diese strukturellen Probleme zu suchen. Nur dafür müsste man sie erstmal anerkennen und zwar in den Reihen der migrantischen wie weißen Gesellschaft. Der Artikel wirkt dahingehend eher reflexhaft abwehrend und tendenziell passiv. Ja, sozio-ökonomische Verhältnisse prägen, aber eben nicht so, dass es keine Handlungsspielräume gibt. Das zeigen auch die Beispiele in Köln und Berlin, es war eben eine problematische Minderheit, aber mit der (und ihren Problemen) muss man sich beschäftigen.

    "Wir brauchen keine neue Männlichkeit, bitte nicht, aber zumindest eine, die in den Spiegel schaut und merkt: Wir stehen vor einem Problem und müssen uns als Gesellschaft verändern."



    Wieso braucht es keine neue Männlichkeit? Verändert sich Männlichkeit nicht gerade, wenn sie ihre eigenen Verhaltensweisen und Problematiken kritisch reflektiert? Insbesondere unter feministischen Vorzeichen? Das klingt für mich eher wie "wasch mich, aber mach mich nicht nass!" Es braucht gerade Anerkennung von Männlichkeiten, die jenseits heteronormativer-maskuliner Stereotype funktioniert.

    Grundsätzlich stimme ich dem Schlusstenor des Artikels zu, weil dies sicher nur gemeinsam und solidarisch funktioniert.

    • @White_Chocobo:

      Zustimmung!

      Es gibt in Deutschland den oft zu beobachtenden diskursiven Trick, konkrete Probleme im großen Ganzen, im Abstrakten, aufzulösen, um sich nicht mehr mit ihnen befassen zu müssen. Das verstellt dann auch die Lösung. Denn wenn immer erstmal das Patriarchat/der Kapitalismus/Krieg als solcher überwunden werden muss, wenn die Lösung also immer nur der ganz große Wurf sein muss, wird man blind für die Möglichkeiten, erstmal konkretere, „kleinere“ Probleme zu lösen.

      Für die eine Seite des politischen Spektrums ist dann das Problem die Migration an sich, für die andere das Patriarchat an sich. Das hilft aber zB einer afghanischen Migrantin, die aufgrund spezifischer paschtunischer Vorstellungen von Familienehre von ihren Brüdern mit dem Tod bedroht wird, auch nicht weiter.

      • @Suryo:

        Ich würde die beiden Kommentare von Ihnen jederzeit unterschreiben.

        Ich leiste mir ergänzend die Anmerkung, dass es bei der Diskussion umd die Ereignesse der Silvesternacht nicht in erster Linie darum gehen kann, dass Patriarchat gesamtgesellschaftlich abzuschaffen.

        Es geht vorrangig darum, dass die Einsatzkräfte nicht mehr angegriffen werden.

        Und jemand, der voll im Patriarchat und in hierarchischen Familienstrukturen hängt, ist auf der Law-and-Order-Schiene recht gut ansprechbar.

        Rettet nicht die Welt, aber die Gesundheit der Einsatzkräfte.

        Die Welt kann man danach ja immer noch vom Patriarchat befreien.

  • Sie wollen die Gesellschaft verändern? Nun dann bekommen Sie Kinder und versuchen Sie diese nach ihren Vorstellungen zu formen. Und viel Spaß, wenn Sie an den Punkt gelangen, an dem Sie lernen, dass Kinder ihren eigenen Kopf haben und dass toxisches Verhalten nicht zwingend geschlechtsbezogen ist!

  • Mit dieser vorgeschlagenen verkopften und realitätsfremden Vorgehensweise löst man gar nichts.

    Einfach mal auf Güner Balci (Integrationsbeauftragte von Neukölln) hören, die hat dazu erprobte Vorschläge im Gepäck! Nur kommen die schlecht an, weil sie genau auf die Herkunft schauen, das thematisieren und heutzutage ist man damit ja bereits nicht weit entfernt davon, als Rassist gebrandmarkt zu werden.

    • @Herbert Eisenbeiß:

      Die Linke hat sich früher eigentlich sehr gern mit "Sozialisation" und ihrer Bedeutung für die Prägung des einzelnen Menschen interessiert.

      Aus irgendeinem Grund ist das aber abgemeldet, wenn es um andere Kulturen geht.

  • Whataboutism mit Whataboutism zu begegnen, entfacht eine zirkuläre Diskussion, die zu durchbrechen schwierig, wenn nicht gar unmöglich scheint. Wenn die Pole der Diskussion Paschas und koloniale Erzählung heißen und dazwischen nichts existieren darf, weil es der Gravitation dieser Begriffe erliegt, wird es schwierig. Ja, toxische Männlichkeit und Patriarchat sind leider nahezu auf der ganzen Welt zuhause. Die Ausprägungen variieren jedoch bisweilen stark. Kultur kann ein Codewort zur Verschleierung von Rassismus sein, ist aber auch Wirklichkeit, ist wirkmächtig. Menschen werden kulturell geprägt, was aber natürlich keinen Determinismus darstellt. Biodeutsche können zum Femizid genauso fähig sein wie Männer aus Afghanistan (wahlloses Beispiel). Trotzdem ist die Wirkung von erlebter Wirklichkeit in all ihren Ausformungen nicht zu verleugnen.



    Will heißen: Die normativen Gehalte der Sozialisation sind in ihren Grundkoordinaten natürlich auch abhängig von denen die das werdende Subjekt umgeben. Erziehung, Erfahrung, Machtverhältnisse sind prägend.

  • Meiner Meinung nach sollten Menschen und wir als Gesellschaft aufhören, von "ihrer Männlichkeit" bzw. "ihrer Weiblichkeit" zu sprechen, da es ungenau, spalterisch und missverständlich ist.

    Damit wäre schon viel gewonnen, denn die ständigen Erwartungen und der Druck einer Umgebung, die z.B. "Männlichkeit" definieren will, formen, verunsichern und verletzen alles und jeden, der sich ihnen beugt oder ihnen widerstrebt, wobei sie früher oder später Konflikte heraufbeschwören.

    Wir alle könnten uns ganz frei von sichtbaren und unsichtbaren Regeln selbst mit dem bezeichnen, was wir gerne wären, da es ja eh längst der Realität entspricht und wir duale Wesen sind, die immer mal das ein oder andere mal bisschen mehr mal bisschen weniger sind.

  • Ein Artikel, geschrieben aus geschätzt 10.000 m Flughöhe über das relevante Thema Männlichkeit, Sexismus, Feminismus, tradierte Rollenbilder im Orient und Occident....und 'die Gesellschaft', 'wir alle' müssen uns ändern.



    Leider ist unter der Rubrik 'Aufruf zum Weltfrieden' stets kein Weltfrieden in Sicht. Kurzum, so wird das nix.



    Habe eine gute Bekannte, also Ärztin, in einer Psychosomatischen 'Tagesklinik" und die hat überwiegend Frauen in ihren Sitzungen aus hier dargestellten Gründen. Kurzfassung: Deutsche und Türkinnen leiden eben nicht gleich unter dem Problem toxische Männlichkeit. Während die Deutschinnen Individualprobleme zu lösen haben haben die Türkinnen eben Krankheitsbilder wegen Grundsatzunzufriedenheit der Gesamtfamiliensituation, bzw. Familienübergreifende Problematiken in der Community.



    Und daher sind die Beschreibungen hier im Artikel aus meinem natürlich nicht repräsentativ wissenschaftlichen Erfahrungszusammenhang nicht zwingend zutreffend.

  • Wenn der Autor das Problem nicht benennen möchte weil er darin rassistische Zuschreibungen erkennen möchte, dann wird er das Problem halt auch nie los.

    In der Grundschulklasse meiner Nichte sind zwei Schüler, die die Lehrer tatsächlich nicht in den Griff bekommen. Das Problem sind deren Eltern, nur kommt man an diese nicht ran und das ist halt ein kulturelles Problem.

    • @DiMa:

      Das kann ich aus der Schule nur bestätigen.



      Gerade an die Familien, wo ein Gespräch dringend geboten wäre, kommt man oft nicht heran. Auf Einladungen zum Elternsprechtag wird nicht reagiert. Und diese Familien sind es auch oft wiederum, in denen sehr eindeutige Rollenbilder vermittelt werden. Aggressivität bei Jungen ist positiv konnotiert und begrüßenswert.

  • Es geht nur mit: Menschlichkeit! Mit dem Anerkennen von Schwäche, von mangelndem Selbstbewußtsein, mit der Anerkennung, daß Rollen zugeschrieben wurden über die Jahrtausende - heute noch wird die Gewalt in Kriegen, das Töten und Sterben, als für den Mann quasi als normativ angesehen. Männer, die desertieren, werden gebrandmarkt, Frauen nicht.



    Unabhängig davon: Mütter werden quasi verheiligt, da sie Leben gebären können - aber etwas, das man verheiligt, von dem man abhängig ist als Kind, kann auch Abwehrreflexe hervorbringen, Verachtung.



    Schwieriges Kapitel, geht nur mit Hilfe der Forschung, auch und vor allem der psychoanalytischen!



    Konkret beginnen muß es in den Familien: Väter an die Erziehungsfront, was Mütter aber auch zulassen müssen.

    • @Toni Zweig:

      Väter wollen doch in bestimmten Familien gar nicht an die Erziehungsfront.



      Da ist die Rollenverteilung klipp und klar aufgeteilt und die Männer hauen im Zweifelsfall auf den Tisch, aber alles andere ist für die Weiberkram, mit dem man sich nicht abgibt.

  • In vielen Punkten sicher richtig, an anderen aber deutlicher Widerspruch: kulturell vermittelte toxische Männlichkeit ist Fakt, keine Erfindung von Merz oder Spahn.



    Und Parallelgesellschaften existieren real, keineswegs vermeintlich. Diese Dinge zu ignorieren, trägt nichts zur Lösung des Problems bei. Es macht wenig Sinn, nur mit den Menschen zu sprechen, denen das Problem ohnehin schon bewußt ist. Wenn man nicht diejenigen erreicht, die die toxische Männlichkeit auf den Schulhof tragen, erreicht man überhaupt nichts.

    • @Brobdignag:

      Auf dem Schulhof lässt sich auch "schön" beobachten, wie sich die Jungs gegenseitig in ihrer toxischen Männlichkeit bestärken.



      Das ist systemisch und der einzelne Junge kann sich da oft schwer 'raushalten.



      Wenn das außerdem bereits zuhause vermittelt wird - der Junge ist der Prinz und das Mädchen für die Ehre zuständig - dann wird es ganz schwer, diese Zuschreibungen aufzubrechen.



      Wer in der Schule arbeitet, kann diese unguten Mechanismen jeden Tag live erleben.



      Und Andrew Tate wird von den entsprechenden Jungs rezipiert. Das hat in gewissen Kreisen Strahlkraft und verfängt.

    • @Brobdignag:

      Hört sich plausibel an und ist sicher auch in großen Teilen richtig. Dennoch kann man in der Tat ignorant, oder sagen wir freundlicherweise blind sein, seiner eigenen Priviligien und Einstellungen gegenüber.



      Wenn sich also immer nur ein kleiner Teil der Gesellschaft fragt, ob man sich seiner Werte entsprechend verhält, wird es gradezu unmöglich, hier Fortschritte zu machen.