Religionsunterricht: Deutschlands heilige Kuh
Lehrpläne werden oft heiß diskutiert, nur an einem Fach wird nicht gerüttelt: am Religionsunterricht. Dabei könnten die Kirchen ihn sogar selbst übernehmen.
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A ls Reaktion auf das schlechte Abschneiden bayerischer Schulen beim internationalen Vergleichstest für Schulleistungen hat das dortige Kultusministerium eine neue Stundentafel für staatliche Grundschulen durchgedrückt. Um mehr Unterrichtszeit für Deutsch und Mathematik zu schaffen, wurde der Umfang von Fächern wie Englisch, Kunst, Musik, Werken und Gestaltung empfindlich gekürzt. Während in der Grundschule die Konzentration auf Kernkompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen nachvollziehbar ist, fällt auf, welches Unterrichtsfach bei den Kürzungen nicht angefasst wurde – der Religionsunterricht.
Die Prominenz des Religionsunterrichts in Schulen ist historisch erklärbar. Der Staat hat zunehmend die Verantwortung für schulische Ausbildung von den Kirchen übernommen, die früher der naheliegende Träger einer organisierten Erziehung von Schülerinnen und Schülern gewesen sind. Die Einrichtung von Religionsunterricht mit von den Kirchen ausgebildetem, teilweise auch von ihnen kontrolliertem Lehrpersonal war das Zugeständnis für die Verlagerung der Erziehungskompetenz auf den Staat.
Die Kirchen haben sich den Zugang zu den Schulen gesetzlich absichern lassen. Im Grundgesetz ist der Religionsunterricht als einziges Lehrfach explizit ausgewiesen. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben dort ausdrücklich festgeschrieben, dass dieser nur in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft erteilt werden darf. Rechtlich wäre es also einfacher, den Unterricht in Deutsch, Mathematik oder Physik abzuschaffen als den in katholischer oder evangelischer Religionskunde.
Aus heutiger Sicht kann man sich fragen, weswegen Religion über ein eigenes Schulfach eine so wichtige Rolle in Schulen spielen sollte. Es spricht nichts dagegen, auch gesellschaftliche Felder im Unterricht zu behandeln. Man kann wirtschaftliche Phänomene ansprechen, politische Entwicklungen diskutieren, rechtliche Themen adressieren, massenmediale Produkte analysieren oder religiöse Praktiken erörtern. Aber die allgemeinbildenden Schulen sind bisher gut damit gefahren, den regelmäßig vorgebrachten Forderungen nach eigenen Schulfächern für Wirtschaft, Politik, Recht oder Medienkunde zu widerstehen. Lediglich für Religion gibt es dagegen ein eigenes Schulfach, an dessen Bedeutung kaum jemand zu rütteln wagt.
ist Professor für Organisationssoziologie in Bielefeld und forscht derzeit zur Soziologie der Schule. Er war selbst lange Jahre in der evangelischen Jugendarbeit aktiv und hat zwei Jahre für die evangelische Jugend in München gearbeitet.
Kirchen können pädagogische Aufgaben selbst übernehmen
Das fällt insofern auf, als es – anders als in Wirtschaft, Politik, Recht oder Medien – mit den Kirchen Organisationen gibt, die Erziehungsfunktionen gegenüber Kindern übernehmen könnten. Unternehmen, Parteien, Gerichte oder Zeitungen haben wichtige Funktionen in der modernen Gesellschaft – aber sie haben weder das Personal noch die Ressourcen, um Kinder in Fragen von Wirtschaft, Politik, Recht oder Medien zu erziehen. Kirchen dagegen zeigen beim Unterricht zur Vorbereitung der Konfirmation oder Kommunion, dass sie zur religiösen Erziehung selbst in der Lage sind.
Trotz einer zunehmenden Säkularisierung in der Gesellschaft würde der Protest gegen eine Abschaffung des Religionsunterrichts erheblich sein. Selbst Parteien, die regelmäßig beklagen, dass sich der Staat in viel zu viele Lebensbereiche seiner Bürger einmischt, werden auffällig schmallippig, wenn es um Kritik am Religionsunterricht geht. Es scheint einfacher zu sein, über zu viele Beamte in Ministerien, Landesbehörden oder Kommunalverwaltungen zu klagen, als die Frage zu beantworten, warum aus Steuergeldern mehrere Zehntausend verbeamtete Religionslehrer in staatlichen Schulen finanziert werden.
Persönlichkeitsbildung nur in Reli?
Vermutlich wird unter den Protestierenden gegen eine Abschaffung des Religionsunterrichts auch der eine oder andere Elternteil sein, der seit Jahren nicht mehr in der Kirche gewesen ist und noch nie ein Tischgebet mit seinem Kind gesprochen hat. Sie mögen sich vielleicht die Frage stellen, warum, wenn immer mehr Erziehungsaufgaben auf die Schule abgewälzt werden, diese nicht auch die religiöse Bildung für das eigene Kind übernehmen soll.
Als Begründung für den evangelischen oder katholischen Religionsunterricht und den für Andersgläubige vorgesehenen Ethikunterricht wird die wichtige Rolle des Faches bei der Persönlichkeitsbildung des Kindes hervorgehoben. Aber hier stellt sich zwangsläufig die Frage, weswegen die Persönlichkeitsbildung in einem einzigen Schulfach verankert sein sollte. Diskutiert man nicht auch im Deutschunterricht bei der Interpretation eines Gedichts über den Sinn des Lebens? Findet in der Auseinandersetzung zwischen Lehrern und Schülern im Sachunterricht keine Persönlichkeitsbildung statt?
Hoffnung auf Zufallstreffer
Gegen den Widerstand der Kirchen wird eine Abschaffung des Religionsunterrichts nicht gelingen. Aufgrund des nachlassenden Interesses an religiösen Fragen und fehlenden Fachpersonals denken die evangelische und die katholische Kirche über eine stärkere Kooperation beim Unterricht nach, aber die Sinnhaftigkeit eines Religionsunterrichts an den staatlichen Schulen wird nicht infrage gestellt. Zu groß ist die Hoffnung, dass durch die Zwangsbeschulung mit religiösen Inhalten doch vielleicht der eine oder andere Gläubige hängen bleibt.
Aber die Frage ist, ob sich die Kirchen mit dem verpflichtenden Religionsunterricht einen Gefallen tun. Es müsste untersucht werden, ob jemals ein Schulkind durch einen in ein 45-Minuten-Korsett gezwängten Pflichtunterricht mit anschließender Leistungsbenotung zu Gott gefunden hat.
Der Effekt des Religionsunterrichts ist vermutlich eher kontraproduktiv. Der Glaube wird über den Religionsunterricht mit dem verbunden, was bei vielen Kindern Schule vorrangig ausmacht: Lernen unter Druck. Die religiöse Erziehung sollte in der Organisation stattfinden, die dafür am besten geeignet ist – der Kirche.
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