Südafrikas Klage gegen Israel: „Genozidale Absicht“

Mit der Anhörung der Anklage beginnt in Den Haag der Völkermord-Prozess gegen Israel. Premier Benjamin Netanjahu reagiert mit einer Klarstellung.

Zwei Männer im Gerichtssaal

Südafrika spricht von einem „Apartheids-System“ in Gaza: Delegation am Donnerstag in Den Haag Foto: Patrick Post/ap/dpa

DEN HAAG/TEL AVIV taz | Zum Auftakt der Anhörung zur Völkermord-Klage gegen Israel hat die Republik Südafrika am Donnerstag vor dem Internationalen Gerichtshof die Begründung ihres Vorwurfs dargelegt. Die Grundlage dafür seien „angedrohte, angewendete, geduldete, unternommene sowie aktuell ausgeführte Handlungen von Regierung und Militär des Staates Israel gegen das palästinensische Volk in der Folge der Angriffe in Israel am 7. Oktober 2023“, heißt es in der Anklageschrift, die von Mitgliedern der südafrikanischen Delegation in Den Haag vorgestellt wurde.

Ziel Israels sei die Zerstörung eines substanziellen Teils der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen, wird in dem 84-seitigen Dokument ausgeführt. Für Vusi Madonsela, den Botschafter Pretorias in den Niederlanden, steht außer Frage, dass beim Vorgehen der israelischen Regierung und Militär „der Beweis für die genozidale Absicht überwältigend“ ist. Diese Absicht ist ein zentrales Kriterium der „Übereinkunft über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords“, die vor 72 Jahren in Kraft trat. Anhand dessen wird bewertet, ob Verbrechen gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe tatsächlich deren Auslöschung zum Ziel haben.

Die südafrikanische Delegation, zu der am Donnerstag auch Justizminister Ronald Lamola zählte, sieht das als erwiesen an. Als Belege führt sie Zitate von Ministern und Mitgliedern der Knesset sowie des israelischen Militärs an, in denen wiederholt dazu aufgerufen worden sei, Gaza „auszulöschen“, zu „verbrennen“ oder „dem Erdboden gleichzumachen“. Und: dass es dort „keine Unschuldigen“ gebe. Letztere Aussage stammt von dem Likud-Abgeordneten Nissim Vaturi und sorgte im Vorfeld der Anklage international für Aufsehen. Bei mehreren Aussagen ist freilich umstritten, ob sich Bezeichnungen wie „Monster“ oder „menschliche Tiere“ nur auf die Hamas-Terroristen oder aber Be­woh­ne­r*in­nen des Gazastreifens im Allgemeinen beziehen.

De­mons­tran­t*in­nen mit Mandela-Konterfrei

Aus südafrikanischer Perspektive ist nicht nur die humanitäre Situation im Gazastreifen Teil einer entsprechenden Strategie seitens der israelischen Regierung. Vielmehr handele diese seit der Staatsgründung 1948 in genozidaler Absicht und habe die palästinensische Bevölkerung einem Apartheid-System unterworfen. Als dieser Vorwurf kurz nach Beginn der Anhörung am Donnerstagmorgen erstmals vorgetragen wurde, reagierten die Teil­neh­me­r*in­nen der pro-palästinensichen Demonstration vor dem Gerichtsgebäude mit lautem Jubel.

Insgesamt hatten sich etwa 1.500 Menschen mit zahlreichen palästinensischen Fahnen und Kufiyas versammelt, auch türkische Fahnen und eine mit Hammer und Sichel der tunesischen Arbeitspartei war zu sehen. Auf einer anderen befand sich das Konterfei Nelson Mandelas, daneben sein Zitat: „Wir wissen nur allzu gut, dass unsere Freiheit unvollständig ist ohne die Freiheit der Palästinenser*innen.“ Dass die Genozid-Anklage Israels ausgerechnet aus Südafrika kommt, geht unter anderem auf die Verbindungen zwischen Anti-Apartheid- und palästinensischen Befreiungsbewegungen zurück.

Die anhaltende Welle von Demonstrationen gegen den Gazakrieg sorgte auch dafür, dass in Den Haag, das als Hauptstadt des internationalen Rechts schon zahlreiche Kundgebungen vor Tribunalen erlebt hat, dieser Donnerstag ein besonderer Tag war. Schon kurz nach Sonnenaufgang zogen Menschen mit palästinensischen Fahnen in Richtung des Gerichtshofs durch die Straßen und skandierten „From the river to the sea, Palestine will be free“. Zu Beginn der Sitzung gab es eine kurze, angespannte Situation, als berittene Po­li­zis­t*in­nen manche Demonstrierende hinter die Absperrungen zurückdrängten.

Ein wenig später kam eine Gruppe von mehreren Hundert proisraelischen De­mons­tran­t*in­nen vor dem Gelände an. Viele von ihnen trugen Fotos entführter oder ermordeter Geiseln, deren Porträts auch auf einem Videobildschirm gezeigt wurden. Zu Bringt-sie-zurück-Rufen setzte sich der Zug in Bewegung, zu einer Kundgebung in der Innenstadt, wo der Vater einer entführten Geisel eine Ansprache halten sollte.

Israels Gewissheit hat Risse bekommen

Shay, ein junger Israeli, der in der Nähe von Amsterdam lebt, sagt, dass auch die Mutter eines Freundes seit dem 7. Oktober in der Gewalt der Hamas ist. „Es ist furchtbar, dass dieser Krieg schon mehr als 20.000 Menschenleben gekostet hat“, betont er. Wenn man aber mit Genozid argumentiere, müsse man auch sehen, dass auch die Hamas-Massaker diesen Charakter hätten.

Dabei verurteilt die Anklageschrift Südafrikas die Taten der Hamas deutlich. Zugleich könne kein bewaffneter Angriff auf das Territorium eines Staates das israelische Vorgehen seither rechtfertigen – „selbst nicht, wenn dieser Gräueltaten beinhaltet“. Darum fordert Südafrika vom Gerichtshof „vorläufige Maßnahmen“, die Israel dazu anhalten, die Kriegshandlungen schnellstmöglich einzustellen und alles in seiner Macht Stehende zu unternehmen um einen Völkermord zu verhindern. Israel weist den Vorwurf des Genozids zurück und beruft sich auf sein Recht der Selbstverteidigung.

Doch die Gewissheit, dass sich die Richter auf Israels Seite schlagen werden, hat im Land selbst Risse bekommen. Jeremy Sharon warnte etwa in der Times of Israel davor, das Verfahren auf die leichte Schulter zu nehmen. „Schon die Plausibilität eines Völkermordes reicht für den Beginn eines Verfahrens aus“, so der Journalist.

Netanjahu bezieht endlich Stellung

Auch in politischen Kreisen kommt langsam an, dass die Anklage Israels vor dem Internationalen Gerichtshof am ehesten ein Punktsieg für die Hamas ist. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu pochte am Mittwochabend noch einmal darauf, dass man nicht gegen die Palästinenser, sondern ausschließlich gegen die Hamas vorgehe.

„Wir tun dies in voller Übereinstimmung mit internationalem Recht, so der Premier. Auf der Plattform X (vormals Twitter) lehnte er zudem erstmals die Forderung einiger Regierungsmitglieder ab, die sich offen für eine Vertreibung der Palästinenser oder neue jüdische Siedlungen eingesetzt hatten. Unter anderem auf diese Äußerungen stützt sich die Klage Südafrikas.

Das Verfahren in Den Haag könnte Netanjahu nun veranlasst haben, gegen seine radikalen Koalitionspartner nach langem Schweigen Stellung zu beziehen. „Ich möchte absolut klarstellen: Israel hat nicht die Absicht, den Gazastreifen dauerhaft zu besetzen oder die Zivilbevölkerung zu vertreiben“, so sein Tweet. Auch Besucher in den Cafés von Tel Aviv verfolgen den ersten Tag der Anhörungen in Den Haag eher gelassen. „Wir sind es gewohnt, dass uns eine Allianz von Staaten das Selbstverteidigungsrecht absprechen will“, sagt der Ingenieur Itai Shabtai, der auf seinem Smartphone die Reden der südafrikanischen Rechtsanwälte hört.

Am Freitag soll die israelische Delegation in Den Haag zu Wort kommen.

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