Stichwahl in Frankreich: Es geht uns alle an
Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg könnte in Frankreich die extreme Rechte an die Macht kommen. Das wäre eine Katastrophe für ganz Europa.
Nooon, meeeerde!!“ Ein Aufschrei des Entsetzens, wenn am Sonntagabend um Punkt 20 Uhr auf dem Bildschirm als Siegerporträt nicht das Gesicht von Emmanuel Macron, sondern das von Marine Le Pen erscheint. Bisher war diese Szene bloß Fiktion, womöglich auch Angstmacherei aus politischen Interessen.
Doch dieses Mal besteht, zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, eine reelle Gefahr, dass die extreme Rechte in Paris an die Macht kommt. Ganz legal und ausgerechnet mit der schweigenden Duldung vieler überzeugter linker „Antifaschisten“, die sich lieber der Stimme enthalten, als notgedrungen den ihnen verhassten Macron zu wählen. Die eigenen politischen Berührungsängste sind ihnen wichtiger, die übermäßig strapazierte Metapher von „Pest oder Cholera“ hat für sie mehr Gewicht als die Warnung vor den unabsehbaren Folgen eines möglichen Wahlsiegs der Rechtsextremen.
Nur die französischen Staatsbürger*innen können am Sonntag wählen. Das Ergebnis aber betrifft ganz Europa, und das gibt auch Nichtfranzosen das Recht, sich in die Diskussion einzumischen, so wie es auf ihre Weise die drei Regierungschefs von Deutschland, Spanien und Portugal in einem offenen Brief in der französischen Tageszeitung Le Monde getan haben. „Die Wahl, vor der das französische Volk steht, ist von entscheidender Wichtigkeit für Frankreich und jeden von uns in Europa*, schreiben Scholz, Sánchez und Costa. Sie fürchten um die gemeinsame Zukunft, wenn anstelle des ihnen teuren Frankreichs der Demokratie, Solidarität und Gerechtigkeit sich im Élysée-Palast eine autoritäre Rechte etablieren sollte, die „Autokraten wie Putin“ zum Vorbild hat.
Die Befürchtung ist legitim: In der TV-Debatte mit Macron hat Marine Le Pen zwar ein Lippenbekenntnis zur europäischen Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung vorgelegt. Und versucht, mit diesem Feigenblatt ihre notorische Freundschaft und ideologische Nähe zu Putin und ihre finanzielle Abhängigkeit vom russischen Kriegstreiber zu verbergen. Man kann sich aber leicht ausmalen, welche dramatischen Konsequenzen ihre Wahl für die Unterstützung der Ukraine und die Glaubwürdigkeit der europäischen Solidarität hätte.
Ein „Frexit“ wäre das Ende der EU
Im Unterschied zu 2017 sagt Le Pen nicht offen, dass sie für einen Austritt aus der EU, der Eurowährungsgemeinschaft und der Personenfreizügigkeit des Schengen-Abkommens ist. Sie möchte glauben machen, dass mit ihr Frankreich wieder zur Großmacht wird, die den Partnerstaaten einseitig neue Regeln diktieren, reduzierte Beitragszahlungen festlegen und die „Technokraten“ zum Schweigen bringen könne.
Das wäre das Ende der EU, ein „Frexit“, zu dem sie sich nicht offen bekennt, weil sie weiß, dass eine Mehrheit ihrer Landsleute ihn nicht möchte. Die ersten Maßnahmen, die sie zur Wiederherstellung der nationalen Souveränität ergreifen würde, wären tödliche Schläge für den Aufbau Europas. Zudem erklärt Le Pen auch die deutsch-französische Zusammenarbeit, die sie bei ihrer Pressekonferenz zur Außenpolitik als „Quasi-Fiktion“ verhöhnte, aufgrund von strategischen Meinungsdifferenzen für beendet.
Es geht uns in Deutschland etwas an, wenn im Nachbarland die Gefahr besteht, dass humanistische Grundwerte, sämtliche Errungenschaften der Aufklärung sowie des Antikolonialismus und anderer emanzipatorischer Bewegungen im Fall eines Wahlsiegs der reaktionären Rechten in den Mülleimer der Geschichte geworfen werden, zusammen mit den Relikten des Mai 1968. Mit seiner Geschichte der Kämpfe für soziale Rechte und mit seinen universellen Verfassungsmaximen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit war und bleibt Frankreich eine Inspiration über Europa hinaus. Auch das steht bei der Wahl auf dem Spiel.
An Appellen und Warnungen aus dem In- und Ausland fehlt es nicht. Ob diese gehört wurden und einen Einfluss hatten, wissen wir am Sonntag um 20 Uhr. Die letzten Umfragen tippen auf einen ganz knappen Sieg von Macron. Wenn es gerade noch einmal gut ausgeht, dann aber gewiss nicht aufgrund der fahrlässigen Indifferenz derjenigen, die zu Hause geblieben sind, weil sie sich sagten, Macron werde auch ohne ihr Zutun gewinnen und andernfalls sei es vielleicht auch gar nicht so schlimm.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“