Wladimir Putins Russland: Mission erfüllt, Putin kann gehen
Die Bilanz von Russlands Präsident Putin ist verheerend – wirtschaftlich, demografisch und politisch. Das Adjektiv „russisch“ steht für Zerstörung.
R usslands Wladimir Putin glaubt wahrscheinlich selbst, dass es seine Mission sei, Amerika zu besiegen, eine neue Weltordnung zu schaffen, in der Russland das Sagen haben wird, und so weiter und so fort. Aber er irrt sich. Seine Mission war es, Russland zu vernichten. Und das hat er auch geschafft. Er kann nun in Frieden gehen.
Tatsächlich ist dies das Einzige, was er erreicht hat, sonst nichts. Die Wirtschaft schrumpft, die demografische Situation verschlechtert sich, die technologische Rückständigkeit vertieft sich, überall herrscht eine überwältigende Heuchelei – all dies sind Errungenschaften seiner Regierungszeit. Die Aufzählung ließe sich noch lange fortsetzen. Krieg und Massaker sind der Höhepunkt.
Die Novaya Gazeta ist Russlands älteste unabhängige Publikation. Nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine wurde sie verboten. Das Team der Novaya Gazeta Europe hat das Land verlassen, um ihre Arbeit fortsetzen zu können und denjenigen eine Stimme zu geben, die die Invasion niemals akzeptieren werden. In diesem Dossier veröffentlicht die taz Texte russischer Journalist:innen über das erste Kriegsjahr und seine Folgen für die Welt und für Russland, über die Veränderungen in der russischen Bevölkerung, wofür das Adjektiv „russisch“ heute und in Zukunft steht, und berichten über Menschen, die Widerstand leisten. Die Texte sind auf Initiative der taz Panter Stiftung entstanden und geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Es ist bereits das zweite Dossier mit Texten der Novaya Gazeta Europe in der taz. Das erste ist im Mai 2022 erschienen. Die Texte des ersten Dossiers finden sich hier.
Für die Welt ist ein Land verschwunden, mit dem man zusammenarbeiten und interagieren kann. Nun bleibt nur ein Gebiet, von dem eine Bedrohung ausgeht. Um diese abzuwehren, muss man sich zusammenschließen.
Ein Land ist mehr als ein Gebiet. Das Territorium geht nirgendwohin, und die Menschen werden zumeist auch bleiben: Selbst heute ist es keine Mehrheit, die Russland verlässt. Ein Land ist eine Kultur, eine Lebensweise, eine Identität, eine Art, in der Welt gesehen zu werden. Das Land ist ein Bindeglied zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit – Kontinuität –, und die Zukunft betrifft sowohl das, was heute ist, als auch das, was früher war.
Das Land nach dem Oktoberputsch 1917
Unser Land ist schon einmal verschwunden – es wurde von den Bolschewiken zerstört. Nach dem Oktoberputsch gab es ein Territorium, auf dem gewisser Wahnsinn stattfand, aber zu Russland, zu seiner Kultur, zu seiner Geschichte hatte das keinen Bezug mehr, außer zu den pathologischsten Momenten – wie der Zeit der Herrschaft Iwans des Schrecklichen.
Das Land wurde zu einer Negation der russischen Geschichte und Kultur, es tötete oder verbannte diejenigen, die das alte Land symbolisierten, und ließ die Erinnerung an diejenigen, die vor 1917 gestorben waren, in Vergessenheit geraten oder entstellte sie. Danach erlebte das Land jahrzehntelang eine lange und schmerzhafte Wiederbelebung – aber es gelang ihm nicht, jemals wieder ganz zu sich zu kommen.
Jetzt ist etwas ganz Ähnliches passiert. Bis vor Kurzem wurde das Wort „Russland“ sowohl mit schlechten als auch mit guten Dingen in Verbindung gebracht – Diktatur, Stalin, Lager, aber auch russische Kultur, Aufbruch ins All, Sieg. Aber das ist alles Vergangenheit. So wie einst die Worte „Deutschland“ oder „deutsch“ nicht mit Goethe oder den großen deutschen Wissenschaftlern, sondern mit der SS, dem wahnsinnigen Führer und den Öfen von Auschwitz und Treblinka assoziiert wurden, so wird heute alles, worauf das Adjektiv „russisch“ angewendet wird, nur als Tod, Zerstörung, Aggression und Lüge wahrgenommen. Und das wird lange so bleiben!
Das Land ist verschwunden. Und nicht nur das: Alles, was wir seit Ende der achtziger Jahre aufgebaut haben, ist zerstört worden. Es gibt keine russische Kultur. Ja, die Opernsaison der Mailänder Scala wurde mit Modest Mussorgsky eröffnet und Anton Tschechow wird an allen Theatern der Welt inszeniert. Aber wenn es früher hinter diesen Namen etwas gab, was man große russische Kultur nannte, so stehen Alexander Puschkin oder Pjotr Tschaikowsky heute für sich allein da, ohne Bezug zu einem kulturellen Kontext. Sie sind da, doch hinter ihnen gähnt nichts als Leere.
Es gibt auch keine russische Armee
Eine russische Armee gibt es nicht mehr, es gibt nur eine gefährliche bewaffnete Gruppe, die in der Ukraine den Tod sät. Denn eine Armee verteidigt ihr Land und agiert nicht wie Banditen in einem benachbarten Land, ohne ein anderes Ziel als die Verwirklichung vager Fantasien in der ersten Person. Eine moderne Armee ist eine Einheit und besteht nicht aus sich bekriegenden Privatarmeen. Eine moderne Armee hat Disziplin. Dort kommt es auch zu Exzessen, aber sie bestraft Vergewaltiger und Plünderer, anstatt sie zu ermutigen, eine Stadt zu plündern oder Einheiten von Verbrechern den Titel der Garde zu verleihen. Es gibt keine Armee mehr.
Mit dem Wort Russland verbindet man seit Peter dem Großen die Vorstellung von militärischer Macht. Jetzt hat Putin der Welt gezeigt, dass es überhaupt keine Macht gibt. Dies ist bereits gefährlich für die Sicherheit des Gebiets, das Russland bis vor Kurzem war. Stalins erfolgloser Winterkrieg gegen Finnland (er dauerte von November 1939 bis März 1940 und offenbarte Schwächen der sowjetischen Armee; d. Red.) veranlasste Hitler zum Einmarsch in die UdSSR – warum nicht angreifen, wenn die Rote Armee schwach war?
Die von der Nato ausgehende Bedrohung wurde natürlich von unseren Behörden erfunden, wohingegen die Bedrohung durch China oder einige Taliban sehr real ist. Ihr entschlossenes Handeln gegenüber benachbarten Gebieten ist wahrscheinlicher geworden. Früher gab es (in den Augen der Welt) ein militärisch starkes Land und jetzt, egal wie viele Trickfilme über Wunderwaffen gezeigt werden, egal wie viele Paraden abgehalten werden, ist alles, was übrig bleibt, ein Gebiet, das für jeden Aggressor zugänglich ist.
Russland hat keinen Präsidenten mehr
Auch in Russland gibt es eigentlich keinen Präsidenten. Es ist nicht so, dass er keine Legitimität durch Wahlen hätte. Ein Präsident, König oder Sultan ist jemand, der die Ordnung aufrechterhält (nicht unbedingt die verfassungsmäßige, aber eine gewisse) und mit der Außenwelt und dem eigenen Land kommuniziert.
Die Ordnung ist ebenso wie die Verfassung schon lange nicht mehr gegeben – Brände, schmutzige Abwässer, Nichteinhaltung eingegangener Verpflichtungen (bald wird man im Gefängnis landen, wenn man offizielle Versprechen der letzten Jahre veröffentlicht, denn der Staat wird diskreditiert).
Doch Putin verweigert die Kommunikation. Er trat zum Beispiel nicht auf dem letzten G20-Gipfel auf, der eine großartige Gelegenheit geboten hätte, der Welt zu erklären, dass sie im Unrecht sei, während Putin im Gegenteil in allem recht habe.
Auch mit seinen eigenen Leuten will er nicht kommunizieren – er hat die Pressekonferenz und die verfassungsmäßig vorgeschriebene Rede vor der Föderationsversammlung (sie besteht aus beiden Kammern des Parlaments; d. Red.) abgesagt, genauso wie den Neujahrsempfang – er will nicht einmal zu „seinen Getreuen“ sprechen.
Vor nicht allzu langer Zeit trat Putin auf dem Valdai-Forum (einem seit 2004 jährlich im Herbst in Russland stattfindenden Treffen von Journalisten, Politikern, Experten/Wissenschaftlern und Personen des öffentlichen Lebens aus Russland und anderen Ländern; d. Red.) auf. Dort sagte er: „Warum brauchen wir eine Welt ohne Russland?“ Genau diese Art von Welt – ohne Russland –, ist dank Wladimir Putins Bemühungen im Jahr 2022 entstanden.
Aus dem Russischen Gemma Terés Arilla
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