Sexueller Missbrauch: Nicht nur Gewalt
Um Kinder besser vor sexuellen Übergriffen zu schützen, brauchen wir einen weiten Begriff von Missbrauch.
Sexueller Missbrauch von Kindern ist eines der widerlichsten Verbrechen. Die Seele von Kindern wird auf das Schwerste verletzt. Viele Opfer bleiben ihr Leben lang traumatisiert. Dennoch sind diese Taten alltäglich – im Schnitt werden in Deutschland jeden Tag 43 Kinder sexuell missbraucht.
Das darf unsere Gesellschaft nie akzeptieren. Im Bundestag verabschieden wir am Donnerstag daher ein umfassendes Gesetzespaket, das Kinder besser vor solchen Übergriffen schützen soll und diese Taten endlich als das bestraft, was sie sind: als Verbrechen.
Als Union war uns wichtig, dass das Gesetz keine rechtlichen Grauzonen für Täter bietet. Deswegen haben wir den vom Bundesjustizministerium vorgeschlagenen neuen Begriff „sexualisierte Gewalt“ gestrichen. Im Einklang mit nahezu allen Strafrechtsexperten sind wir der Auffassung, dass diese Begrifflichkeit die Gefahr heraufbeschworen hätte, dass bestimmte Übergriffe an Kindern rechtlich nicht mehr klar erfasst hätten werden können.
Denn die Rechtsprechung definiert den Begriff der „Gewalt“ eng. Es gibt aber Taten, die zweifellos sexuellen Missbrauch darstellen, bei denen aber kein Körperkontakt stattfindet und die deshalb nur schwer unter den Begriff Gewalt zu fassen sind. Manche Täter manipulieren ihre Opfer und bringen sie dazu, sexuelle Handlungen an sich oder anderen vorzunehmen. Oder sie masturbieren vor einem Kind.
Weder juristisch noch umgangssprachlich kann solches Täterverhalten ohne Weiteres als Gewalt eingeordnet werden. Die Verfassung verlangt aber, dass nur das bestraft wird, was klar und unmissverständlich verboten ist.
Mit der Begrifflichkeit sexualisierte Gewalt hätten sich aber Rechtsunsicherheiten und Strafbarkeitslücken ergeben – zulasten der Opfer. Das war für uns nicht akzeptabel. Deshalb ist es gut, dass die etablierte und klare Terminologie „sexueller Missbrauch von Kindern“ weiterhin Verwendung findet. Dies macht jedem deutlich, worum es geht: Um Verbrechen, die wir entschlossen bekämpfen und hart bestrafen.
Leser*innenkommentare
Angelika Oetken
"Dennoch sind diese Taten alltäglich – im Schnitt werden in Deutschland jeden Tag 43 Kinder sexuell missbraucht."
Die Zahl bildet das Hellfeld, also die polizeilich erfassten Sexualstraftaten gegen Kinder und Jugendliche ab. Das Dunkelfeld ist wesentlich größer. Info www.aerzteblatt.de...r-Gewalt-betroffen.
Britta Martini
Bei dem Wort „Mißbrauch“ assoziiere ich immer sofort die semantische Bedeutung, daß Menschen andere Menschen im guten und im schlechten Sinn gebrauchen können. Diese Option, daß Menschen und eben auch Kinder grundsätzlich zu etwas (hier: um sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen) gebraucht, benutzt, werden können, schwingt in diesem unsäglichen Begriff „Mißbrauch“ immer mit. Weder einen angeblich „guten, also legitimen Gebrauch“ (was soll ich mir darunter vorstellen?) noch einen „schlechten Gebrauch, einen Mißbrauch“ halte ich für akzeptabel. Wenn es – so, wie ich es sehe – also keinen legitimen Gebrauch von Menschen gibt, kann es auch keinen illegitimen Menschengebrauch (Mißbrauch) geben. Was es aber gibt, sind legitime und illegitime Handlungen an Menschen. Warum kann der Gesetzgeber nicht von sexuellen Handlungen bzw. Misshandlungen sprechen? Mißhandlung ist ein deutlicher Begriff. Vielleicht muß hier dann auch im Gesetz klar benannt werden, was als Handlung zu gelten hat. Warum eine solche Definition nicht auch für sexuelle „Gewalt“ möglich sein soll, verstehe ich nicht; erst recht nicht, daß für den Begriff „Mißbrauch“ eine Klarstellung der gemeinten Bedeutung erst gar nicht versucht wird – ich bin keine Juristin. Heute weiß jedenfalls ein großer Teil der Bevölkerung, daß Handlungen sich nicht auf Taten beschränken, die mit den Händen ausgeführt werden – Mißhandlungen treten auch in Form von Sprachhandlungen und nonverbalem Agieren auf. So, das mußte mal gesagt werden.
Angelika Oetken
@Britta Martini In der teils äußerst kontrovers geführten Debatte um die passenden Begriffe für Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen offenbart sich die Komplexität, Verbreitung, Ambivalenz und tiefe kulturelle Verwurzelung dieser Verbrechen an Minderjährigen.
Juristisch ist es üblich, den Gewaltbegriff eng zu führen. Sozialwissenschaftlich wird zwischen sexueller Ausbeutung, sexueller Gewalt und sexualisierter Gewalt unterschieden. Politische Gruppen, allen voran solche aus der emanzipatorischen Frauenbewegung definieren "Gewalt" sehr weit. D.h. auch wenn SexualstraftäterInnen ein Machtgefälle ausnutzen oder strukturelle Benachteiligung zu den Verbrechen beigetragen hat, sprechen die AnhängerInnen dieser Perspektive von Gewalt.
Wie schwierig, vielleicht sogar unmöglich es ist, einen für alle Sichtweisen passenden Begriff zu finden, zeigt sich anhand der Debatten um Pornografie und/oder Prostitution. Aus denen sich Fragen danach ableiten, inwieweit das Schutzalter für in der Prostitution/Pornoproduktion tätige Menschen, das derzeit 18 Jahre beträgt, gesenkt werden kann und wie Gewalthandlungen an/von/mit Minderjährigen zu bewerten sind, die als "BDSM" bezeichnet werden, also dem Sadomasochismus zuzuordnen sind.
Hält man sich vor Augen, welche Rolle Sexualstraftaten an Kindern/Jugendlichen in den Bereichen Prostitution/Pornografie/BDSM spielen, denn das Eine bedingt das Andere, wird deutlich, dass die Diskussion um die genutzten Begriffe kein Randthema darstellt, sondern die Basis unseres individuellen und kollektiven Umganges mit Sexualität darstellt.
Angelika Oetken
@Britta Martini "Warum kann der Gesetzgeber nicht von sexuellen Handlungen bzw. Misshandlungen sprechen?"
Umfassend und gleichzeitig unmissverständlich sachlich wäre "Sexualstraftaten an Kindern/Jugendlichen" - aber die Formulierung ist auch sperriger als "Sexueller Missbrauch", "Sexuelle Gewalt" oder "Sexualisierte Gewalt".
Hier etwas zur Herkunft des Begriffs "Sexueller Missbrauch" de.wikipedia.org/w...Missbrauch#Begriff