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Wladimir Putins MobilmachungTragik der russischen Gesellschaft

Kommentar von Inna Hartwich

Der Krieg ist in Russland angekommen. Aber zu ernsthaften Protesten wird es nicht kommen, weil die Lage für die meisten zu ausweglos ist.

Viele Russinnen und Russen sind erst jetzt aufgewacht Foto: Alexander Zemlianichenko/ap/dpa

D er Krieg ist in Russland angekommen, in Form eines Papiers von einem Einberufungsamt. Mit Hinweisen, wo man sich wann vorzustellen habe, samt der sogenannten Militär-Karte. Hatte Russlands Präsident Wladimir Putin eine Mobilmachung in den vergangenen Monaten stets mit den Worten ausgeschlossen, in der Ukraine führe Russlands „professionelle Armee hochgerüsteter Berufssoldaten“ eine „militärische Spezialoperation“ aus, hat er ebendiese Mobilmachung nun voller Eile ausgerufen.

Es ist das Eingeständnis des Kremls, dass die russische Armee in der Ukraine in die Defensive geraten ist. Es bedeutet eine Eskalation, weil Moskau kaum mehr Mittel hat, als zu drohen – bis hin zum Äußersten: mit Atomwaffen, vor deren Einsatz es selbst Angst hat. Das System Putin zeigt seine Schwächen nach außen. Der Westen muss dabei nicht in Angst erstarren.

Viele Russinnen und Russen sind erst jetzt aufgewacht. Der Staat fordert nun offen das Schlimmste, was er von ihnen überhaupt einfordern kann: für diesen Staat zu sterben. Den eigenen Sascha, Wanja oder Kolja will da kaum einer in den Tod schicken. Folgt dem Erwachen ein Volksaufstand? Das Ende des Regimes Putin? Keineswegs.

Denn die Frage bleibt ja: Was muss geschehen, wenn Sascha, Wanja, Kolja am Leben bleiben sollen? Flucht? Eine Flucht braucht Geld, braucht Möglichkeiten, braucht die Zuversicht, irgendwo im Ausland, und sei es noch so nah, in Sicherheit zu sein. Eine Flucht braucht Mut. Widerstand? Widerstand braucht im repressiven Russland einen starken Willen, braucht die Kraft, sich gegen hochgerüstete Spezialpolizisten zu stellen, im Wissen darum, mit einem Schlagstock verprügelt zu werden und danach vieles zu verlieren: die Gesundheit, den Job, womöglich die Freiheit. Zehn Jahre Gefängnis wegen Fahnenflucht? Allein diese Vorstellung lässt in Russland durchaus viele Männer lieber an die Front ziehen.

Der Staat setzt auf das anerzogene Rollenverständnis für Männer

Denn diese Optionen würden den Re­ser­vis­ten samt ihren Familien viel Furchtlosigkeit abverlangen. Menschen, die jahrzehntelang politisch demobilisiert worden sind, die mit dem Glaubenssatz „Steck deinen Kopf nicht raus“ aufgewachsen sind, werden sich nicht schnell gegen einen Staat auflehnen, der mit seinen repressiven Instrumenten bestens funktioniert.

Eine Wahl zu haben und eine Wahl treffen zu können, ist ein Privileg. In einem jakutischen oder nordkaukasischen Dorf gibt es wenig Privilegien. Der Weg in den Krieg, dieser Weg in den möglichen Tod, ist selbst für die, die ihn nicht gehen wollen, nahezu der einzige. Das ist die Tragik der russischen Gesellschaft.

Im Staats-TV dröhnen die Mo­de­ra­to­r*in­nen und Gäste indes von „Chancen“, sich als „echter russischer Mann zu beweisen“. Auch darauf setzt der russische Staat: auf das anerzogene Rollenverständnis von einem Mann als Verteidiger. Die ersten Busse mit Reservisten sind bereits zu Trainingscamps aufgebrochen. Die Männer geben sich gelassen, ihre Frauen und Kinder schluchzen.

Kein Interesse für die Referenden

Es ist eine Ausweglosigkeit, die derzeit jeder quer durchs Land auf seine eigene Weise erlebt, stets verknüpft mit der Hoffnung: „Es möge mich nicht treffen.“ Bis es einen doch trifft – und die Menschen den Schlag hinnehmen und viele ihn ertragen. Denn über Jahre hinweg haben sie gelernt, kein politisches Subjekt zu sein, dass Politik etwas Fernes ist. Dass Wahlen keine Bedeutung haben. Und Referenden noch weniger.

Deshalb interessiert sich auch kaum einer in Russland für die Scheinreferenden, die bis zum 27. September in den von Russland besetzten Gebieten in der Ukraine abgehalten werden. Selbst nach russischem Recht sind diese nicht rechtens. Fragt jemand danach? Nein, weil diese „Referenden“ reine Akklamation sind, die Bestätigung dessen, was der Kreml bereits beschlossen hat. Aus Panik? Aus Kalkül? Das ist nicht wichtig.

Der „Volksentscheid“ ist einzig dem Nachweis geschuldet, Unterstützung für Putin zu generieren. Die Rolle des Volkes – wer auch immer dieses Volk spielen darf – liegt darin, zustimmend Beifall zu klatschen. Die Haltung vieler im Land: Der Kreml macht, was der Kreml will. Diesem Willen beugen sich die meisten Menschen in Russland. Europa aber darf sich dem nicht beugen.

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19 Kommentare

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  • Alle sind gleich, aber wenige sind doch wieder gleicher (Peskow).



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    www.fr.de/politik/...tics-91805186.html



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    Im Zusammenhang mit Opfern auf Stalins Söhne zu verweisen, halte ich für unangemessen, die Verehrung für diesen Schlächter sollte sich der Kreml in jeder Weise sparen. Mir wäre sympathisch, die Führung gäbe zu "Nein, meine Söhne geb ich nicht" - wird wohl was dran sein, denke ich.

  • Die aus Protest im Widerstandsgeist gegen das Islam-Missbrauch-Regime ihre Kopftücher verbrennenden iranischen Frauen haben mehr Mumm in den Knochen als die Zwangsrekrutierten russischen Männer.



    Die statt die Einberufungsbescheide zu verbrennen mit hängenden Schultern kopfschüttelnd in den Krieg zieht bzw. duckmäuserisch kriecht.

  • Die Tragik ist die Mutlosigkeit der russischen zum untertänige Duckmäusen gedrillten Gesellschaft.



    Wer mutlos die Schultern angesichts der Zwangseinberufung zuckend in den Krieg kriecht als kaum ausgebildete Reservisten, dem die russischen Berufssoldaten kaum gewachsen sind und deshalb durch solche Reservisten ersetzt werden müssen, der wird sich schwer tun, seine Soldatenpflicht so heldenmutig wie die Ukrainer*innen zu erfüllen.



    Ob deutsche Reservisten u.a. aus der ZivildienstGeneration zur Begegnung einer russischen Invasion sich gravierend von der Mutlosigkeit der russischen Reservisten unterscheiden würden, steht auf einem anderen Blatt.

  • Da wo auf eurer Landkarte Stand 24.9. das im Oblast Charkiv befreite Gebiet sich an seiner Spdspitze wie Patagonien nach Osten kringelt (CTRL +++ - dann sieht mensch's genauer), sehen andere Karten schon einige Tage eine Bewegung/Erweiterung von dieser Spitze aus nach Norden, westlich des Oskil: Ansätze, die Linie Oskil von Süden her zu umgehen.



    liveuamap.com/



    interaktiv.tagessp...m_campaign=ukraine

    • @lesnmachtdumm:

      ö s t l i c h des Oskil ...

  • Die Leibeigenschaft des Staates gegenüber seiner Untertanen ist ja noch nicht abgeschafft. Dementsprechend werden die Russen willig zur Front verschleppt werden.

  • Weil kürzlich im Zusammenhang mit der Teilmobilmachung das Argument kam, es würde jetzt vor allem die Männer an der Peripherie des russischen Riesenreiches treffen, die da verheizt werden sollen, und nicht die “blauäugigen” St. Petersburger und Moskauer, kam mir der Gedanke, dass der Russe oder Jakute in der sibirischen Taiga wenigstens noch in die Wildnis fliehen und sich dort verstecken könnte, um sich dem Einzugsbefehl zu entziehen. Er könnte dort möglicherweise so lange in der “freien” Natur, fernab der staatlichen Repressionsorgane überleben, bis das Ende Putins anbricht.



    Wahrscheinlich ist das nur eine allzu idealistische bzw. unrealistische Vorstellung, denn im Russland Putins ist nicht einmal die Natur frei.

    • @Abdurchdiemitte:

      Theoretisch möglich wäre es.

      Die Natur in Russland ist atemberaubend menschenleer.

      Sowohl im Süden als auch im Norden.

  • "...über Jahre hinweg gelernt kein politisches Subjekt zu sein" oder "der Kreml macht was der Kreml will".



    Ist es nicht so, dass es in Russland nicht wirklich schon immer so war? Egal ob Zar, Bolschewiken, Stalinismus Kommunisten... wann war man denn im Land jemals politisch frei im Denken? Vielleicht mal während 5- 10 Jahren während Gorbatschows und Jelzins Zeit.



    Armes Russland! Jahrhunderte haben hier gewirkt bis zum heutigen Wahnsinn, der dann eben auch hingenommen wird.

  • Damit das Sterben endlich aufhört, ist es nun ander Zeit, Russland einen gesichtswahrenden Ausweg aus dem selbst gemachten Desaster zu ermöglichen.

    • @Günter:

      Und wie konkret sollte man einen solchen "gesichtswahrenden Ausweg" gestalten?



      Putin hat nun wirklich kein Problem damit Fakten völlig nach Belieben zu verdrehen. Er könnte also völlig problemlos erklären all die 'drogensüchtigen Nazis' in der Ukraine wären beseitig, die 'Spezialoperation' sei erfolgreich und können deshalb beendet werden, einen vollständigen Truppenrückzug befehlen und um der guten Beziehungen zum 'Brudervolk' willen großzügige Reparationen für die 'Kollateralschäden' seiner Truppen leisten. Das wäre doch gesichtswahrend und dürfte wohl auch in der internationalen Gemeinschaft auf Wohlwollen stoßen.

    • @Günter:

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      Die Moderation

    • @Günter:

      Alles außer der Zerstörung der Ukraine ist nicht gesichtswahrend für Russland, Russland hat den Anspruch Weltmacht zu sein und schafft es nicht die Ukraine zu besiegen? Mal abgesehen, dass das hieße Millionen Ukrainer der Willkür Putins auszuliefern. Russland hat keinen Anspruch auf eine solche Lösung es hat den Krieg verloren jetzt soll es abhauen und Reparationen zahlen ansonsten sonst sterben noch mehr russische Männer, an der Peripherie (Kazachstan, Armenien) bricht das russische Imperium schon auseinander, wie lange noch bis es auch in Russland losgeht?

    • @Günter:

      Wie soll denn ein "gesichtswahrender" Ausweg aussehen? Das erklärte Ziel Russlands war das wegradieren der Ukraine von der Landkarte und die "Entukrainisierung" der Bevölkerung.

      Was sollte man denn angesichts angekündigter Verbrechen gegen die Menschlichkeit dem Verbrecher anbieten?

  • wir haben wenigstens werte für die wir einstehen wollen und auch müssen. Moskauer, St Petersburger, modernere Russen bleibt nur sich selbst. Das Land korrupt und repressiv bis ins letzte Knopfloch. Gäbe es noch eine Opposition, dürfte man demonstrieren, die Mehrheit wäre jetzt auf den Strassen. Go with the flow. Sich der Situation anpassen. Man will überleben - derzeit heisst das als Mann, einpacken und abhauen. Das Putin soweit kam ist nicht nur dank unserer Gaskohle geschehen - es ist eine Gesellschaft die humanitär noch in der Steinzeit steckt, und nur das eigene Überleben kennt. Es ist keine Wertegesellschaft. Wenn irgendwelche Russen aus dem Ural mit abgelaufenem Essen in den Krieg geschickt werden, ist das egal. Da glaubt man der Propaganda. Ach, Spezialoperation. Kommt der eigene Einmarschbefehl will man nicht für Putin sterben.

  • und sie machen das beste was sie tun können, sie entziehn sich dem wahnsinn, entziehen ihm das futter und was macht der westen (teilweise)? er macht reflexhaft die grenzen dicht!

  • Beherrscht von einem allmächtigen Zaren, getäuscht von einer korrupten Kirche, ausgebeutet von einer winzigen Schicht Superreicher, unterdrückt von Geheimdienst und Polizei, verheizt in einem sinnlosen, imperialistischen Krieg und zuhause gibt es nicht einmal Toilettenschüsseln.

    Das russische Volk ist wieder dort, wo es vor der Revolution mal angefangen hatte.

  • Der russische Gesellschaftsvertrag unter Putin lautete zwei Jahrzehnte lang: ihr bekommt von mir ein Mindestmaß an Wohlstand, ihr seid im Gegenzug dafür durch und durch apolitisch. Diesen Gesellschaftsvertrag hat die Mehrheitsgesellschaft bereitwillig unterzeichnet. Man kann es auch so formulieren: "Die Russen lieben die Wärme des Kuhstalls, auch wenn der Weg zur Schlachtbank nicht weit ist". Das warme Plätzchen ist nun passé, jetzt kommt die Schlachtbank.

    • @Michael Myers:

      Ein schönes und treffendes Gleichnis, vielen Dank!