Illustration eines Hauses, eine einsame Frau steht am Fenster, ringsherum ist ein Labyrinth aus Fragmenten von Hakenkreuzen, Händen und Fäusten

Illustration: Hanna Harms

Rituelle Gewalt:Eine ausgeblendete Realität

Rituelle Gewalt ist eine sehr brutale Form des Missbrauchs. Manche zweifeln ihre Existenz an. Julia Winter nicht. Sie hat sie erlebt.

11.2.2023, 18:25  Uhr

Anmerkung der Redaktion: Nach der Veröffentlichung dieses Textes haben uns viele Zuschriften erreicht, dankbare, aber auch kritische. Wir haben den Text an einigen Stellen überarbeitet, um noch deutlicher zu machen, welche Fakten aus der Erzählung der Protagonistin wir prüfen konnten, und welche sich allein auf ihre Darstellung beziehen. Die Frage, inwieweit organisierte Tä­te­r*in­nen­netz­wer­ke rituellen sexuellen Missbrauch betreiben, wird zurzeit intensiv diskutiert. Wir werden diese Debatte weiter begleiten und in der taz abbilden.

Hinweis: In diesem Text werden Missbrauch und gewalttätige Übergriffe beschrieben. Seien Sie achtsam, wenn Sie das Thema betrifft.

Für Betroffene sexualisierter, organisierter und ritueller Gewalt gibt es das Hilfetelefon berta: 0800-3050750. https://nina-info.de/berta

Kopfsteinpflaster, ein Hauch von Kälte in der Luft. Es ist still an diesem Ort am Rande einer ostdeutschen Großstadt. Kaum ein Mensch ist auf den Straßen zu sehen. Hier hat sich Julia Winter entschlossen zu reden. Trotz der Angst und obwohl sie sich bedroht sieht.

An diesem Tag im Herbst 2022 und in den darauffolgenden Treffen wird Julia Winter ihre Geschichte offenlegen. Es ist eine Geschichte, die schwer zu ertragen ist. Sie handelt von Gewalt, die sie von Kindheit an erlitten hat. Winter sagt, sie sei jahrzehntelang gefoltert, gequält, missbraucht worden.

Die Tä­te­r:in­nen seien ihr eigener Vater und andere Verwandte, aber auch zahlende Kun­d:in­nen gewesen. Ihre Familie gehöre einer faschistoiden Gruppierung an; der massive Missbrauch sei mit einer Ideologie von Herrschaft und Unterwerfung einher gegangen. Es sei dabei vor allem um Macht und Geld gegangen.

Winter fällt es schwer, ihre Erlebnisse zu schildern. Am einfachsten geht es schriftlich. In Mails an die wochentaz berichtet sie von Folter durch Stromschläge, von regelmäßigen Vergewaltigungen, von einem absichtlich herbeigeführten Herzstillstand durch sadistische Gewalt. Wenn sie sich im Gespräch zu den Taten äußert, wirkt sie distanziert, fast emotionslos.

„Ich bin in eine Realität hineingeboren, die Missbrauch in vielfältigsten Formen ausübte“, sagt sie. Mit „Realität“ meint sie ihre Familie. Ihren Vater nennt sie nur ihren „Erzeuger“. Er habe sie mit Stromschlägen gefoltert, schreibt Julia Winter, dies habe ihn sexuell erregt. Er habe ihr dabei Elektroden in ihre Körperöffnungen oder unter die Fingernägel geschoben. Auf dem ausgebauten Dachboden habe er in einem verschlossenen Schrank ein Gerät gehabt. Er habe sie geknebelt und mit einem Regler die Stromstärke reguliert. Daraufhin habe er sie vergewaltigt.

Winter sagt, sie ist Betroffene ritueller Gewalt. Dieser Begriff meint eine spezielle Form der organisierten, sexualisierten Gewalt, bei der Tä­te­r:in­nen eine Art Glaubenssystem in faschistoiden, satanistischen oder religiösen Gruppen schaffen. Julia Winters Familie lebt eine faschistoide Ideologie, sagt Winter.

Die Betroffenen ritueller Gewalt werden manipuliert, berichten Therapeut:innen, die mit ihnen arbeiten. Den Betroffenen werde suggeriert, sie seien auserwählt und der Missbrauch sei eine Prüfung. Das führe dazu, dass sich die Betroffenen an die Gruppe binden.

Hohe Dunkelziffer

Es gibt kaum Zahlen zu ritueller Gewalt. Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung von Sexuellem Kindesmissbrauch kam in einem Gutachten im Auftrag der Bundesregierung im Jahr 2019 zu dem Schluss, dass rund zehn Prozent aller bekannt gewordenen Missbrauchsfälle in organisierten oder rituellen Strukturen stattfinden. Die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen.

Das lässt auch die Vielzahl der eingehenden Anrufe beim Hilfetelefon berta erahnen. Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung (UBSKM) bietet es seit 2019 für Betroffene organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt an.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Allein in den ersten zwei Jahren hätten sich über 8.000 Menschen gemeldet, fast 5.500 Beratungsgespräche seien geführt worden, so die Missbrauchsbeauftragte. Die Gewalt und die Erfahrungen, die Betroffene schildern, sind laut Aufarbeitungskommission teilweise so drastisch, dass sie von Außenstehenden oft nicht für glaubwürdig gehalten werden. Auch deshalb schaffen es Fälle wie der von Julia Winter selten in die Öffentlichkeit.

In der Schweiz gab es in den vergangenen Jahren hingegen eine sehr medienwirksame Debatte über rituelle Gewalt, allerdings mit einer anderen Sichtweise auf das Thema. Ausgelöst wurde sie durch zwei Dokumentationen des öffentlich-rechtlichen Schweizer Senders SRF. Der Vorwurf in den Sendungen: Pa­ti­en­t:in­nen würden durch suggestive Befragung Missbrauch erinnern, der nie stattgefunden habe.

Die SRF-Journalist:innen beschuldigten vor allem einen Beratungsverein und den Oberarzt einer bekannten Schweizer Privatklinik, die sich auf Fälle schwerer Traumatisierung spezialisiert haben.

Julia Winter

„Nach außen hin waren wir eine Vorzeigefamilie“

Nach der Ausstrahlung der Filme beauftragte das Gesundheitsamt des Kantons Thurgau ein offizielles Gutachten zu der Arbeit in der Privatklinik. Das Gutachten bestätigte die Vorwürfe aus den Dokumentationen: Auf den Traumatherapie Stationen sei die „Verschwörungserzählung „rituelle Gewalt/Mind Control““ vorhanden. Mind Control bezeichnet die absichtsvolle, systematische Spaltung Betroffener in verschiedene Persönlichkeitsanteile. Heißt, dass es möglich sei, Kinder für den Missbrauch zu deutsch „mental zu kontrollieren“, also zu manipulieren.

Gegen die Chefärztin der Klinik wurde ein Strafverfahren eingeleitet, sie wurde freigestellt. Der Oberarzt verlor seinen Job. Die Klinikleitung entschuldigte sich. Pa­ti­en­t:in­nen der Klinik wiederum ergriffen Partei für die Klinik und die freigestellten Ärzt:innen. Sie kritisierten die „tendenziösen Medienberichte“. Im Januar 2023 strahlte das SRF eine dritte Dokumentation aus.

Leben unter neuer Identität

Julia Winter hat oft erlebt, dass ihr nicht geglaubt wird. Sie wird Mitte der Siebzigerjahre in Ostdeutschland geboren. Wo und wann soll hier nicht stehen, genauso wie der richtige Name von Julia Winter. Name und Ort sind der Redaktion bekannt. Mittlerweile hat sie ihren Geburtsnamen geändert und lebt in einer Stadt irgendwo in Deutschland. Trotzdem hat sie Angst, dass ihre Familie sie aufsucht.

Diese lebe noch heute in einem Einfamilienhaus in einem idyllischen Dorf in Ostdeutschland, erzählt Winter bei einem Treffen mit der taz. Ihre Verwandten genießen Ansehen im Ort, erzählt Winter. „Nach außen hin waren wir eine Vorzeigefamilie“, erinnert sie sich. „Wir Kinder galten als fromm, brav, hatten gute Schulnoten und ein Lächeln ins Gesicht getackert.“

Ab ihrem sechsten Lebensjahr habe sich Winter um den Haushalt und die depressive Mutter gekümmert: „Waschen, kochen, die Mutter überreden, etwas zu essen, ihr das Messer aus der Hand nehmen, wenn sie an ihren Pulsadern herumschnitt – das war alles meine Aufgabe.“

Ihren Vater beschreibt Winter als manipulativ, sadistisch und zugleich als einen angesehenen und einflussreichen Mann, der eine wichtige Position in der Kirchengemeinde innehatte. Er habe die Familie kontrolliert und auch die Mutter missbraucht. Winter selbst, so sagt sie, sei aus einer Vergewaltigung entstanden.

Illustration eines Hausdachs, eine Person und ihre SChatten stehen auf dem Dach

Illustration: Hanna Harms

Ihre ersten Erinnerungen im Alter von drei Jahren beschreibt sie so: „Meine Mutter saß nach einem Gewaltexzess meines Vaters auf der Couch. Ich habe einen Waschlappen geholt, um ihr zu helfen, weil sie verletzt war.“ Doch auch ihre Mutter erlebt Winter als unberechenbar: Manchmal habe sie mit allem, was sie in die Hand bekam, auf sie eingeschlagen. Liebe und Zuwendung habe Julia Winter nicht gekannt: „Mein Alltag war geprägt von Angst.“

Wenn Winter von der Gruppierung spricht, der auch ihre Familie angehöre, nennt sie diese einen „germano-faschistischen Kult“. Die Mitglieder betrachteten sich als Herrenmenschen, als Vertreter einer auserwählten und zum Herrschen bestimmten Rasse. Es existiere ein Zwang zum Gehorsam, jede Abweichung werde bestraft. Schwäche gelte als verwerflich, nur die Starken, die „Rasse-Reinen“ kämen in der Welt voran.

Um welche Gruppierung es sich genau handelt und wie viele Mitglieder sie hat, will Winter nicht sagen. Ihr Opa habe Kontakt zu Josef Mengele gehabt und öfter gesagt, „er sei froh, dass er das Wissen von ihm weitertragen darf“, so Winter. Mengele, der deutsche Arzt, führte zu NS-Zeiten medizinische Experimente an KZ-­In­sas­s:in­nen durch, darunter auch Folter. An Mengeles Methoden hätte sich auch die Gruppierung orientiert, um sie gefügig zu machen.

Julia Winter erinnert sich an einen Akt des Folterns, als sie noch Kind war: Sie sei nackt in eine Gefriertruhe gesteckt worden. „Es war dunkel und furchtbar kalt. Nach einer Weile wurde die Luft knapp, dann wurde ich bewusstlos.“ Die Erinnerung habe erst wieder eingesetzt, als ein Täter die Gefriertruhe geöffnet habe. Er habe sich als Retter dargestellt, sie müsse ihm von nun an gehorchen. Als er sie mit einem Ruck aus der Truhe gezogen habe, seien einige festgefrorene Stellen Haut abgerissen.

Aus Angst geschwiegen

„Einmal muss die Gewalt so schlimm gewesen sein, dass ich zum Arzt gebracht wurde, da war ich 14“, erzählt sie. Ihr Vater war dabei. Der Arzt habe gefragt, ob irgendetwas nicht in Ordnung sei, aus Angst habe sie geschwiegen. Mit 16 habe sie zum ersten Mal versucht, sich umzubringen. Zwei weitere Suizidversuche seien gefolgt.

Was Julia Winter erzählt, lässt sich schwer überprüfen. Es gibt kaum Zeugen, die nicht selbst Tä­te­r:in­nen waren. Normalerweise gehört es zu einer ausgewogenen Berichterstattung und zur journalistischen Fairness, auch die anzuhören, gegen die Vorwürfe erhoben werden. Julia Winter lehnt das strikt ab. Auf keinen Fall will sie, dass die Redaktion Kontakt mit ihrer Familie aufnimmt.

In diesem Text stehen also ein Stück weit journalistische Sorgfaltspflicht gegen den Schutz der Betroffenen. Die Redaktion hat sich für den Schutz der Betroffenen entschieden, denn es gibt Hinweise und Belege, die Winters Erzählung stützen.

Da ist zum Beispiel ein Haushaltsbüchlein aus ihrer Kindheit. Julia Winter hat es zu einem Treffen mitgebracht: Ein kleines DIN-A5-Heft, es sieht abgenutzt aus und ist bis zur Hälfte in einer ordentlichen Kinderhandschrift beschrieben. Winter sagt, sie habe es zwischen ihrem 11. und ihrem 14. Lebensjahr geführt. Sie blättert es auf.

Darin verzeichnet sind ihre Ein- und Ausgaben: Geldgeschenke von Verwandten etwa und Belege über kleinere Besorgungen. Auch ein „Urlauberzimmer“ ist darin aufgeführt. Das sei ein Ort gewesen, an dem sie missbraucht wurde.

Die „Urlauber“, das waren ihre Vergewaltiger. „Nach dem Missbrauch musste ich das Zimmer selbst aufräumen und säubern, dafür habe ich ein Taschengeld von 5 DDR-Mark bekommen.“ In einer Zeile in dem Heft steht eine routinierte Handschrift, wie eine Unterschrift unter einem Dokument: „Mein Erzeuger zeichnete die Einträge gegen.“

Posing für die Kunden

Julia Winter hat außerdem ein Zeugnis mitgebracht, 7. Klasse, polytechnische Oberschule. Nur Einsen und Zweien. Doch eine Zahl sticht ins Auge und passt nicht in das Bild einer Vorzeigeschülerin: Fast 40 entschuldigte Fehltage stehen da. Winter erklärt die vielen Fehltage so: „Mein Erzeuger nahm mich während der Schulwochen häufig mit auf Geschäftsreisen.“

Dort sei sie an zahlende Kunden „abgegeben“ worden, die sie nach Verhandlung über den „Preis“ und „spezielle Wünsche“ vergewaltigten. Nach dem Missbrauch habe ihr Vater sie wieder abgeholt und nach Hause gebracht. Sie zeigt Fotos von früher: ein kleines Mädchen, süß, blond, im kurzen Röckchen. Diese „Posingbilder“ habe ihr Vater machen lassen, um bei den potenziellen Freiern damit zu werben.

Sabine Bender kennt Julia Winter schon seit ihrer Kindheit. Die beiden sind Mitte der Achtzigerjahre zusammen zur Schule gegangen. Sie sind bis heute befreundet. Auch Bender heißt eigentlich anders, zum Schutz von Winter trägt sie einen anderen Namen. Nur einmal sei sie damals bei Winter zu Hause gewesen.

„Mich hat schon gewundert, dass in Julias Zimmer ein Doppelbett stand. Als Kinderzimmer war der Raum nicht erkennbar.“ Ihre Eltern hätten nicht gewollt, dass sie wieder zu dieser Familie gehe, warum, hätten sie nicht gesagt. Julia Winter hat ihrer Freundin Bender erst spät von ihrer Geschichte erzählt. Noch immer kann Bender das kaum fassen. Sie ringt um Worte oder weint, wenn sie erzählt, wie Winter mit ihrer Herkunft lebt.

Julia Winter ist noch Jugendliche, als sie von zu Hause auszieht, um eine Ausbildung zu beginnen, so erzählt sie das der taz. Die Ausbildung habe der Vater bestimmt, die Gruppierung sie nicht in Ruhe gelassen, der Missbrauch und die Zwangsprostitution seien weiter gegangen.

Regelmäßig hätten die Mitglieder der Gruppe sie aufgesucht und mitgenommen. In den Phasen dazwischen habe sie sich in die Arbeit geschmissen. Das sei oft die einzige Möglichkeit gewesen, den Tä­te­r:in­nen zu entfliehen.

Anzeige gegen den Vater

Mit der Polizei sei Winter nur einmal in Kontakt gekommen. Ende der 1990er Jahre hatte sich ein thüringischer Pfarrer an das Bundeskriminalamt gewandt, so steht es in einem Schreiben der Staatsanwaltschaft von damals. Das BKA habe daraufhin wegen sexueller Nötigung gegen ihren Vater ermittelt. Winter sagt, dass sie bis heute nicht weiß, wer dieser Pfarrer war.

Zu dem Zeitpunkt ist Julia Winter Mitte 20 und schon ausgezogen, aber die Tä­te­r:in­nen hätten sie weiterhin missbraucht. Die Staatsanwaltschaft, so steht es in dem Schreiben, legte dem Beschuldigten sowie weiteren unbekannten Tätern zur Last, Winter mindestens seit 1983 bis in die 1990er Jahre in ihrem Heimatort und nicht näher bekannten Tatorten sexuell missbraucht zu haben.

Die Polizei habe Winter daraufhin vernommen. „Das war schon ein großer Kraftakt für mich“, erinnert sie sich. Die Beamten hätten ihr Fotos gezeigt, sie sollte Täter identifizieren, habe aber niemanden erkennen können. Die Po­li­zis­t:in­nen seien einfühlsam gewesen. „Aber ich wurde überflutet von den Erinnerungen, die mich unglaublich getriggert haben.“ Winter habe sich übergeben und die Vernehmung abbrechen müssen.

Die Staatsanwalt­schaft stellte das Verfahren gegen Winters Vater ein

Auch ihre Verletzungen wurden gerichtsmedizinisch untersucht. Man sieht bis heute noch Narben: Die Unterarme sind übersät mit Brandnarben, die von Zigaretten stammen müssen. Ganz nah beieinander, als solle es ein Muster ergeben. „Am Rücken habe ich auch welche“, sagt Winter.

Sie holt einen Brief heraus, den sie 2002 von der Staatsanwaltschaft ihres damaligen Wohnorts geschickt bekommen hatte. Er sieht aus wie frisch geöffnet. Die Staatsanwaltschaft kommt darin zu dem Schluss, dass die Verletzungen wahrscheinlich nicht selbst beigebracht worden seien.

Darin steht aber auch, dass das Verfahren eingestellt werde. In der Begründung heißt es: Beide Sachverständigengutachten, die zur Glaubhaftigkeitsbeurteilung von Winters Aussagen veranlasst wurden, seien zu dem Ergebnis gelangt, „dass die Geschädigte an einer dissoziativen Identitätsstörung leide“.

Die „Explorierbarkeit der Zeugin“ sei „aufgrund ihrer psychischen Instabilität, derzeit nicht in hinreichendem Maße gegeben“, um Anklage zu erheben. Mit anderen Worten: Die Hauptbelastungszeugin ist derzeit nicht vernehmungsfähig, also stellen wir das Verfahren ein.

Die Staatsanwaltschaft bestätigt auf Anfrage der taz, dass es dieses Ermittlungsverfahren wirklich gab. Auch, dass es eingestellt wurde, „da ein hinreichender Tatverdacht im Ergebnis der durchgeführten Ermittlungen nicht begründet werden konnte.“ Mehr Details will die Staatsanwaltschaft nicht nennen. Das Verfahren sei zu lange her, die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten müssten gewahrt bleiben.

Einen neuerlichen Versuch sich juristisch zu wehren, habe sie danach nicht mehr wagen wollen, sagt Julia Winter. Zu groß seien die Belastungen während der Vernehmung gewesen.

Dissoziative Identitätsstörung. Julia Winter lebt heute auch offiziell mit der Diagnose aus dem Schreiben der Staatsanwaltschaft von 2002.

Eva Roth ist Traumatherapeutin, sie arbeitet seit vielen Jahren mit Betroffenen von organisierter ritueller Gewalt. Auch sie heißt eigentlich anders. Roth hat Julia Winter zehn Jahre lang durch die Therapie begleitet. Als Therapeutin hat sie oft erlebt, dass Menschen, die so massive Gewalt erfahren haben wie Winter, eine solche Identitätsstörung entwickeln, erzählt sie.

„Wenn die eigene Familie missbraucht und misshandelt, lernt das Kind die Erfahrungen abzuspalten: in einen Persönlichkeitsanteil, der das Schlimme erlebt, und einen, der es nicht erlebt. Gibt es mehrere Tä­te­r:in­nen oder unterschiedliche Situationen, in denen das Kind den Missbrauch erlebt, entstehen mehrere Teilpersönlichkeiten.“

Die frühe Gewalt verhindere die Entwicklung des Gehirns. Bei den Kindern könne das Gefühl entstehen, mehrere Personen zu sein. „Sie wissen dann nur bruchstückhaft über ihren Alltag Bescheid, weil nicht immer alle Persönlichkeitsanteile bewusst sind und es somit viele Erinnerungslücken gibt“, sagt Roth.

Der Anteil, der den Alltag bestreitet, kann in besonderen Belastungen also Gedächtnislücken haben, ohne bewusstlos zu sein. Ein anderer übernimmt in dieser Zeit die Kontrolle über den Körper. Lange Zeit sprachen Ex­per­t:in­nen von einer Multiplen Persönlichkeitsstörung. Mittlerweile diagnostizieren Psy­cho­the­ra­peu­t:in­nen eine Dissoziative Identitätsstörung (DIS).

„Wie in Watte“

Bei fast 95 Prozent der Pa­ti­en­t:in­nen entstehe die Störung nach einer schweren frühkindlichen Traumatisierung durch sexuellen, physischen, psychischen und/oder rituellen Missbrauch vor allem im Elternhaus.

Wenn Julia Winter die Kontrolle über ihr Bewusstsein verliert, fühle es sich „wie in Watte“ an, sagt sie. „Es ist hell, es muss tags sein. Wie spät ist es? Warum stehe ich in der Küche, und was ist passiert?“, so beschreibt sie ihr Erleben mit dissoziativer Identität. „Das macht mir Angst.“

Diese Angst, der fortbestehende Missbrauch und die wiederkehrenden Erinnerungslücken seien der Grund gewesen, weshalb Winter in Therapie ging. Im Jahr 2008 – sie ist jetzt Anfang 30 – sucht sie eine Therapeutin auf, in den Anamnesebogen, der der taz vorliegt, schreibt sie: „Ich komme nicht klar mit dem, was ich selbst erlebt habe. Alles, was ich weiß, sind bislang nur Bruchstücke. Macht mir unglaubliche Angst, weil mir das jetzige Wissen schon zu viel ist und es mir schwer macht, Tag für Tag weiter zu leben.“ Sie schreibt auch, dass es zur Zeit mehrfach zu „ungewolltem Täterkontakt“ komme.

Für die Therapie dokumentiert Winter monatelang ihre Erinnerungslücken. „Sie hat akribisch angefangen, das aufzuschreiben“, erzählt ihre spätere Therapeutin Eva Roth. Beide merkten, dass die Amnesie vor allem die Wochenenden betraf. An den Wochenenden hätten die Täter sie oft aufgesucht, erzählt sie.

Julia Winter erzählt: „Ich erinnere Situationen, als ein Auto anhielt und ein Mitglied der Gruppierung aus dem Autofenster einen Satz sagte. Zunächst wirkte das harmlos. Aber danach war ich weg, ich wusste tagelang nichts mehr.“ Wenn sie wieder zu sich gekommen sei – meist in ihrer Wohnung – habe sie sich erholen müssen. Sie habe Schmerzen gehabt, Verletzungen, von denen sie nicht wusste, wo sie herkamen. Meist seien sie schon verarztet gewesen.

Die Therapeutin Eva Roth erklärt dies so: „Nach dem Missbrauch hat sie Verbandsmaterial von den Tätern bekommen. Ein Persönlichkeitsanteil nähte sich immer selbst, ihre Dammrisse zum Beispiel, wenn sie nach Hause gekommen ist. Dieser Anteil wusste genau, wie er das desinfiziert und versorgt.“ Rund um bestimmte Feiertage passierten zusätzlich heidnische Ri­tua­le, sagt die Therapeutin. Diese würden dann in den Dienst der Ideologie gestellt.

Beratungsstelle Karo

Die Hauptarbeit während der Therapie habe darin bestanden, den Kontakt zu den Tätern zu beenden, sagt Roth. Unter Folter habe Winter verinnerlicht, dass sie sterben würde, wenn sie wagte sich der Gruppierung zu widersetzen. Durch diese „Erziehung“ sei sie vermeintlich freiwillig immer wieder zu Tä­te­r:in­nen und sei im Sinne der Ideologie gehorsam gewesen.

Winter habe lernen müssen, gegen ihre inneren Zwänge anzukämpfen und sich nicht manipulieren zu lassen. Winter sagt, irgendwann sei es ihr gelungen, sich den Tä­te­r:in­nen zu entziehen. Diese hätten sie in Ruhe gelassen – obwohl sie gewusst hätten, wo sie lebt, so Winter.

Für Menschen, die wie Julia Winter systematisch ausgebeutet werden, gibt es nur wenige Beratungsstellen. Eine ist Karo e. V. im sächsischen Plauen. Der Verein kümmert sich seit 1994 vorwiegend um Frauen, die gezwungen werden, sich zu prostituieren und von Menschenhändlern wie Ware benutzt werden. Karo betreibt ein Schutzhaus und zwei Wohnungen speziell für Betroffene ritueller Gewalt.

Die Geschäftsstelle am Rande von Plauen liegt in einem Altbau in einem Wohngebiet. Die Haustür ist abgeschlossen, an der Hausecke hängt ein Leuchtkasten mit der Aufschrift „Babyklappe“, ein Pfeil weist in die Richtung, wo das Wärmebettchen zu finden ist. Im Flur hängen Bilder, die Frauen gemalt haben, die hier Zuflucht fanden. Es sind bunte, hoffnungsvolle Bilder, eines auch in Gedenken an eine durch die Gewalt Verstorbene.

Cathrin Schauer-Kelpin ist Sozialarbeiterin und leitet die Beratungsstelle. In ihrem Büro steht eine Couch, Schauer-Kelpin bietet Kuchen an. Gemütlich wirkt das. „Das erste Mal mit ritualisierter Gewalt in Kontakt gekommen bin ich 1998“, erzählt sie. Damals kam die erste Betroffene durch ihre Tür, deren Geschichte Schauer-Kelpin kaum habe glauben können.

Der ideologische Überbau organisierter Gewalt ist kein strafrechtliches Tatbestandsmerkmal

Hinweise auf organisierte Netzwerke

In ihren 29 Jahren als Sozialarbeiterin hat sie zahlreiche ähnliche Berichte wie die von Julia Winter gehört. Wenn sie über ihre Erfahrungen spricht, wirkt sie abgeklärt. In ihrem Büro stehen Ordner dokumentierter Fälle organisierter und auch ritueller Gewalt.

An der Not der Betroffenen habe sich seitdem nicht viel geändert: Immer noch gibt es zu wenig adäquate Versorgung. Rituelle Gewalt würde noch zu oft für eine Verschwörungserzählung gehalten – das schütze die Täter, so Schauer-Kelpin. Die Menschen bräuchten bei dieser Form der Gewalt spezifischere Hilfen.

Sie seien darauf angewiesen, dass sich Helfende damit auskennen. Es bedürfe spezieller Therapien, unter anderem auch wegen der so häufig auftretenden Dissoziativen Identitätsstörung. Laut einer Studie der Aufarbeitungskommission beträgt die durchschnittliche Zeit professioneller Unterstützung von solchen Betroffenen 9 Jahre, während die Unterstützung sonst durchschnittlich 5 Jahre dauert.

„Die Betroffenen wollen oder können oft gar nicht anzeigen oder aussagen. Oft sind in der Vergangenheit schon Anzeigen und polizeiliche Vernehmungen gelaufen, die nicht optimal waren, bei denen ihnen nicht geglaubt wurde“, sagt Schauer-Kelpin. Die Gründe dafür seien immer wieder die Gleichen: mangelnde Beweislage, psychische Instabilität.

Das bestätigt auch Manfred Paulus. Mehr als 25 Jahre lang war er Kriminalhauptkommissar in Ulm, im Dezernat Sexualdelikte und Rotlichtkriminalität. Heute reist er durch ganz Europa, um über Pädokriminalität aufzuklären. Anzeigen seien sehr selten, sagt Paulus. Es gebe aber oft Hinweise auf organisierte Netzwerke ritueller Gewalt.

Auch Verurteilungen habe es gegeben, dann aber nur wegen sexuellen Missbrauchs, Körperverletzung oder Mordes. Der ideologische Überbau organisierter Gewalt ist kein strafrechtliches Tatbestandsmerkmal und sei allenfalls von sekundärer Bedeutung – und das, sagt Paulus, obwohl sich Tä­te­r:in­nen mittlerweile auch international vernetzen, um Kinder zu jagen und auch auf ri­tuel­le Weise zu missbrauchen.

Einer der größten Fälle sexualisierter Gewalt in Deutschland wurde in Bergisch-Gladbach seit 2019 aufgedeckt. Doch auch hier ermittelt die Staatsanwaltschaft in Köln nur gegen Einzeltäter:innen.

„Satanic Panic“

Doch manche, die sich mit dem Thema beschäftigen, sind auf ganz andere Art alarmiert als Paulus oder Schauer-Kelpin. Nicht nur in der Schweiz hat die bereits erwähnte SRF-Dokumentation rituelle Gewalt infrage gestellt. Auch in Deutschland gibt es Vereine, die erklären, rituelle Gewalt sei ein längst widerlegtes Konstrukt aus den USA, das von einigen Psy­cho­the­ra­peu­t:in­nen kultiviert werde. „Satanic Panic“ ist so zu einem Stichwort geworden.

Das beschreibt die Angstmacherei insbesondere vor ritueller Gewalt durch Satanist:innen, für die es keine Anhaltspunkte gebe. Vereine wie die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e. V. (GWUP) stellen die rituellen Aspekte als eine Verschwörungserzählung dar.

Dieser Verein setzt sich kritisch mit pseudo- und parawissenschaftlichen Themen auseinander. Darunter fällt laut GWUP auch, dass Menschen durch organisierte Gruppen psychisch manipuliert und ausgebeutet werden könnten. Sie warnen vor Therapeut:innen, die das behandeln. Diese würden den Betroffenen Erinnerungen suggestiv einreden.

Für Julia Winter sind solche Aussagen schwer zu ertragen. „Es bedrückt mich, wenn ri­tuel­le Gewalt als Verschwörung abgetan wird“, sagt sie. Das sei „ein Totschlagargument“.

Eine sachliche Diskussion zu führen, ist gar nicht so einfach, denn es gibt kaum Forschung.

Für die Zukunft sei eine verbesserte Aufklärungsarbeit in der Gesellschaft sowie eine intensivierte Forschungsarbeit unter psychosozialen Fachpersonen zu empfehlen, erklärt ein Projektteam des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, das als eines der wenigen zum Thema rituelle Gewalt forscht. An der Uniklinik Ulm sollte 2022 im Auftrag der UBSKM ein Forschungsprojekt starten, um die Anrufe des Hilfetelefons berta auszuwerten.

Die Ethikkommission lehnte das Projekt auch nach Überarbeitung definitiv ab. So etwas sei statistisch eher die Ausnahme, sagt der Ärztliche Direktor der Klinik. Die Kommission könne keine wissenschaftliche Fragestellung erkennen. Er habe der UBSKM empfohlen, das Projekt einer anderen Forschungseinrichtung vorzulegen, die keine Ethikkommission hat.

Sie will Öffentlichkeit

Mittlerweile kann Julia Winter ein halbwegs normales Leben führen, sagt sie. Ihre Freundin versucht sie seit Jahren zu unterstützen, doch mehr als Verständnis und Ablenkung zu bieten, ist ihr kaum möglich. Sie sagt: „Da ist ein Leben von Anfang an zerstört worden, und andere Leute, die laufen scheinheilig durch den kleinen Ort.“ Sie trifft Winters Familie heute noch ab und an, wenn sie ihre eigenen Eltern in dem Heimatort besucht. „Ich übe mich da in Selbstbeherrschung und sage nichts, außer freundlich Guten Tag.“ Zu groß sei die Angst, dass Julia noch mal etwas zustoße.

Julia Winters Therapeutin berichtet von einigen Pa­ti­en­t:in­nen aus ganz Deutschland, deren Geschichten sich ähnelten. Die Betroffenen seien Teil organisierter Netzwerke – vermutlich ähnlich wie in Bergisch-Gladbach.

Im Rahmen der Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs durch die Bundesregierung gibt es seit 2013 einen Hilfsfonds. Laut Jahresbericht von 2021 dieses Fonds sind 6,7 Prozent der An­trag­stel­le­r:in­nen Betroffene ritueller Gewalt mit gleichmäßiger Verteilung auf die Bundesländer.

Anfang 2022 hat Julia Winter ihre Geschichte in einem öffentlichen Vortrag bei einem Symposium erstmals geteilt. Kurz zuvor sei sie telefonisch bedroht worden. Den Vortrag hielt sie trotzdem. Denn sie will, dass das Thema bekannter wird.

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