Vorwürfe gegen Rammstein: Das Patriarchat hat Angst vor Gen Z
Die Metal-Szene schweigt zum #MeToo-Skandal um Rammstein-Sänger Till Lindemann. Dabei braucht es keine juristisch geprüften Straftatbestände, um Kritik zu üben.
A ls ich das Video von Youtuberin Kayla Shyx zu Ende geschaut hatte, fiel es mir schwer, vor meinem Monitor nicht zu weinen. Sie erzählt davon, wie junge Frauen auf Rammstein Konzerten offenbar rekrutiert und aufgefordert werden, Sex mit Frontsänger Till Lindemann zu haben. Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen und verstand zum ersten Mal, was das für ein System sein muss und wie viele junge Frauen seit Jahren offenbar darunter gelitten haben.
Das zu realisieren, fällt mir immer noch schwer. Aber mir kam mittlerweile eine zumindest in Teilen positive Erkenntnis: Was da grade passiert, ist ein gutes Zeichen. Da sind junge Frauen, einige Anfang 20, die sich trauen, das alles öffentlich zu machen – die der scheinbaren Übermacht der Band und ihrer Kontakte in der Musikindustrie trotzen und mit dem Erlebten an die Öffentlichkeit gehen.
Der Youtuber Alexander Prinz sprach in seinem jüngsten Video zur ganzen Causa Rammstein davon, dass nahezu die gesamte Musikbranche schweigt, weil die Band mächtiger sei, als man es sich von außen vorstellen könne. Wenn jemand wie Prinz das sagt, der in der Metal-Szene viel herumkam und nah am Umfeld der Band stand, kann man den Einfluss nur erahnen.
Und es bedeutet: Diese jungen Frauen sind unfassbar mutig. Mit welch enormer Kraftanstrengung gerade versucht wird, ihre Erzählungen zu diskreditieren, zeigt, dass die Männerwelt plötzlich Angst bekommt. Angst, dass Machtstrukturen, die systematische sexuelle Übergriffe, Vergewaltigungen und Drogenmissbrauch ermöglichen, nach Jahrzehnten ins Wanken geraten könnten.
Dass neben diesen jungen Frauen weitere Betroffene, die noch nicht öffentlich sprechen wollen, mittlerweile mit großen Medienhäusern in Kontakt stehen und dort unter Abgabe von eidesstattlichen Versicherungen ihre Erlebnisse schildern, ist ein Erfolg. Er gehört den jungen Frauen, die in den letzten Tagen den Mut besaßen, an die Öffentlichkeit zu gehen. Das ist der Feminismus der Generation Z und er wird dem Patriarchat ganz offensichtlich gefährlich.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Dass das so ist, zeigen Gegenreaktionen: Völlig sinnentleert und reflexartig wird von „Unschuldsvermutung“ geraunt, als wäre die Maxime öffentlicher Kritik die gerichtliche Feststellung von Straftatbeständen. Wie absurd dieser Reflex ist, wird im Vergleich mit anderen Fällen deutlich. Denn wir dürften keinen systematischen Missbrauch mehr in der katholischen Kirche benennen, weil es zwar Unmengen an gut dokumentierten Recherchen und Belegen gibt, aber nur wenige Priester je vor einem Gericht verurteilt wurden. Wir sollten uns also nicht nur mit Problemen beschäftigen und diese kritisieren, wenn sie den Tatbeständen des Strafgesetzbuches entsprechen.
Ich glaube, wer sich mit juristischen Argumentationen rauszureden versucht, hat Angst, sich mit der Außenwelt auseinanderzusetzen. Und wer das nur selektiv im Fall von Vorwürfen sexualisierter Gewalt macht, hat vielleicht Angst, in dieser Auseinandersetzung zu Erkenntnissen zu kommen, die ihn persönlich betreffen.
Was gerade in Bezug auf Rammstein passiert, ist deshalb so wichtig, weil es zeigt, wie sehr wir den Feminismus im Jahr 2023 brauchen. Während der Feminismus von Alice Schwarzer trans Frauen ausschließt und im Kontext von sexuellen Übergriffen davon spricht, ob Frauen Miniröcke tragen, greift die Gen Z das Patriarchat dort an, wo es sich am sichersten fühlt: Backstage.
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