Rechtsextremismusexperte über Rechtsruck: „Das funktioniert auch ohne Führer“
Andere Länder sind stolz auf die Demokratie, Deutschland auf seine Wirtschaft. Wie Oliver Decker sich und uns den allgemeinen Rechtsruck erklärt.
taz: Herr Decker, die Deutschen und ihre Volkswirtschaft – was ist das für ein Verhältnis?
ist Rechtsextremismusforscher und Direktor des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung in Leipzig.
Oliver Decker: Im Rahmen des International Social Survey Panel werden regelmäßig repräsentative Umfragen in vielen Ländern durchgeführt. Eine Frage ist: Warum sind Sie stolz auf Ihr Land? Das Ergebnis ist ebenso regelmäßig und eindeutig, Deutsche – in Ost wie West – empfinden den meisten Stolz auf die wirtschaftlichen Erfolge ihres Landes.
Das ist in anderen Ländern nicht so. In Großbritannien und Frankreich sind die Menschen stolz auf die Geschichte der Demokratie. Militärische Erfolge, Sport oder Kultur spielen auch eine Rolle. Es ist aber auffällig, dass selbst in den USA, wo wir generell einen ausgeprägten Nationalstolz feststellen, die Wirtschaft seltener genannt wird.
Was bedeutetet es, dass sich die Deutschen so sehr mit ihrer Wirtschaft identifizieren?
Es gibt die sogenannte Deprivationsthese: Wenn Leute Abstiegsängste haben, dass sie nächstes Jahr weniger zur Verfügung haben, dann steigt in der Regel auch die Zustimmung zu antidemokratischen Ansichten. Dieser Befund gilt eigentlich in allen untersuchten Ländern. In Deutschland ist es aber nicht die befürchtete eigene Deprivation, die zum Fremdeln mit der Demokratie führt, sondern die nationale.
Wenn die Befürchtung verbreitet ist, dass es „uns“ als Nation ökonomisch schlechter geht, dann steigt die Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen. Es ist nicht die eigene Lage, sondern die Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung des ganzen Landes, die ausschlaggebend ist. Während der Jahre von 2008 bis 2012, der Finanzkrise, ist die Zustimmung zu verschwörungstheoretischen und antisemitischen Aussagen in Umfragen stark angestiegen. Das hörte abrupt auf, als die Wirtschaft sich erholte und das zentrale Motiv in den Medien wechselte und Deutschland als der Wirtschaftsmotor Europas erlebt wurde. Das dämpfte sofort die Ressentiments.
Woher kommt diese Identifikation?
Über Jahrhunderte bot Religion Sinn und mit der Aussicht auf ein versöhnendes Jenseits Trost für die alltäglichen Enttäuschungen und Leiden. Mit der Aufklärung schien das passé, tatsächlich aber trat nun an die Stelle eine radikalisierte Diesseitserwartung und die Sehnsucht nach Autorität. Das hat der Soziologie Max Weber früh erkannt, er beschrieb, dass besonders in Deutschland eine Verbindung aus Kapitalismus und Religion, der Protestantismus, Schutz bot und Sinn stiftete: Arbeit, Akkumulation von Reichtum und Kapital.
Etwas davon schimmert auch im Begriff des Wirtschaftswunders durch. Die Wirtschaft fungiert seit Generationen als Ersatzchauvinismus. Wir sind gewohnt, diesen Begriff mit der Zeit nach 1950 in Deutschland zu verbinden. Aber man muss wissen: Geprägt wurde der Begriff schon 1936. Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 fing die Wirtschaft in ganz Europa wieder an zu boomen, der NS hat das nach 1933 über die Aufrüstung noch befeuert. Den wirtschaftlichen Erfolg haben die Deutschen dem „Führer“ zugeschrieben, Adolf Hitler war die Inkarnation ihrer Größenphantasien. Nach dem Krieg hat sich gezeigt, dass das auch ohne Führer funktioniert. Nicht die Auseinandersetzung mit der Schuld und der Scham, nicht die Trauerarbeit über den Verlust der narzisstischen Herrenreiter-Ideologie beschäftigte die Deutschen, es setzte sich stattdessen eine Plombe auf diese Lücke: die wirtschaftliche Prosperität, das Wirtschaftswunder.
Die Wirtschaft wurde zu einer „sekundären Autorität“, der man sich unterwirft, um durch Identifikation an ihrer Macht und Stärke teilzuhaben. Da liegt es auch nahe, dass in dem Moment, in der die Wirtschaft als idealisiertes Objekt, dem man so viele Zugeständnisse gemacht hat, Schwäche zeigt, die Wut besonders groß ist. Denn was so wichtig ist, darf nicht schwach sein, ist aber potentiell immer bedroht. Darum ist Wahrnehmung von ökonomischen Krisen so ausschlaggebend.
In den letzten 20 Jahren ist die Einkommensschere in Deutschland so schnell aufgegangen wie in kaum einem anderen Land. Trotzdem ist der Protest geringer als anderswo. Wie kommt das?
Die Dynamik kann man am Beispiel der Agenda 2010 illustrieren. Die Proteste gegen die Reform des Arbeitsmarkts und des Sozialsystems waren in Deutschland verschwindend gering. Etwas von der Volksgemeinschaft als Schicksalsgemeinschaft kann man noch in der Rede vom Standort wiederfinden. Die Akzeptanz für die Forderung, zusammenzurücken, damit die Wirtschaft wieder wachsen kann, die ist so hoch, dass die Kosten für das eigene Leben zurückgestellt oder aufgegeben werden. Aber diese Unterwerfung hat psychische und politische Verrechnungskosten.
Die Aggressionen, ausgelöst von der Demütigung und Enttäuschung, die so eine Unterwerfung mit sich bringt, müssen ein Ventil finden. Das ist die Wut auf diejenigen, die kommen und scheinbar nichts beigetragen haben, das ist Wut auf die, die eine andere Religion haben, die sich nicht an „unsere“ Regeln halten. Eine große Gruppe, die immer vergessen wird, sind Sinti und Roma, die sich angeblich auch nicht an Regeln halten, klassisch: Sie sind keines Königs Untertan. Das sind alles Projektionen, um dem Ressentiment eine Legitimation zu geben, aber der Grund ist die Phantasie: Da hat jemand das schöne Leben, Glück ohne Arbeit, möglicherweise eine erfüllte Sexualität. Und vor allem hat er sich nicht unterworfen. Menschen, die Leben nicht leben dürfen oder wollen, hassen das Leben der Anderen.
Gerade gibt es viel Sorge um ein Erstarken der Rechten besonders in Ostdeutschland. Welchen Zusammenhang zwischen Wirtschaft und rechter Ideologie stellen Sie dort fest?
Wenn man sich die Situation in Ostdeutschland unter diesem Blickwinkel anschaut, dann fällt das Fehlen der demokratischen Beteiligungsformen gerade an den Orten auf, wo sich die Menschen jeden Tag aufhalten: Es gibt kaum tarifliche Bindung, selten Betriebsräte. In Sachsen war es seit 1989 eine Strategie der Politik, faktisch ein innerdeutsches Niedriglohnland zu etablieren. Aber die Erfahrung von Demokratie muss man in seinem Lebensalltag machen. Wenn man in zentralen Lebensbereichen nicht mitbestimmen kann, dann ist auch die Rede von der Demokratie hohl. Und auch hier greift dann das oben beschriebene psychosoziale Erbe: Die Menschen lassen sich auch auf diese Forderung ein, statt Interessensvermittlung im Betrieb entsteht das Bild einer Schicksalsgemeinschaft, in der unterschiedliche Interessen nicht zählen. Das wirkt über den Betrieb, über die Schule hinaus.
Eigentlich darf man sich nicht wundern über die antidemokratischen Reflexe. In diesem Versuch, die eigene Schlechterstellung, die eigene Entmündigung auszuhalten, tauchen ganz alte Motive auf, zum Beispiel die Idee von der deutschen Arbeit in deutschen Betrieben, die aus dem NS kommt. Dieses Konglomerat – fehlende demokratische Teilhabe, gleichzeitig das Angebot der Wirtschaft als Bezugspunkt, die Idee des Zusammenrückens, um die Schicksalsgemeinschaft zu stützen – zeigt, wie vergangene Ideologiefragmente, aktuelle Wut und eigene Lebensbedingungen verschränkt sind.
In der letzten Autoritarismusstudie haben Sie ausgearbeitet, dass gerade die jüngeren Generationen autoritärer eingestellt sind. Woher kommt diese Einstellung?
Die Nachwendezeit hat für die Entwicklung eine größere Bedeutung als die DDR. Die Entwertung der Lebensentwürfe und -leistungen der Elterngeneration ist auch deshalb so schwer auszuhalten, weil sie von dieser selbst mitgetragen wurde. Man könnte eine Analogie finden im Umbruch vom Ende des Kaiserreichs. In der Weimarer Republik war der NS nicht eine Bewegung von alten Honoratioren, sondern wurde von Jüngeren getragen.
Und etwas Vergleichbares finden wir in der postnationalsozialistischen BRD, als sich sofort ein „sekundärer Antisemitismus“ bei der Kindergeneration der Täter ausbildete: Man hasst die Juden, weil die Eltern schuldig geworden sind. Hass und Wut sind leichter auszuhalten als Trauer und Ohnmacht. In manchen Familien sehen wir eine ähnliche intergenerationelle Dynamik. Manche Eltern haben sich sowohl der offen autoritären Ordnung der DDR als auch der weniger offenen, aber ebenfalls autoritären Dynamik der Nachwendezeit unterworfen. Die Wut der Jüngeren speist sich aus einer autoritären Unterwerfung der Eltern, die nicht honoriert wurde.
Auch in westdeutschen Städten wie Dortmund oder Pforzheim gibt es starke Neonazi-Szenen, und die AfD erhält zum Beispiel in Baden-Württemberg große Zustimmung in Umfragen. Was ist da los?
Anzunehmen, im Osten sind die Rechten und im Westen existieren sie nicht, ist Quatsch. Gerade in Baden-Württemberg gab und gibt es eine sehr lange Tradition der NS-Relativierung, Ministerpräsidenten würdigten durch ihre Besuche NS-Veteranenverbände. Auch in Bayern sieht man, wie verbreitet der Antisemitismus ist. Der Skandal um Aiwanger ist ja nicht alleine ein Flugblatt, das 30 Jahre alt ist, sondern die Reaktion heute. Man selbst geriert sich als Opfer, es fehlt jedes Sensorium für die Opfer der eigenen Vorfahren. Es ist bis heute schlechte Sitte, sich nicht mit der deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Löst sich die Plombe, dann kommt das ganze Unverarbeitete zum Vorschein. Der Westen ist keine Insel der Seligen, sondern hat nur relativ stabilere Verhältnisse, die bisher noch nicht so erschüttert worden sind, wie es die ostdeutschen Bürger erlebt haben.
Was kann man gesellschaftlich dafür tun, diese Identifikation umzulenken, so dass mehr Solidarität möglich ist?
Da muss man dicke Bretter bohren. Diese tief verankerte Mentalität wird immer wieder reproduziert. Das Zusammenrücken im Betrieb etwa: Setzen wir uns als Arbeiter oder Beschäftige für unsere Interessen auch gegen die Leitung ein, oder haben wir Sorge um unsere Zukunft und passen uns lieber den Entscheidungen des Managements an, nehmen Lohnkürzungen in Kauf. Der scheinbare Betriebsfrieden wird an anderer Stelle teuer bezahlt. Die ideologischen Bilder einer Schicksalsgemeinschaft müssen wir durch mehr Teilhabe aufbrechen. Wir müssen sehen, dass wir unterschiedliche Interessen haben, wie wir unser eigenes Leben wollen und wie wir über die Lebensentwürfe mit den anderen vermitteln können. Man muss die Erfahrung machen, dass es unterschiedliche Interessen gibt und die auch berechtigt sind.
Dafür müsste man zum Beispiel betriebliche Mitbestimmung weiter ausbauen, nicht nur, aber gerade in Ostdeutschland. Auch in Schulen und Kommunen, in allen Bereichen, wo die Gesellschaft Gestaltungsmöglichkeit hat. Die Erfahrung von Interessensunterschieden und ihre Berechtigung, auch innerhalb von Gruppen, das sind die Alltagserfahrungen, die demokratisierend wirken. Momentan allerdings sehen wir eher eine nach Gruppen sortierte Gesellschaft. Das stimmt mich gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen wirtschaftlichen Entwicklung nicht optimistisch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken