Sozialabbau in Deutschland: Besser, als wir denken

Der Sozialstaat? Kaputtgespart. Das Gesundheitssystem? Ausgedünnt. Kritik ist allgegenwärtig – aber auch falsch.

Nahaufnahme einer Person mit Mundschutz und blauen Handschuhen die ein Reagenzglas hält

Eine Krankenschwester mit Abstrichstäbchen in der Corona-Ambulanz Zwickau Foto: Sebastian Kahnert/dpa

Es ist wohl unvermeidlich: Nachdem am Beginn der Corona-Pandemie pragmatisches Handeln zur Einschränkung der Ansteckungsrate im Vordergrund stand, kommen nun die Schuldzuweisungen. Da werden Geister beschworen, die man schon immer für die Übel in der Welt verantwortlich machte, „die Chinesen“, der Kapitalismus oder die Globalisierung.

Für die Co-Vorsitzende der Fraktion der Linken im Bundestag, Amira Mohamed Ali, ist es der Sozialabbau. Sie sagte in einem Interview mit der taz: „Es ist schon krass, wie die Probleme, auf die wir immer hingewiesen haben, jetzt wie unter einem Brennglas vergrößert werden. … Jetzt werden die Verwerfungen in diesem schlecht ausgestatteten Sozialstaat und dem kaputtgesparten Gesundheitswesen noch deutlicher sichtbar.“ Im selben Interview spricht sie sogar von einem totgesparten Gesundheitswesen.

Die große Erzählung, eine neoliberale Elite habe den sozialstaatlichen Konsens mutwillig gekündigt und den Abbau des Sozialstaats betrieben, ist weit verbreitet. Dies scheint so evident zu sein, dass es keines Beleges bedarf. In der jetzigen Pandemie geht es vorrangig um den Gesundheits- und Pflegebereich. Sozialabbau? Die Gesundheitsausgaben in Deutschland belaufen sich derzeit auf etwa 400 Milliarden Euro pro Jahr, also gut eine Milliarde Euro pro Tag. Ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt liegt heute bei 11,5 Prozent – zwei Prozentpunkte mehr als 1992.

Bezogen auf die aktuelle Wirtschaftsleistung ist das immerhin ein Mehraufwand von 70 Milliarden Euro. Was den Zugang zum Gesundheitswesen angeht, gilt Deutschland aufgrund des Rechts und der Pflicht zur Krankenversicherung als vorbildlich, 99,9 Prozent der legal dauerhaft in Deutschland lebenden Personen sind abgesichert.

Im Pflegebereich ist die Sozialabbauthese empiriefreie Empörung. In den vermeintlich neoliberalen Regierungsjahren von Helmut Kohl wurde die Pflegeversicherung als weitere Säule des umlagefinanzierten Sicherungssystems aufgebaut. Der Beitragssatz wurde von 1,7 Prozent im Jahr 1996 auf heute 3,05 Prozent(mit Beitragszuschlag für Kinderlose 3,4 Prozent) nicht ganz verdoppelt. Die letzte Anhebung um einen halben Prozentpunkt – immerhin ein Mehrvolumen von circa 8 Milliarden Euro – hat auf die Debatte zur Pflege keine Auswirkungen gehabt.

Das ist symptomatisch für die Sozialdebatte in Deutschland. Selbst substanzielle Verbesserungen werden kommentarlos abgehakt, wenn sie erreicht wurden. Die Mehraufwendungen sind durchaus notwendig. Die Zahl der Pflegebedürftigen nahm zu, weil der Pflegebedürftigkeitsbegriff erweitert wurde, um den Belangen demenziell erkrankter Personen gerecht zu werden.

Erheblicher Personalanstieg

5,6 Millionen Menschen arbeiten heute im Gesundheits- und Pflegebereich, im Jahr 2000 waren es erst 4,0 Millionen Menschen. Ein Teil dieses Anstiegs sind Teilzeitkräfte. Aber auch in Vollzeitäquivalenten gemessen gibt es seit 2000 einen erheblichen Anstieg, von 3,3 auf 4,0 Millionen. Nun ist es jedem unbenommen, dies für ungenügend wenig zu halten. Aber Frau Ali sagte nicht, in der jetzigen Krise zeige sich schmerzhaft, dass der Sozialstaat weniger stark ausgebaut wurde, als sie sich dies gewünscht hätte.

Trotz der Leistungen des Sozialstaats muss man nicht in Ehrfurcht erstarren, man darf darüber streiten, wie er weiter verbessert werden kann. Es gibt weiterhin große, ungenutzte Potenziale, den an sich gut ausgebauten Sozialstaat stärker, als dies heute gelingt, auf die Vermeidung sozialer Notlagen auszurichten. Gesundheitswesen und Pflege bleiben Reformbaustellen. Natürlich hat Frau Ali recht, wenn sie Tarifbindung für alle Pflegekräfte fordert. Aber auch hier herrscht nicht überall nur Elend.

Die Erfolge der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi bei den Verhandlungen für den öffentlichen Dienst hatten auch Signalwirkung für Träger im Sozialbereich, so sie denn tariflich vergüten. Die Fachkräfte in der Altenhilfe können bei der Vergütung nicht mit Top-Stundenlöhnen in der Industrie mithalten. Aber wie die Tarifarchive von Wohlfahrt intern und der Hans-Böckler-Stiftung zeigen: Die sozialen Dienstleister mit den besten Tarifen zahlen Altenpflegern mit Berufserfahrung ähnlich viel oder nicht wesentlich weniger als die Industrie ihren Fachkräften, etwa Chemikanten, Anlagemechanikern oder Betriebselektronikern. Es gibt aber auch tarifgebundene Pflegeeinrichtungen, die schlecht bezahlen, man kann es nicht anders sagen. Und es gibt weiterhin tarifungebundene Anbieter.

Pflegeversicherung als Vollkasko-System

Die weitere Verbesserung der Pflegequalität und die Sicherung guter Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte sind notwendig, um die Attraktivität des Pflegeberufs zu steigern, von Gründen der Fairness mal ganz abgesehen. Das ist besonders dringlich in jenen Heimen, in denen sich Pflegekräfte abhetzen müssen und wenig verdienen. Verbindliche Personalbemessungsschlüssel müssen überall durchgesetzt werden, sonst ist der Überlastung vieler Pflegekräfte nicht beizukommen; auch da kostet jede substanzielle Verbesserung viel Geld. Daher sollte man vorsichtig sein mit teuren Wünschen an anderer Stelle. Beliebt ist zurzeit die Forderung, die Pflegeversicherung zu einer Vollkasko-System weiterzuentwickeln. Es würde vorrangig aber diejenigen entlasten, die jetzt durch eine Zusatzversicherung privat vorsorgen oder, wenn die Pflegebedürftigkeit eintritt, ihr Vermögen einsetzen. Bei den Vermögenden wirkte dies als Erbenschutzprogramm.

Wir brauchen ohne Zweifel eine Debatte, was wir aus der jetzigen Situation lernen müssen. Es kann keine Vorsorge geben, die uns auch dann noch entspannt sein lässt, wenn sich ein Virus pandemisch ausbreitet, aber wir sind offensichtlich auf eine Pandemie dieses Ausmaßes nicht vorbereitet. Nur werden wir deshalb nicht in einem völlig anderen Sozialstaat landen. Einsatzpläne für eine Pandemie, den Abbau der Abhängigkeit von Lieferketten bei medizinischen Gütern, die in einer Krise zusammenbrechen können, mehr Koordination internationaler Forschung für Testverfahren und Impfstoffe, vieles ist zu diskutieren.

Aber man sollte in dieser Krise nicht den Sozialstaat diskreditieren. Das erzeugt Angst, weckt Erwartungen, die nach der Pandemie keine politische Kraft erfüllen kann, und arbeitet den populistischen Kräften in die Hände, die ohnehin mit der Verleumdung mobilisieren, die Politik würde sich um die Belange der Bevölkerung nicht kümmern.

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war von 2000 bis 2017 Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes

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