Psychologe über Missbrauch in der Kirche: „Wir können das nicht aussitzen“

Hans Zollner ist Priester und Professor für Psychologie. Im Vatikan kämpft er für die Aufarbeitung von Missbrauch. Ein Gespräch über Reformen und die Rolle des Papstes.

Portrait von Hans Zollner

Hans Zollner an der Gregoriana, der Päpstlichen Universität in Rom Foto: Francesco Pistilli/KNA

wochentaz: Herr Zollner, wie verhindert man Missbrauch?

Hans Zollner: Das hängt vor allem davon ab, wie die Menschen sich selber verstehen, wie sie ihre eigenen Bedürfnisse kennen. Wie sie damit umgehen und ob sie mit den Menschen, mit denen sie leben und arbeiten, auf eine Weise zusammenkommen, die die Würde und die Grenzen der anderen respektiert. Es gibt Risiko- und Schutzfaktoren. Sowohl was das Persönliche als auch das Institutionelle angeht.

ist Priester und Professor für Psychologie an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. 2012 war er Mitgründer des Centre for Child Protection in München. Zollner berät weltweit Ordens­gemeinschaften und Bistümer bei der Missbrauchsprävention. Seit Jahrzehnten gibt es Berichte über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche. 2014 benannte Papst Franziskus eine Aufklärungskommission. Hans Zollner hat sie aus Protest verlassen

Die katholische Kirche gilt als Risikoinstitution. Sie sehen von Ihrem Büro aus die Zentrale, den Vatikan.

Ich sehe vom Schreibtisch aus gegenüber den Petersdom.

Auch sonst sind Sie dem Papst sehr nah.

Das kann man so nicht sagen. Ich habe ihn während der Pandemie gar nicht gesehen. Dann zwei, drei Mal im November und im Januar. Aber ich habe keinen regelmäßigen Termin bei ihm.

Hierzulande fragen sich viele, warum der Papst Bischöfe wie Rainer Maria Woel­ki, Reinhard Marx und Stefan Heße im Amt lässt, obwohl sie im Umgang mit Missbrauchsfällen versagt haben.

Ich weiß es auch nicht. Und wundere mich, nicht nur in Bezug auf diese drei, sondern auch auf andere, die im deutschen Sprachraum weniger bekannt sind. Man muss natürlich bedenken, dass bei den dreien das Niveau der rechtlichen Anschuldigungen sehr unterschiedlich ist. Vor allem ist nicht klar, welche Kriterien angewendet werden, warum in einem Fall jemand entlassen wird und in einem anderen nicht. Was aber angepackt werden muss, ist die moralische Verantwortung, die natürlich unabhängig ist von Verjährungsfristen.

Das jüngste Gutachten aus dem Bistum Freiburg attestiert dem Ex-Bischof Robert Zollitsch, der auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz war, das „Vollbild einer Vertuschung“. Wieder fordern Betroffene, dass die Politik handelt. Was muss passieren?

Bundespolitisch muss die Stelle der Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung gegen sexuellen Missbrauch verstetigt und verstärkt werden. Schon 2020 habe ich in Berlin für eine Wahrheits- und Aufarbeitungskommission geworben. Ich glaube, dass von der Bundesebene definiert werden müsste, was die Kriterien für die Aufarbeitung von Missbrauch sind und wie die Beteiligung von Betroffenen aussieht.

Und auf Landesebene?

Da braucht es Anlaufstellen für Betroffene. Wie jetzt im Saarland eine geschaffen wurde, wie sie in Bayern diskutiert wird. Dringend notwendig ist, dass für alle Ausbildungs- und Studiengänge, in denen es um die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen geht, das Pflichtfach Kinderschutz eingeführt wird. Das ist bis heute weder im Lehramtsstudium noch in der Psychologie, der Medizin oder der Sozialarbeit der Fall. Ich finde das unglaublich.

Sie lehren Kinderschutz. Als Jesuitenpater an einer päpstlichen Uni. Können denn die Frösche das Austrocknen des Teiches lehren?

Ich möchte hoffen, dass die Leute differenzieren können, dass sie nicht alle Priester und Ordensleute über einen Kamm scheren. In der Präventionsarbeit, nicht in der Aufarbeitung, hat die katholische Kirche, auch in Deutschland, sehr viel gemacht. Erzwungenermaßen. Im Bereich Prävention kann man sagen, dass manchmal sogar staatliche Stellen und NGOs auf uns zukommen und um Rat bitten.

Wird die katholische Kirche also ungerecht behandelt?

Die katholische Kirche wird nicht ungerecht behandelt. Sie hat einen höheren moralischen Anspruch verkörpert und vor sich hergetragen. Daran wird sie berechtigterweise gemessen. Und wenn die Fallhöhe höher ist, dann ist natürlich auch die Aufmerksamkeit höher. Aber alle Expertinnen und Experten sagen, dass der größte Anteil von sexueller Gewalt im Familienkontext geschieht. Das geht in der öffentlichen Debatte fast völlig unter. Onlinemissbrauch ist auch nur sehr sporadisch im Blickpunkt. Und das ist meines Erachtens der größte Risiko­faktor für Kinder und Jugendliche heute. Was wir in den letzten ein, zwei Jahren auch verstärkt mitbekommen haben, ist Missbrauch in Sportvereinen, auch in anderen Arten von Vereinen.

Die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, spricht davon, dass auch in der evangelischen Kirche noch nicht genug getan ist.

Ich will nicht als jemand erscheinen, der mit dem Finger auf andere zeigt. Aber die Protestanten sind nicht nur etwas hintendran, sondern fast 15 Jahre. Sie haben sich gerne hinter den Katholiken versteckt und bauen jetzt hohe Hürden auf, weil es bald auch an die Aufarbeitung und an Entschädigungszahlungen von Opfern in ihren Reihen geht.

Im März haben Sie die Päpstliche Kommission zum Schutz von Minderjährigen verlassen, die Sie vor neun Jahren mitgegründet haben. Warum?

Ich habe gesehen, dass die Kommission selber nicht die Prinzipien anwendet, die die Kirche sich offiziell gegeben hat: Verantwortungsübernahme, Rechenschaftspflicht und Transparenz. Nachdem meine Versuche, diese Bedenken an die Leitung zu kommunizieren, ungehört verhallt sind, musste ich die Konsequenz ziehen.

Worum ging es konkret?

Um die Neubesetzung der Kommission, die im vergangenen Jahr im Gang war. Von den vier Menschen im Auswahlgremium ist einer mittlerweile selbst Mitglied der Kommission, und zwei sind bei der Kommission angestellt. Das widerspricht meinem Verständnis von Compliance. Es ging auch um die Unklarheit, wo die Gelder herkommen für die Kommission, wie sie verwaltet und wie sie auditiert werden. Wenn es diese Lücke gibt zwischen dem, was kommuniziert wird, und dem, was gemacht wird, dann kann ich nicht mehr mitmachen. Weil genau das ein Wurzelgrund für möglichen Missbrauch ist.

Wer ist verantwortlich? Der Kommissionspräsident Kardinal Seán O ’Malley oder auch der Papst?

Zunächst sehe ich den Präsidenten der Kommission und den Sekretär der Kommission, Andrew Small, in der Pflicht. Wenn das nicht klappt, dann muss der Papst eingreifen.

O ’Malley hat sich „überrascht und enttäuscht“ gezeigt über Ihre Kritik, kürzlich aber selbst von „Wachstumsschmerzen“ gesprochen und Änderungen angekündigt.

Da wurden plötzlich alle möglichen Dokumente auf die Website der Kommission gestellt, wo es um Vereinbarungen mit anderen Ministerien hier im Vatikan geht. Aber wenn man sich die durchliest, ist meinem Eindruck nach alles schwammig und wenig nachvollziehbar. Es bleibt bei Absichtserklärungen, bei denen man nicht weiß, was das eigentliche Ziel ist und wer seine Einhaltung überprüfen soll. Und die große Frage, die überhaupt noch nicht angegangen ist: Wer überwacht denn die Finanzen? Es kann nicht sein, dass eine Kommission sich selber überwacht.

Der Präsident der Kommission ist auch Erzbischof von Boston. Sind diese Ämter überhaupt vereinbar?

Sie wären vereinbar, wenn der Präsident oft in Rom wäre, wenn er die Zeit hätte oder sich nähme, an den Dingen dranzubleiben. Und wenn er bereit wäre, in den Ring zu steigen. Denn natürlich ist es ein Feld, das hier im Vatikan auch Widerstand findet, so wie überall. Seit der Verfassungsreform des Vatikans im vergangenen Jahr untersteht die Kommission dem Glaubensdikasterium.

Die Kommission ist jetzt also Teil eines vatikanischen Ministeriums. Sie befürchten, dass sie dort untergeht.

Ich bin überzeugt, dass das nicht gut zusammenpasst. Nachdem es jetzt aber so ist, braucht man jemanden, der auch stark in Konflikte geht. Und das macht Kardinal O’Malley nicht.

Papst Franziskus ist seit 10 Jahren im Amt. Ihre Bilanz, was die Aufarbeitung und Prävention von Missbrauch angeht?

Wenn es um die Empathie, um die Herzlichkeit und die Nähe zu Menschen geht, denen Leid widerfährt, ist er wirklich ganz glaubwürdig. Das habe ich selber erlebt, das hat er vor einigen Tagen wieder gezeigt, als Betroffene von Missbrauch aus München hier waren. Er ist jemand, der das Thema wachgehalten hat, der im rechtlichen Bereich mehr Verschärfungen eingeführt hat als alle seine Vorgänger zusammen. Aber man muss auch sagen: Er hat es leider nicht zu der Priorität Nummer eins seines Pontifikats gemacht. Für ihn stehen die Armutsbekämpfung, die Migration und Ökologie ganz oben. Missbrauch spielt eine wichtige Rolle, aber halt nicht die wichtigste. Was ich sehr bedauere, weil ich glaube, dass das ein Thema sein wird, mit dem sich die Weltkirche noch viele Jahre und Jahrzehnte auseinandersetzen wird.

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