Konflikt zwischen Russland und Ukraine: In der Vorkriegszeit

Jeden Tag gibt es neue düstere Vorhersagen darüber, wann ein Krieg in der Ukraine beginnen könnte. Warum die Stimmung so bedrohlich erscheint.

Eingemummelte Ukrainerin in Kiew bei einer Demo

In Kiew machen diese Frauen keinen Hehl aus ihrer Abscheu gegen Putins Militäraufmarsch Foto: Efrem Lukatsky/ AP

Greift Russland am 16. Februar die Ukraine an, direkt nach der Abreise von Bundeskanzler Olaf Scholz aus Moskau? Oder am 20. Februar, während der Abschlusszeremonie der Olympischen Winterspiele in China? Oder an einem anderen Tag? Oder überhaupt nicht? Wir wissen es nicht. Jeden Tag gibt es neue düstere Vorhersagen darüber, wann der große Krieg in der Ukraine beginnen könnte. Jeder Tag vergeht in quälender Ungewissheit. Aber wenn es einmal Gewissheit gibt, wird es zu spät sein.

Natürlich kann man die vielen Prophezeiungen über einen russischen Angriff als Hysterie abtun. Man sollte dann aber auch eine überzeugende alternative Erklärung dafür vorbringen, warum Russland an der ukrainischen Grenze so viele Soldaten zusammenzieht wie seit Jahrzehnten nicht mehr an einem Ort; wieso für angeblich ganz normale Manöver modernste Luftabwehr aufgestellt und Sanitätskapazitäten wie für den Ernstfall bereitgestellt werden; und warum zeitgleich zum Aufmarsch von 140.000 Soldaten an der Grenze zu einem Nachbarland, dessen Existenzrecht als souveränen Staat Russland bestreitet, ein massives Aufgebot an Kriegsschiffen im Schwarzen Meer in Stellung gebracht worden ist.

Genau so sehen Kriegsvorbereitungen aus.

Wladimir Putin weiß als geschulter Geheimdienstler: die beste Art, eine fragwürdige Operation durchzuführen, besteht darin, es ganz offen zu tun. Das Offensichtliche erweckt weniger Misstrauen als ein Verschleierungsversuch. Die Propagandakampagne, die eine militärische Aktion jedweder Art im Nachhinein zugleich leugnen und rechtfertigen wird, läuft in sozialen Medien bereits auf Hochtouren.

Klare Warnungen vor den Plänen Russlands

Und natürlich kann man immer behaupten, dass Geheimdienstinformationen der USA beispielsweise über abgehörte russische Funksprüche, die auf einen Kriegsbeginn mit Raketenangriffen auf Kiew am kommenden Mittwoch hindeuten, Lüge sind oder auch gezielte Desinformation. Aber diejenigen, an die sich diese Berichte richten, nehmen sie seit ein paar Tagen deutlich ernster als vorher. Als die ersten Länder begannen, Familienangehörige diplomatischen Personals aus Kiew abzuziehen, wurde das von anderen noch belächelt. Inzwischen lächelt niemand mehr. Selbst das unerschrockene Israel bittet seine Landsleute um die sofortige Ausreise, das coole Kanada evakuiert seine komplette Botschaft aus Kiew nach Lviv, Fluglinien verlieren ihre Versicherung beim Durchqueren ukrainischen Luftraums.

Das sind neue, beunruhigende Töne. Denn es sind nicht nur Ängste, sondern bereits reale Konsequenzen.

Man darf Angst vor Blutvergießen nicht relativieren mit dem Hinweis darauf, man bleibe doch mit dem Aggressor im Gespräch. Auch am Vorabend des Ersten Weltkrieges gab es jede Menge geschliffene Diplomaten, die davon überzeugt waren, sie täten alles für den Frieden – und ohnehin sei das Europa des Jahres 1914 viel zu zivilisiert für einen großen Krieg.

Vorkriegsstimmung baut sich schleichend auf. Erst ist alles weit weg, zeitlich wie räumlich. Man liest oder sieht Berichte darüber und denkt: Zum Glück geht mich das alles nichts an oder nicht direkt. Und irgendwann werden aus abstrakten Warnungen plötzlich und unvermittelt reale Gefahren. Aus der Frage „Wie können wir den Krieg verhindern?“ wird die Frage „Wie schützen wir uns?“. Aus Krisendiplomatie wird Selbstschutz. Bevor man es gemerkt hat, ist der Weg zurück versperrt.

Gibt es noch einen gesichtswahrenden Ausweg?

An diesem Punkt befindet sich die Welt heute. Das heißt nicht, dass die andauernde Telefon- und Reisediplomatie mit Moskau ihren Sinn verloren hätte. Jede Stunde, die ein westlicher Staats- oder Regierungschef im Kreml verbringt, ist eine Stunde weniger für das Erteilen eines russischen Angriffsbefehls. Die westliche Dauerbeschallung mit Warnungen vor dem einen oder anderen Angriffsplan hat den möglicherweise nicht intendierten, aber zu begrüßenden Effekt, dass das russische Militär sich immer neue Gedanken machen muss.

Und jeder verbale Austausch mit einem Amtskollegen, wie fruchtlos auch immer, ist auch eine Gelegenheit für Wladimir Putin, sich einen gesichtswahrenden Ausweg aus der selbstgestellten Falle der militärischen Alternativlosigkeit zu basteln.

Denn auch Putin müsste eigentlich wissen: Sein Regime könnte zwar einen Krieg gegen die Ukraine im Handumdrehen militärisch gewinnen, aber es würde weltpolitisch und bald auch innenpolitisch alles verlieren. Ihm das klarzumachen, ist die einzige Aufgabe, die der Diplomatie noch bleibt. Aber man sollte sich keine Illusionen machen: Verhindern lässt sich ein Krieg dadurch nicht.

Deswegen ist es so wichtig, weiter Solidarität mit der Ukraine zu zeigen, und zwar nicht nur verbal. Darin besteht die einzige Chance, noch abzuwenden, dass man sich irgendwann an diese ruhigen Sonnentage Mitte Februar 2022 als die letzten Friedenstage in Europa erinnert. Die Chance schwindet mit jedem Tag.

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Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.

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